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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

213–215

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Eve-Marie

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Demut bei Paulus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XV, 268 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-154171-1.

Rezensent:

Reinhard Feldmeier

In ihrer exegetischen Studie zu Philipper 2 und verwandten Texten will Eve-Marie Becker die moralistische Engführung des Begriffes der Demut in unserer Kulturgeschichte durchbrechen und aufdecken, wie Paulus jenseits von traditioneller Moral Möglichkeiten kommunitären Denkens und Handelns eröffnet. Die Untersuchung steht in Verbindung mit einem geplanten Kommentar zum Philipperbrief (KEK), und so legt B. auch darauf Wert, dass Paulus jenes dann im antiken Christentum zum identity marker avancierte Konzept der Demut im Gefängnis, also einem Ort äußerster Niedrigkeit, entwi-ckelt hat, und zeigt, wie er damit »ein Grundthema christlicher Theologie« (2) entwickelt hat, das sein Denken auch in anderen Briefen prägt. Zugleich aber ist die Studie davon geprägt, dass B. sich nicht auf die exegetische Binnenperspektive beschränkt, sondern ihre Einsichten im Dialog mit der systematischen Theologie und darüber hinaus auch mit den anderen Gesellschafts- und Humanwissenschaften von der Soziologie bis zur Philosophie entfaltet.
Dieser breite Horizont zeigt sich schon in der Anlage der Untersuchung. Ehe die paulinischen Texte genauer ausgelegt werden, stellt B. die paulinische Demut in einem ersten Kapitel in den kulturellen Diskurs ihrer Zeit. In einem zweiten Kapitel wird dann die Begriffsgeschichte sowohl des griechischen Wortes wie seiner Übersetzungen nachgezeichnet, wobei auch das Ringen um ein rechtes Verständnis von Demut einschließlich des vielfältigen Missbrauchs der »Demut« kundig und aufschlussreich dokumentiert und analysiert wird, um auf diesem Hintergrund dann Fragen an die Konzeption des Apostels zu stellen. In diesem Sinn zeigen die folgenden Kapitel 3–5, wie die ταπεινοφροσύνη wichtige Züge paulinischer Ethik, Eschatologie und Apostolatstheologie erschließt. In Kapitel 3 interpretiert B. Phil 2 und zeigt zunächst, dass der Apostel zwar den Begriff der ταπεινοφροσύνη als Erster für uns greifbar verwendet hat (ob man angesichts der von Paulus unabhängigen Belege bei Josephus und Epiktet davon sprechen kann, dass er »die ταπεινοφροσύνη lexisch gleichsam erfindet«, so S. 77, ist fraglich), dass er damit aber aus dem reichen Reservoir der LXX-Semantik schöpft, wo die Wortgruppe ταπειν- im Blick auf das Gottes- und Menschenbild reiche Verwendung findet. Diese positiven Konnotationen werden allerdings im Frühjudentum nur teilweise (Philo) bzw. überhaupt nicht übernommen (Josephus). Das hat mit der vorwiegend negativen Bedeutung der Wortgruppe in der griechisch-römischen Mitwelt zu tun und stellt einen markanten Gegensatz zum Apostel dar, der mit seiner Verwendung des Begriffs die kulturellen Orientierungsmetaphern seiner Mitwelt auf den Kopf stellt – mit einer bezeichnenden Ausnahme in Platons politischer Philosophie, die zur ekklesiologischen Dimension der Demut bei Paulus eine aufschlussreiche Parallele darstellt. Auf diesem Hintergrund wird dann Phil 2,6–11 ausgelegt, wobei gegen Käsemann darauf bestanden wird, dass Christus nur Vorbild und nicht Urbild ist – auf dem Hintergrund der am Beginn in Phil 2,5 markierten Allotopie des Seins »in Christus« und der darin begründeten Transformationsdynamik eine nicht ganz nachvollziehbare Position. Überzeugend wird sodann der Zusammenhang der Thematik mit der Gefangenschaft des Paulus hergestellt – nach B. war es seine letzte in Rom – und sie mit einer auch sonst für Paulus zentralen »Semantik der Niedrigkeit« in Beziehung gesetzt.
Ein eigenes Kapitel macht anhand der Schriften »vor dem Phil« (so die Überschrift) deutlich, dass das Konzept der Demut trotz seiner Situationsbezogenheit kein punktuelles Gedankenexperiment ist, sondern dass hier eine mit seinem Selbstverständnis als Apostel als »Sklave Christi« verbundene Entwicklung von den Korintherbriefen über den Römerbrief bis zum Philipperbrief erkennbar wird. Während sich Paulus zunächst »gleichsam in die Konformität mit Chris-tus hinein« schreibt (137), erfolgt in Röm 12 der Übergang der Demut »zu einer grundlegenden Beschreibung ekklesialer Gesinnung« (147), die dann in Phil 1–2 zu einem Kernthema seines Schreibens wird. Im Anschluss an Überlegungen des Aristoteles wird dann die Demut als dianoetische Tugend, d. h. als eine die Kriterien des Handelns bewertende Klugheit ( phronesis) bestimmt. Sie ist deshalb nach B. nicht eine individuelle Tugend, sondern eine auf die Bewahrung des kommunitären Lebens zielende ekklesiale Übung, die allerdings mit ihrer Orientierung an Christus und der damit verbundenen eschatolo-gischen Perspektive die auf die immanenten Strukturen des Zu-sammenlebens gerichtete Staatsethik eines Platon und Aristoteles sprengt.
Die Wirkungsgeschichte der Demut in der späteren neutestamentlichen und frühchristlichen Literatur stellt das sechste Kapitel dar, wobei die Verwender den paulinischen Vorstellungsbereich aufnehmen und weiter gestalten, aber dieses aus der Perspektive der dritten und vierten Generation tun. Im Ergebnis werde dabei »das paulinische Konzept der ›Niedrig-Gesinnung‹ als ekklesiales Prinzip der Christus-Orientierung aus Phil 2 von anderen Begriffen überlagert oder verzerrt«, so dass durch die Reduktion auf eine moralische Kategorie das paulinische Erbe »eher unterbrochen wird« (171 f.). Ein abschließender Ausblick zeigt zunächst die Wirkungsgeschichte des Demutsbegriffes anhand der Auslegungen von Clemens Alexandrinus und Chrysostomos auf, um die Wirkungsgeschichte dann bei Ernst Lohmeyer als »Exeget des Phil und politischer Märtyrer« münden zu lassen. Abgeschlossen wird der Band durch eine Zusammenfassung, die nochmals deutlich macht, inwiefern Demut als Ausdruck einer Existenzform, die an Christus Maß nimmt, ein zentraler Begriff im paulinischen Denken ist.
Die Studie hat das unbestreitbare Verdienst, das von Paulus entwickelte Verständnis der Demut nicht nur historisch-philologisch mustergültig zu erklären, sondern die Demut auch – durchaus auch im Bewusstsein ihrer potentiell destruktiven Ambivalenzen – für gegenwärtige ethische Diskurse neu zu erschließen.