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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

204–207

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Grossman, Jonathan

Titel/Untertitel:

Abram to Abraham. A Literary Analysis of the Abraham Narrative.

Verlag:

Bern u. a.: Peter Lang 2016. 570 S. = An Outline of an Old Testament Dialogue, 11. Kart. EUR 104,30. ISBN 978-3-0343-2077-1.

Rezensent:

Jakob Wöhrle

Die Abrahamerzählungen sind in der gegenwärtigen Forschung Gegenstand umfassender Diskussion. In zahlreichen Einzelstudien wurde und wird etwa der Entstehungsgeschichte oder auch der theologischen und politischen Intention dieser Erzählungen nachgegangen. Dabei können für die neuere kritische Forschung insbesondere zwei Konsenspunkte festgehalten werden: Zum einen werden die Abrahamerzählungen als Produkt eines mehrstufigen Wachstumsprozesses angesehen. Die Vertreter des alten Quellenmodells wie auch die Vertreter neuerer Modelle – die eher von kleinen Überlieferungskernen ausgehen, aus denen dann in umfassenden Sammlungs- und Fortschreibungsprozessen die vorliegenden Abrahamerzählungen entstanden sind – stimmen darin überein, dass bei den Abrahamerzählungen zwischen verschiedenen literarischen Ebenen (und sei es nur zwischen nichtpriesterlichen und priesterlichen Texten) zu unterscheiden ist. Zum anderen werden die Abrahamerzählungen schon seit geraumer Zeit kaum mehr als historische Erzählungen aus der Vor- und Frühzeit des Volkes Israel verstanden. Einen letzten Höhepunkt fanden solch historistische Lesungen der Vätererzählungen in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts – nach Auffinden der Mari-Texte aus dem 2. Jt. v. Chr. mit den hier zutage tretenden Parallelen zu den Vätererzählungen – etwa in den Werken von William F. Albright (From the Stone Age to Christianity, 1940) oder Roland de Vaux (Die hebräischen Patriarchen und die modernen Entdeckungen, 1961). Doch haben die in den 70er Jahren erschienenen Arbeiten von Thomas Thompson (The Historicity of the Patriarchal Narratives, 1974) oder John Van Seters (Abraham in History and Tradition, 1975) eindrücklich und bleibend herausgestellt, dass die zuvor genannten Argumente für die Historizität der Vätererzählungen nicht tragen. Die Vätererzählungen werden seitdem im Gros der Forschung als fiktive Erzählungen aus einer späteren Zeit verstanden, bei denen im Gewande einer solch fiktiven Ursprungsgeschichte Grundlegendes über das eigene Volk, dessen Gottesverhältnis, dessen Leben im verheißenen Land oder auch dessen Verhältnis zu den benachbarten Völkern herausgestellt wird.
In seinem neuen Buch »Abram to Abraham. A Literary Analysis of the Abraham Narrative« wendet sich Jonathan Grossman, Professor an der Bar Ilan University, Israel, gegen beide Tendenzen der neueren Forschung. Im umfassenden Einleitungsteil zu seiner Studie (15–68) gesteht er zwar zu, dass die Abrahamerzählungen auf verschiedene, ursprünglich selbständige Überlieferungen zurückgreifen. Doch sämtliche entstehungsgeschichtlichen Modelle – sei es das klassische Quellenmodell oder auch die neueren, eher von Erzählkranz- oder Fortschreibungshypothesen bestimmten Modelle – lehnt er als »purely speculative« (16) ab. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei den Abrahamerzählungen um eine literarische Einheit, was sich insbesondere daran zeigt, dass diese Erzählungen eine übergreifende Erzählfolge und Struktur erkennen lassen. Die einzelnen Teilerzählungen bauen aufeinander auf; die Erzählung von der Gefährdung der Ahnfrau in Gen 20 setzt etwa sehr deutlich die vorangehende Ahnfrau-Erzählung in 12,10–20 voraus. Zudem ist die Benennung der beiden Protagonisten als Abram/Sarai vor deren Umbenennung in Gen 17 und als Abraham/Sarah ab diesem Kapitel über alle Texte hinweg kohärent durchgeführt. Auch die Verwendung der Gottesnamen, die ja gerade für das klassische Quellenmodell zur Unterscheidung der verschiedenen Quellen von großer Bedeutung war, ist seines Erachtens durchaus kohärent. So wird der Gottesname JHWH eher für die persönliche Beziehung des Volkes zu seinem Gott verwandt, während die allgemeine Gottesbezeichnung Elohim eher im Rahmen der Verheißungen belegt ist.
Die Abrahamerzählungen weisen sodann nach G. eine klare übergreifende Struktur auf, was für ihn wiederum für deren literarische Einheitlichkeit spricht. So lässt sich seiner Ansicht nach im Textbereich Gen 11,27–22,24 ein chiastischer Aufbau erkennen, bei dem sich etwa die Einheiten über Terach in 11,27–32 und über Nahor in 22,20–24 oder auch die Erzählung von der Trennung von Lot in 13,1–18 und von Ismael in 21,1–21 gegenüberstehen und bei dem die Erzählung über Gottes Bund mit Abraham in Gen 17 als zentrales Glied erscheint. Die weiteren Abrahamerzählungen in Gen 23–25 sind dann als Anhang zu diesem großen Erzählzyklus zu verstehen.
Auf historischer Ebene wendet sich G. gegen die verbreitete These, dass die Abrahamerzählungen als fiktive Ursprungserzählungen zu verstehen sind. Seiner Ansicht nach liegen hier durchaus historische Erinnerungen aus der Vorgeschichte des späteren Volkes Israel vor. Hierfür verweist er vor allem auf das in den Texten dargestellte nomadische Leben oder auch auf die bekannten Parallelen zwischen den in den Abrahamerzählungen und den in den Maritexten aus dem 2. Jt. belegten Bräuchen, etwa hinsichtlich der Darstellung einer stellvertretenden Geburt.
Auf dem so skizzierten entstehungsgeschichtlichen und historischen Fundament legt G. im eigentlichen Hauptteil seines Buches eine fortlaufende Interpretation der Abrahamerzählungen von Gen 11,27 bis Gen 22,24 vor. Bei diesem close reading wendet er sich immer wieder gegen entstehungsgeschichtliche Differenzierungen. Darüber hinaus bietet er eine umfassende Behandlung der literarischen Gestalt und Intention der einzelnen Erzählungen, häufig in eingehender Auseinandersetzung nicht nur mit der exegetischen Forschung, sondern auch mit der rabbinischen Literatur oder mit philosophischen Traditionen.
Auf entstehungsgeschichtlicher Ebene legt G. dabei immer wieder dar, dass die üblichen literargeschichtlichen Differenzierungen keineswegs notwendig sind. So sieht er etwa, anders als häufig vorgetragen, keinen Widerspruch zwischen dem in Gen 11,27–32 bereits dargestellten Aufbruch Abrahams aus Ur-Kasdim und der daraufhin in 12,1–3 erfolgenden, an Abraham gerichteten Aufforderung, seine Heimat zu verlassen. Nach G. sind die einzelnen Einheiten der Abrahamerzählungen nicht strikt in zeitlicher Abfolge zu lesen. Die in 12,1–3 belegte Verheißung kann somit ohne Weiteres als Verheißung gelesen werden, die Abraham bereits vor seinem Aufbruch und somit noch in Ur-Kasdim zuteilwurde.
Neben solch entstehungsgeschichtlichen Überlegungen nimmt G. sodann häufig den im weiteren Sinne moralischen oder ethischen Gehalt der Abrahamerzählungen in den Blick. Unter Aufnahme von bereits bei den Rabbinen belegten Diskursen setzt er sich etwa umfassend mit der Frage auseinander, ob sich Abraham im Rahmen der sogenannten Ahnfrau-Erzählung Gen 12,10–20 tatsächlich verschuldet, indem er das Land und dann auch seine Frau Sarah preisgibt. Vergleichbares diskutiert G. mit Blick auf die Erzählung über die Opferung Isaaks in Gen 22,1–19. Dabei kommt G. immer wieder zu dem Schluss, dass in den Abrahamerzählungen sogar ganz im Gegenteil die besondere moralische Qualität der Abrahamfamilie hervorgehoben wird, so dass in diesen Erzählungen dann auch das von Abraham herkommende Volk als ein Volk mit moralischen Werten vorgestellt wird. Oder in seinen Worten: »Abraham is portrayed as a complex character who successfully established a nation committed to a covenant with God, while maintaining moral sensitivity by instructing his children and his descendants to keep the way of the Lord by doing what is charitable and just.« (513)
Die von G. vorgelegte Studie zu den Abrahamerzählungen hat sicherlich ihre Bedeutung und Berechtigung. Weiterführend sind etwa die Stellen, an denen die rabbinische Tradition aufgenommen und diskutiert wird, was sich so in neueren Arbeiten nur selten findet. Der in G.s Studie erkennbare Versuch, das Rad der Forschung zu den Abrahamerzählungen auf entstehungsgeschichtlicher und historischer Ebene zurückzudrehen, erscheint hingegen wenig überzeugend. Die Thesen der gängigen Forschung werden hier zumeist nur beiseite gewischt und nicht im Einzelnen diskutiert. Die neueste literaturgeschichtliche Forschung, insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum, wird sogar nahezu vollständig beiseite gelassen. Zur Historizität der Abrahamerzählungen werden schlicht die Argumente, die schon bei Albright und de Vaux zu lesen sind, wiederhol t– als hätte es die daran anschließende Diskussion um deren Ansätze und dabei vor allem die großen Arbeiten von Thompson oder Van Seters nicht gegeben. Eine fundierte konservative Gegenposition zu den gängigen Trends der entstehungsgeschichtlichen und historischen Forschung an den Abrahamerzählungen ist so nicht gelungen.