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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

181–196

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Andreas Kubik

Titel/Untertitel:

Die »Weimarer Lösung« zum Problem des Religionsunterrichts

Ein Beitrag zur Frage ihrer Pluralitätsfähigkeit



I Die religionspädagogische Diskussion um 1900

Am 16. Mai 2017 erschien im Online-Portal »ze.tt« der ZEIT, das sich an junge Erwachsene richtet, eine Glosse zur Abschaffung des Religionsunterrichts (RU). Sie gipfelte in folgendem Appell: »Überlasst Morgenandachten, Religionsunterricht und Bibelstudium doch den Schulen in privater oder kirchlicher Trägerschaft und führt bundesweit einen verpflichtenden Ethikunterricht ein. In dem können die Kinder sich gemeinsam über religiöse und philosophische Weltanschauungen austauschen und eine wichtige Lektion in Respekt und Akzeptanz lernen.«1

An Artikeln wie diesem2 erstaunt zunächst, dass beim Thema RU journalistische Recherchepflichten offensichtlich vernachlässigt werden dürfen. Dass der RU in Deutschland grundgesetzlich verankert ist, musste sich die Autorin erst von den Leserkommentaren sagen lassen. Gleich im Anschluss frappiert nicht weniger die juristische Nonchalance, mit der in der redaktionellen Ergänzung davon gesprochen wird, dass »der Religionsunterricht unter dem aktuellen [sic!] Grundgesetz geschützt«3 ist, so, als erschiene demnächst ein neues.

Doch sieht man einmal davon ab, so bleiben zwei wichtige Thesen zurück. Erstens, ein gemeinsamer Unterricht sei per se geeigneter dazu, Kinder und Jugendliche zu Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Religionen und Weltanschauungen zu erziehen als der konfessionelle RU. Hierzu ist zunächst lapidar festzuhalten, dass diese These zwar prima facie eine gewisse Evidenz zu haben scheint.4 Aber es fehlt tatsächlich jeder empirische Beleg für sie. Es ist ebenso gut möglich, dass sich Vorurteile durch einen solchen Unterricht eher verfestigen. Die zweite These lautet: Der RU gemäß dem »aktuellen« Grundgesetz ist grundsätzlich der pluralis-tischen Gesellschaft nicht mehr angemessen. Diese These setzt voraus, dass der bisherige RU Ausdruck religiös homogener Verhältnisse gewesen sei und sich diese Verhältnisse in letzter Zeit so grundlegend geändert hätten, dass man im Grunde gar nicht anders könne, als in Sachen RU nachzusteuern.5 Sie ist allerdings in höchstem Maße erwägenswert; in ihr hat man wohl auch einen Grund dafür zu sehen, dass die Debatte nicht zur Ruhe kommt.

Gegenüber dieser These soll hier gezeigt werden, dass die grund­gesetzliche Organisationsform des RU selbst schon ein Kompromiss ist, der auf eine pluralistische Situation reagiert und äußerst heterogene Interessen in Sachen religiöser Bildung unter einen Hut zu bekommen sucht.6 Um dies zu zeigen, gehen wir an den Ursprung der heutigen Regelung zurück, nämlich zur Diskussion um die Stellung des RU in der Weimarer Reichsverfassung, welche sich im verfassungsgebenden Ausschuss verdichtete und schließlich zur Lösung in Art. 149 Weimarer Reichsverfassung (WRV) führte. Diese Lösung wurde der Sache nach in Art. 7.3 des Bonner Grundgesetzes übernommen. Bei diesem Rückgang wird sich dann allerdings zeigen, dass in jener zweiten These auch ein Wahrheitsmoment steckt, insofern die Debatte damals nicht das volle Ausmaß der Pluralität abbildete, welche sich in der deutschen Gesellschaft bereits ausgebildet hatte. Daraus folgt aber noch längst nicht, dass der konfessionelle RU an sich pluralitätsuntauglich sei. Aus der historischen Darstellung werden sich mithin Gesichtspunkte für die aktuelle Diskussion um zeitgemäße Modelle des religiösen Unterrichts von ganz allein ergeben. Diese selbst zu führen ist aber nicht Absicht der folgenden Ausführungen. 7 Sie wollen lediglich dazu beitragen, dass man sich jeweils klarer darüber ist, was man sich einkauft, wenn man für ein bestimmtes Modell op­tiert. Denn es gibt im Grunde kaum einen heutigen Vorschlag, der nicht auch bereits vor 100 Jahren gemacht worden wäre, und kaum ein Argument, das nicht auch damals bereits erwogen wurde.



Die politische Auseinandersetzung über den RU setzte noch während des Ersten Weltkriegs ein und beschleunigte sich nach der Novemberrevolution 1918 enorm. Sie hätte in dieser Form nicht ausgetragen werden können, wenn sie nicht von einer im engeren Sinne religionspädagogischen Diskussion vorbereitet worden wäre, welche unter sehr breiter Beteiligung unterschiedlichster Akteure schon einige Jahrzehnte lang geführt worden war.8 Auf sie gilt es zu­nächst das Augenmerk zu richten. Ich beschränke mich dabei weitgehend auf den protestantischen Bereich; mit leichten Ab-strichen kann man aber ganz analoge Bewegungen auch für den Katholizismus geltend machen.9

Kritik am konfessionellen Modell religiöser Unterrichtung ist schon älter; sie reicht zurück bis in die Aufklärungszeit. Fragt man danach, warum sich aber die religionspädagogische Debatte gerade um 1900 noch einmal intensivierte, so kann man dafür folgende Gründe namhaft machen. Zum Ersten ist da die allgemeine Unbeliebtheit des Fachs RU zu nennen.10 Sie musste die Lehrerschaft umso härter treffen, als sie sich zweitens eben im 19. Jh. mit einem neuen Selbstbewusstsein in gewisser Weise allererst konstituiert hatte, nämlich in Form von Lehrervereinen, einer professionalisierten Ausbildung und dem begleitenden Forum (religions-)pädagogischer Zeitschriften.11 Ihr war darüber hinaus – drittens – sehr daran gelegen, den allgemeinen Ertrag der pädagogischen Entwicklung seit der Aufklärung, welche sich in der Forderung nach einem kindgerechten RU niederschlug, und insbesondere die Grundlegung einer allgemeinen Didaktik durch Herbart nicht wieder zu verlieren.12 Dieser Wunsch passte aber denkbar schlecht zu einem RU, welcher mehr oder weniger stark unter restaurativen kirchlichen Interessen und staatlichen Ordnungsavancen zu erteilen war. Dieser Zwiespalt bildete sich noch einmal in der Vorbereitung auf den Lehrerberuf ab. Während viele junge Lehrkräfte an der Universität bei »liberalen« Theologen studiert hatten, vom Geist der Wissenschaftlichkeit durchdrungen waren und darauf brannten, diesen auch in den RU tragen zu können, fanden sie sich dortselbst unter ganz anders gearteten Anforderungen und höchst illiberalen Zuständen wieder.13 Schließlich aber reagierte die Debatte auf das schwer zu greifende kulturelle Auseinanderdriften von Christentum und allgemeinem Weltempfinden. Während Kritik am Christentum und alternative weltanschauliche Orientierung im 18. Jh. zwar vorhanden waren, aber doch mehr oder weniger ein Intellektuellenphänomen blieben, änderte sich dies im Verlauf des 19. Jh.s durch die Arbeiterbewegung, den Siegeszug der neueren Na­turwissenschaft und den sie begleitenden technischen Fortschritt. Das Christentum geriet bei breiteren Teilen der Bevölkerung in die Defensive und reagierte darauf vielfach mit dem Kampf um äußere Deutungsmacht.14

Im Zeichen dieser in sich komplexen Lage wurde jene intensive religionspädagogische Debatte geführt. Ich möchte sie im Folgenden auf eine kleine Typologie reduzieren, um nur die Hauptpositionen deutlich zu fassen. Allen vier Typen ist gemeinsam, dass sie sich als Alternative zum herkömmlichen, d.  h. konfessionell be­stimmten und katechetisch orientierten RU präsentierten.

1. Bereits 1848 sprach sich der bekannte Pädagoge und Seminarleiter Friedrich Adolph Diesterweg gegen einen konfessionellen RU aus. Dabei machte er im Wesentlichen zwei Gründe geltend. Zum Ersten räumte er den »Prinzipien der neuen Pädagogik«15 ein entscheidendes Gewicht beim Nachdenken über die Gestaltung des RU ein. Danach sollte sich der schulische Unterricht ganz allgemein zunächst auf das konzentrieren, was den Menschen gemeinsam ist, und Umstrittenes sowie Spezialwissen auf die höhere Bildung verlagern. Angewandt auf den RU hieß das, dass die Schule zunächst »das allen christlichen Parteien Gemeinschaftliche hervorhebt« (83). Nur so könne es gelingen, die jungen Menschen »zu Einheit und Gemeinschaft mit den Menschen« (ebd.) zu erziehen. Ein konfessioneller Unterricht betone hingegen von vornherein das Spezielle und damit Trennende. Bereits dadurch, dass die Kinder nicht mehr nach Konfessionen getrennt unterrichtet würden, würden sie »mehr Humanität lernen als durch alle Belehrung« (84). Der zweite Grund lag in einer bestimmten Auffassung von Religion, welche diese vor allem im »Gemüt« (90) verortete. Demgegenüber waren für Diesterweg Lehrsätze allemal bloße Abstraktionen (vgl. 83). Konfessioneller RU bedeutete also nach Diesterweg stets eine kognitivistische Engführung von Religion. Im RU müsse aber nicht vor allem gepaukt und begriffen, sondern anschaulich und heiter erzählt werden, wie am Vorbild Jesu deutlich würde (vgl. 96). Dieser erste Typ diente also wie der konfessionelle RU auch der Einführung in eine Religion, aber eben hier in ein humanistisch eingefärbtes Christentum gleichsam unterhalb der Konfessionalität.

2. Ebenfalls im positiven Christentum stand die Konzeption des bedeutenden Religionspädagogen und Seminarleiters Richard Kabisch. Ihm war vor allem an der Vereinbarkeit der Religion mit der modernen Kultur gelegen. Als Generalziel des RU machte er um 1910 »die Selbständigkeit und Dauerhaftigkeit religiösen Lebens [des Schülers] innerhalb der übrigen ihm erreichbaren Kultur«16 geltend. Dies Ziel zu erreichen konnte aber weder den Familien, die dies seiner Meinung nach nicht imstande zu leisten waren, noch den Kirchen, die daran nicht zwingend ein Interesse hätten, auf-gebürdet werden. Diese Art von religiöser Erziehung war nach Kabisch vielmehr genuine Angelegenheit des Staates. Zwar gehe es nicht darum, eine »Staatsreligion« (49) zu etablieren. Aber der Staat adressiere souverän diejenigen Religionsgemeinschaften, welche diese Art von Ausgleich zwischen Religion und Kultur anvisieren können. Die Lehrkräfte sollten sich daher aus Theologen rekrutieren, welche auch »Träger […] zugleich der allgemeinen Kultur« (48) waren. Der Unterricht sollte in »lebendige[r] Konfessionalität« (49) erteilt werden, aber die Konfessionen existierten nach Kabischs Auffassung gewissermaßen doppelt: einmal als kirchliche und einmal als staatliche Version. D. h., der Staat steckte sich als Kulturstaat eigene inhaltliche religiöse Ziele und sollte diese mithilfe derjenigen Religionsgemeinschaften umsetzen, die sich darauf einließen. Dabei konnte es dann durchaus zu Eigenakzentuierungen in der inhaltlichen Darbietung kommen, denn die staatliche Version der Religionen musste »immer kulturgemäß sein«, wenn der Staat selbst »als Religionslehrer« (ebd.) auftrat. Dieser zweite Typ bestand konzeptionell in der Einführung in eine staatstragende, leitkulturelle »Schulreligion«, welche vom Staat – freilich in enger Abstimmung mit den Kirchen – durch die daran interessierten Universitäts-Theologen frei entworfen werden sollte.

3. Die Vorgehensweise, die christliche Religion gewissermaßen freihändig umzuformen, trieb ein anderer Typus noch auf die Spitze. In inverser Aufnahme der konservativen Einsicht, dass nicht nur der RU, sondern der gesamte Geist der Schule für die religiöse Erziehung entscheidend sei, entwarf Hermann Lietz, der bekannte Reformpädagoge und Gründer der »deutschen Landerziehungsheime«, seine Vision von religiöser Bildung. Das Leben in den neu gegründeten Internaten wurde gänzlich im Geist einer neuprotes-tantisch inspirierten Gefühlsreligion ausgestaltet. Dazu gehörten Morgenandachten in Form von »Stillen Stunden«, 17 das Erahnen Gottes in der Natur im Stile einer Erlebnispädagogik sowie regelmäßige Vorlese-Abende, bei denen Texte aus der gesamten höheren Kulturgeschichte der Menschheit dargeboten wurden. Nach seiner Auffassung trafen alle Religionen und alle existenzielle Literatur letztlich »in den grossen sittlichen Fragen zusammen« (ebd.). Religiöse Erziehung bestand nach Lietz also vor allem im Lauschen und Bedenken dieser »großen Fragen« und im Ehren der Antworten, d ie an sich selbst aber jeweils relativ blieben.

Genau aus diesem Grund sah sich Lietz auch berechtigt, der religiös heterogenen Schülerschaft – im Internat fanden sich »Protestanten aller Richtungen; römische und griechische Katholiken; Israeliten« (87) – eine einheitliche religiöse Erziehung angedeihen zu lassen. Unbeschadet dessen sollte gleichwohl das »Evangelium Jesus [sic!] […] den Mittelpunkt der religiösen Erziehung« (ebd.) bilden, welches im Anschluss an bestimmte liberal-theologische Positionen als schlechthin undogmatisch und weit erhaben über allen theologischen Schulstreit gedacht wurde. Das Evangelium und die Erziehung zur sittlich­-religiösen Persönlichkeit schienen bei aller re­ligiösen Offenheit so etwas wie den positiv-religiösen Kern der Schule auszumachen. Damit entpuppte sich der vermeintlich religionsübergreifende Standpunkt als spezifische Ausprägung einer Spielart des Neuprotestantismus. Zugleich wird in der Rückschau die Zentralstellung des Schulleiters auch in religiöser Hinsicht bei Lietz deutlich erkennbar.18 Wer sein Kind auf ein Landerziehungsheim gab, kaufte sich damit zugleich die privaten religiösen Vorstellungen des Schulleiters ein, die sich selbst freilich als religionstheoretisch allgemein ausgaben. Dieser Typus kann als Einweisung in eine reformpädagogisch neu konturierte, von fern noch dem Neuprotestantismus verwandte Privatreligion angesehen werden.

4. Der latent übergriffige Charakter dieser Auffassung wurde dort vermieden, wo religiöser Unterricht – wie in den Überlegungen des Hamburger Religionspädagogen August Krohn – von der »unbedingten Anerkennung einer persönlichen Religion«19 ausging. Dieser Gedanke brachte es mit sich, dass die Kinder in un-parteilicher Weise mit maßgebenden religiösen Zeugnissen konfrontiert werden sollten. Damit sollte aus dem katechetisch orientierten Unterricht an öffentlichen Schulen ausdrücklich eine »Re­ligionskunde« (ebd.) werden. Bezugswissenschaft eines solchen Unterrichts konnte nach Krohn zunächst nur die vergleichende Religionsgeschichte sein: Quer durch die Lager war man sich nach seiner Einschätzung einig, »daß eine geschichtliche Betrachtung es ganz allein ermöglicht, zu einem unparteiischen Unterricht über Religion zu kommen.« (36) Doch drohte in dieser Herangehensweise ein methodisches Defizit, das sich dann auch sachlich auswirken würde: Eine historisch belehrte Religionskunde würde Religion zwar als »geschichtliche Erscheinung« (ebd.) fassen. Doch damit würde gerade ihre Eigenart in gewisser Weise verfehlt, denn an sich selbst sei sie »eine < /span>psychische Tatsache« (ebd.) Eine historische Re-ligionskunde drängte nach Krohn über sich selbst hinaus und musste durch eine »religionspsychologische« (37) Perspektive er­gänzt werden. Nur diejenige Religion konnte zu einer eigenen werden, welche individuell zur psychischen Tatsache wurde. Deshalb musste der geschichtliche Unterricht jeweils versuchen, die spezielle Frömmigkeitssignatur der zu verhandelnden Epoche oder Personen zu erheben, wobei die konkreten Beispiele, welche Krohn beibrachte, nahezu ausschließlich der christlichen Tradition entnommen waren. Dieser Typus kann als eine Art engagierte Religionskunde auf historischer und psychologischer Grundlage aufgefasst werden.20

Es soll schließlich aber festgehalten werden, dass auch die konservative Position auf hohem gedanklichen Niveau in der Debatte präsent blieb. Als spiritus rector kam etwa Carl Christian Palmer in Frage. Sein zentraler Einwand gegen die reformerischen Positionen lässt sich wie folgt reformulieren: Das vermeintlich allen christlichen Parteien oder gar allen Religionen Gemeinsame, auf das sich der RU konzentrieren sollte, war in Wahrheit eine durch den Pädagogen vorgenommene Abstraktion von der Realität des konfessionellen Lebens. Es gab in Wirklichkeit keine Religionsgemeinschaft, welche sich bloß auf die von Diesterweg so genannten »Grundsätze und Lebensprinzipien, wie Christus sie aufstellte«21 oder auf die von Lietz konstruierte Übereinkunft in den großen Fragen bezöge. Konkrete Religion schlug sich daher gerade im Partikularen nieder: »Religion […] existirt nie und nirgends als leeres Abstraktum, sondern als Kirche, als positive Gemeinschaft« (70). Daher bedeutete jene Orientierung am christlich oder religiös Allgemeinen in Wahrheit, dass die Schülerinnen und Schüler in gewisser Weise den religiösen Vorlieben ihres Lehrers ausgeliefert wurden. Demgegenüber garantierte konfessioneller Unterricht verlässliche Klarheit, denn über die Lehre der Inhalte wachte »das geistliche Amt« (ebd.). Wer also das Konfessionelle aus der Schule herausdrängen wollte, leugnete gerade das Charakteristische an der Religion und bewies damit in Wahrheit lediglich seine »Abneigung gegen alles wahrhaft Religiöse« (71). Anders gesagt: Bestrebungen gegen konfessionellen RU wurzelten nach Palmer stets in einem Generalverdacht gegen Religion überhaupt.

Wie auch immer man Palmers Einwand in der Rückschau be­werten möchte – in meinen Augen ist er stark –, so viel ist jedenfalls an ihm richtig, dass die progressiven Konzeptionen allesamt vor der Schwierigkeit standen zu formulieren, wer letztlich inhaltlich die Verantwortung übernehmen sollte. Hierüber bestand keine Einigkeit: Sollte dies die theologische (oder eine andere) Wissenschaft tun, oder schlankweg »der Staat«, oder gar das religiöse Ingenium des Schulleiters? Hier erwies sich der konfessionelle Unterricht wenigstens als vergleichsweise sehr transparent. Es drohte immer die Gefahr, dass der explizite Dogmatismus des kirchlich bestimmten Unterrichts zu einem unerkannten Dogmatismus der Alternativposition wurde.

II Die politische und juristische Debatte im Vorfeld der WRV


Ähnlich wie im Hinblick auf die religionspädagogische Diskussion hat die entscheidende Zeit rund um die Weimarer Verfassung auch eine Vorgeschichte in politischer und juristischer Hinsicht, ohne die Weimar nicht verstanden werden kann. Der diskursive Ausgangspunkt war eine Denkformation, die man vereinfacht so beschreiben kann: Ein deutsches Kind ist entweder evangelisch oder katholisch, und es nimmt an dem Religionsunterricht seiner Konfession als ordentliches Lehrfach teil. Diese Denkformation war schon zu Beginn des 19. Jh.s unterkomplex, und ihr Ungenügen trat in dessen weiteren Verlauf immer schärfer hervor. Die zugrundeliegende Überzeugung kann in dem einfachen Schlagwort zu­sammengefasst werden, dass es sich bei Deutschland um einen »christlichen Staat« handelte. Diese terminologisch aus der Restaurationszeit gewonnene Überzeugung22 paarte sich während der weltanschaulichen Kämpfe der Kaiserzeit23 mit der Sorge, dass eben diese christliche Grundierung des Staates in Gefahr sei. An­ders gesagt: Der Gedanke des christlichen Staates wandelte sich um die Jahrhundertwende zunehmend von einer deskriptiven zu einer präskriptiven Überzeugung: Deutschland sollte ein christlicher Staat bleiben oder notfalls wieder werden, und der RU galt als wichtiges Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Die Sorge um die Christlichkeit des Staates spielte in den theologischen Texten zum RU eine weitaus größere apologetische Rolle als genuin religiöse Anliegen, und zwar auch und gerade bei gemeinhin als »liberal« geltenden Religionspädagogen.24

Die Auffassung war faktisch unterkomplex, insofern es in Deutschland schon seit Jahrhunderten nicht nur zahlreiche christliche Kleingruppen neben den beiden »großen« Konfessionen, sondern auch eine Religion neben der christlichen gab, nämlich die jüdische. Solange das Judentum weitgehend separiert und rechtlich diskriminiert blieb, hatte der Mehrheitsdiskurs kaum eine Notwendigkeit, sich mit ihm zu befassen. Einerseits änderte sich dies mit der so genannten »bürgerlichen Emancipation«, welche auf eine Integration (oder Assimilation) des Judentums in die deutsche Gesellschaft hinsteuerte. Als ein wichtiges Mittel hierzu sollten die Verbesserung des Rechtsstatus der Juden und ihre Integration in das deutsche Schulsystem fungieren. Andererseits spielten jüdisch-pädagogische Vorstellungen in der öffentlichen Diskussion zum RU so gut wie keine Rolle. Insgesamt bleibt es frappierend, wie wenig sich der Mehrheitsdiskurs aus der gesellschaftlichen Präsenz des Judentums ein systematisches Problem für die Fragen des Bildungsrechts und der Bildungspolitik machte. Es herrschte ein diskriminierendes Desinteresse vor, bei dem Fragen, die durchaus eine Klärung erforderten, auf der Ebene von Erlassen und minis-terialen Rundschreiben notdürftig beantwortet wurden.

Die Auffassung von Deutschland als christlichem Staat war aber auch noch aus einem anderen Grund deskriptiv nicht hinreichend. Denn mit der Sozialdemokratie war eine Bewegung entstanden, die zwar auch sozial bewegte Christinnen und Christen beherbergte, aber in der Generallinie religionskritisch aufgestellt war.25 Sie erstarkte während des Kaiserreichs beträchtlich, und dies befeuerte die Sorge der Konservativen vor dem Ende der Christlichkeit Deutschlands. Allerdings war die SPD mehrheitlich der Meinung, dass man sich zunächst nicht in einer Auseinandersetzung um die Religion überhaupt verzetteln sollte. Daher setzte die SPD vor allem auf die Formel der Trennung von Staat und Kirche, was eine konfessionsfreie Schule zur Folge gehabt hätte, in der RU lediglich als unbenotetes, freiwilliges Fach vorgekommen wäre. Dieser institutionellen Außenstütze beraubt, würde sich die Bedeutung des Christentums in Kürze ganz von allein zurechtstutzen.26 Obwohl sie politisch eigentlich mehr wollten, knüpften die Sozialdemokraten in ihren konkreten Forderungen religionspolitisch nur an alten demokratisch-liberalen Forderungen an.

Allerdings sahen die Sozialisten doch auch einen unmittelbaren Handlungsbedarf. Dieser betraf insbesondere die Rechte einer häufig vernachlässigten Gruppierung, der so genannten »Dissidenten«. Ursprünglich waren mit diesem Ausdruck die Angehörigen christlicher Freikirchen gemeint, seit der Mitte des 19. Jh.s auch der so genannten freireligiösen Bewegungen wie der »Deutschkatholiken« oder der »Lichtfreunde«.27 Diese hatten den Rechtsstatus von »geduldeten Religionen«, d. h., ihnen wurde private religiöse Entfaltung zugestanden. Sie genossen aber keine der Privilegien der großen Kirchen. Hinsichtlich des RU gab es für sie die Möglichkeit der Befreiung vom schulischen RU, sofern nachgewiesen werden konnte, dass ein adäquates gemeindliches Ersatzangebot vorgehalten wurde.28 Die Möglichkeit der Befreiung war aber kein Recht; sie wurde immer wieder versagt, wenn die zuständige Behörde der Meinung war, dass die Bedingungen nicht gegeben waren.29

Die Unzulänglichkeit dieser Regelung trat deutlich hervor, als sich die Hauptbedeutung des Begriffs des »Dissidenten« verschob. Seit 1873 war es in Preußen – andere Bundesstaaten zogen nach – offiziell möglich, aus der Kirche auszutreten, ohne dass man zu­gleich – wie es früher Pflicht gewesen war – einer anderen religiösen Gemeinschaft beitreten musste.30 Die »Dissidenten« wurden im öffentlichen Sprachgebrauch zunehmend die aus der Kirche Ausgetretenen – heute würde man sagen, die »Konfessionslosen« bzw. die »Konfessionsfreien«. Da diese keiner Gemeinde mehr angehörten, konnten sie nach der damaligen Logik auch keinen Ersatz-unterricht bekommen. Folglich entbrannte eine Debatte darüber, ob das Elternrecht der Dissidenten sich auch auf die (Nicht-)Religion erstreckte. Gegen diese Auffassung liefen staatstragende christ liche – auch »liberale« – Theologen Sturm. Richard Kabisch etwa warnte vor denen, die »in allzu milder Auffassung von den allgemeinen Menschenrechten und in allzu großer Scheu vor einer Übermacht des Staats den Eltern das Recht zugestehen wollen, ihre Kinder ohne Religion zu lassen. Der Eltern Recht in Ehren, niemand zwingt sie zu einem Glauben, den sie nicht haben wollen; aber hat denn das Kind selber kein Recht?«31 Das »Recht der Kinder auf Religion« war nach dieser Auffassung notfalls gegen die eigenen Eltern durchzusetzen. Sie spiegelte auch die tatsächliche Rechtspraxis wi­der, nach der die Dissidentenkinder gegen den Willen ihrer Eltern am Religionsunterricht teilnehmen mussten.32 Das Kind musste erst einmal von Staats wegen christlich sozialisiert werden, bevor es später dann von seiner negativen Religionsfreiheit Gebrauch ma­chen konnte. Die Auffassung vom christlichen RU als – mit ganz wenigen Ausnahmen – für alle Kinder verbindlichem Fach stellte den einen Extrempol der juristischen Debatte dar.

Spätestens angesichts dieser fragwürdigen Praxis wurde es zur Mindestforderung der Konfessionslosen – und die SPD machte sie sich zu eigen –, dass die Befreiung vom Religionsunterricht auf Antrag bedingungslos zu erfolgen habe. Weniger kompliziert aber würde sich die Sache ausnehmen, wenn »Religion« gar kein or-dentliches Schulfach mehr wäre, sondern lediglich fakultativ an-geboten oder ganz auf den gemeindlichen Unterricht reduziert würde. Die faktische Abschaffung des Religionsunterrichts als or­dentlichem, für alle verpflichtendem Schulfach war der andere Ex­trempol der Debatte.

Diese Diskussion färbte auch bestimmte schulpolitisch um­strittene Themen und teilte den Debatten über sie ihre Spannweite mit. Hierbei ist vor allem an zweierlei zu denken. Zunächst an die Frage der Schulaufsicht. Der Streit darum, ob Kirche oder Staat das Aufsichtsrecht über das Bildungswesen innehatten, schwelte im Prinzip seit dem Mittelalter.33 Praktisch legte der Staat aber häufig von sich aus die Aufsicht in die Hände der Geistlichen, was bis ins frühe 19. Jh. hinein insofern seinen Sinn hatte, als die Pastoren häufig die einzigen Personen in den Dörfern und Kleinstädten waren, welche dazu überhaupt in der Lage waren.34 Durch die Emanzipation der allgemeinen Pädagogik seit dem späten 18. Jh. reifte unter der Lehrerschaft die Überzeugung, dass der Staat die Aufsicht nur selbst innehaben könnte, und zwar vermittels seines pädagogisch geschulten Fachpersonals. Für restaurativ gesonnene Politiker, für die Kirchenleitungen und die konservative Religionspädagogik war aber gerade die geistliche Schulaufsicht ein zentrales Instrument.35

Die zweite gravierende Frage war die nach der Simultanschule. Das gängige Gliederungsprinzip zumindest der Volksschulen war die Aufteilung der Kinder nach Konfessionsgruppen. Nach Meinung der pädagogisch Progressiven hatte sich aber dieses Differenzierungsprinzip vollständig überlebt. Demgegenüber hielten die Kirchenleitungen weitgehend daran fest, dass ein wahrhaft christlicher Geist nur dann im Volke würde gepflanzt werden können, wenn die Konfessionsschule die Regelschule bleiben würde.

Das juristische Zentralproblem, das diesen Debatten zugrunde liegt, kann in Kürze so gefasst werden: Einerseits sollte dem Prinzip der Glaubensfreiheit, das aufgeklärtes Erbe darstellt und an­satzweise bereits im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 verwirklicht war, Genüge getan werden. Dagegen konnten grundsätzlich gerade die Protestanten nicht sein, auch wenn sie sich alle Mühe gaben, seinen Gehalt zu unterlaufen.36 Andererseits sollte der Staat weiterhin als christlicher Staat – und zwar nicht nur im Sinne eines faktisch-historischen Kulturerbes – verstanden werden. Mit welchem Recht aber identifizierte sich ein Staat, in dem Religionsfreiheit herrschte, einseitig mit einer ganz bestimmten Religion? Dabei hatte es gerade in Preußen auf politischer Ebene – namentlich durch Kultusminister Adalbert Falk – durchaus bereits Ansätze zu einer Liberalisierung gegeben, wenn diese auch ihre eigentliche Stoßrichtung im Kulturkampf hatten. 37 Aber insgesamt blieb es doch bei einer konservativen Linie.

Die Diskussionen gewannen zu Beginn des 20. Jh.s erheblich an Fahrt und an Dringlichkeit. Zwei Umstände sind hier als Hauptgründe namhaft zu machen. Zum einen hatte Frankreich bereits im späten 19. Jh. – und diese Regelung gilt bekanntlich im Prinzip bis heute – den Religionsunterricht durch »instruction morale et civique« ersetzt; dazu 1905 den Laizismus für den ganzen Staat festgeschrieben.38 Dieses Vorgehen war je nach politischer Einstellung entweder Vorbild oder drohendes Fanal, nicht zuletzt deshalb, weil es in Bremen und in Sachsen bereits zu ähnlichen Tendenzen ge­kommen war. Zum anderen – und das ist wenig bekannt – wurden tatsächlich nach der Novemberrevolution 1918 in einigen deutschen Ländern durch die sozialistischen Übergangsregierungen nicht nur die geistliche Schulaufsicht, sondern auch der Religionsunterricht abgeschafft, namentlich in Hamburg, Preußen und Sachsen. 39 Zwar organisierten die Kirchen überall massiven Protest, der zumindest in Preußen auch insofern erfolgreich war, als die schärfsten Bestimmungen abgemildert oder ausgesetzt wurden: Die Kirchen konnten damals die Bevölkerung tatsächlich weitgehend auf ihrer Seite wissen. Ohnehin wurden die entsprechenden Rechtsvorschriften durch die Regelung des RU in der Weimarer Reichsverfassung bald obsolet. Aber der Schreck saß tief; und die Kirchenleitungen waren im Folgenden kompromissbereiter, da es schließlich um die Frage ging, ob sie wenigstens über den religiösen Unterricht noch eine Aufsicht würden behalten können.

Die Diskussionen um die Rechtsstellung des Religionsunterrichts verlagerten sich alsbald in die Verfassungsausschüsse.40 Die Chancen auf einen Kompromiss waren insofern günstig, als die SPD zwar einerseits bei den Reichstagswahlen vom Januar 1919 stärkste Partei geworden war, sich andererseits an der religions-politischen Front nicht verkämpfen wollte. Anders gesagt: Man brauchte das Wohlwollen und die Unterstützung sowohl des Zentrums als auch der Kirchen noch für andere, als wichtiger eingeschätzte politische Vorhaben. Die Gespräche erwiesen sich dennoch als außerordentlich kompliziert. Letztlich gelang es der SPD, wenigstens ihre zwei wichtigsten roten Linien einzuhalten: die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht und das vorbehaltlose Recht auf Befreiung vom Religionsunterricht. Im Gegenzug war man bereit, einen inhaltlichen Einfluss der Kirchen auf den RU zuzugestehen. Hauptrollen bei der Vermittlung spielten Adolf v. Harnack und Friedrich Naumann.41

Den Grund für die Kompromissbereitschaft der SPD wird man nicht nur in der geschilderten politischen Lage zu sehen haben. Entscheidend war vielleicht letztlich, dass die Progressiven sich zwar im Ziel der Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts einig waren, nicht aber in der Frage, was an dessen Stelle treten sollte. Insbesondere die Fragen, welches religionspädagogische Grundgepräge dieser Unterricht tragen sollte und wer seine Inhalte verantworten würde, blieben unbeantwortet. Letztlich schien Naumann Recht zu behalten: Ein religionskundlicher Unterricht setzte den Staat als Veranstalter und Distributor der Inhalte voraus, aber es war »ein Eingriff in die freien Rechte des religiösen Glaubens, wenn der Staat als Unternehmer eines religiösen Erziehungswerks betrachtet werden musste.«42 Das Ergebnis lautete, wie be­kannt: »Der RU ist ordentliches Lehrfach der Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien (weltlichen) Schulen. Seine Erteilung wird im Rahmen der Schulgesetzgebung geregelt. Der RU wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgesellschaft unbeschadet des Aufsichtsrechts des Staates er­teilt.« (WRV Art. 149, Abs. 1)

Faktisch änderte sich damit für die Kirchen zunächst sehr we­nig; und es ist eine interessante Frage, wer sich in diesem Kompromiss eigentlich als Sieger fühlen durfte.43 Dass sie dennoch das Gefühl hatten, nur eben so einer noch größeren Katastrophe entronnen zu sein, ist zwar einerseits historisch verständlich. Andererseits muss man in der Rückschau deutlich festhalten, dass sie noch 1918 Positionen verteidigten, für die sie sich heute schämen würden. Zahlreiche Argumente, welche die SPD damals vorbrachte, haben sich die Kirchen heute längst zu eigen gemacht. Ich denke, hier ist im Sinne von Paul Tillichs Kulturtheologie, nach der der Geist auch in außerchristlichen Gruppen wirksam sein kann, das Urteil zu fällen, dass damals theologisches Recht auch auf der Seite der Kirchengegner lag.

So kann man festhalten, dass die Weimarer Regelung ein wirkliches Pluralitätsmanagement darstellte, das verschiedenste Positionen und Forderungen aufzunehmen in der Lage war und eine historisch geradezu atemberaubend vernünftige Lösung bedeutete. Der Kompromiss konnte gefunden werden, weil er gewissermaßen für alle Beteiligten die zweitbeste Lösung darstellte.44 Die Frage ist allerdings, wie weit die Pluralität wirklich reichte, welche der Weimarer Artikel abzudecken in der Lage war. Denn tatsächlich waren, wie oben angedeutet, die Stimmen der Juden und – wie bei näherem Hinsehen deutlich wird – auch eines größeren Teils der Dissidenten in der Debatte nicht wirklich gehört worden. Schauen wir hier also noch einmal etwas genauer hin.

III Vernachlässigte Stimmen


1. Die »Dissidenten«


Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als seien die Positionen der Konfessionslosen durch die SPD hinreichend abgedeckt worden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass weder alle Konfessionslosen politisch zur SPD neigten noch zwingend die SPD wiederum die Anliegen der Konfessionslosen vertrat – Letzteres war schon deshalb nicht möglich, weil diese Anliegen in sich erneut vielspältig waren. Die SPD konnte nicht einfach als der politische Arm der Konfessionslosen gelten, wenn es auch faktisch einige Überschneidungen gab.

Wie oben bereits erwähnt, waren die Dissidenten die Angehörigen christlicher und freireligiöser Minderheiten. Während viele »freireligiöse Gemeinden« für längere Zeit eher noch wie eine Spielart des neuprotestantischen Christentums aussahen, teilte sich die Bewegung im Laufe des 19. Jh.s in drei Hauptrichtungen auf, welche auch in Hinsicht auf die religiöse Bildung unterschiedliche Anliegen verfolgten. Die eigentlichen Freireligiösen (1) verloren im Verlauf des 19. Jh.s immer mehr Mitglieder und bildeten nur noch eine Randerscheinung im weltanschaulichen Gesamttableau. Der Großteil wandelte sich zunehmend in säkular gesonnene Verbände um (2), welche aber ihre religiöse Energie auf die sich als solche konstituierende »humanistische Weltanschauung« übertrugen. Eine solche sollte nun dezidiert keine Religion mehr sein, wurde aber auch von den säkularen Humanisten selbst als etwas Äquivalentes angesehen. Folglich bestand das pädagogische Ziel darin, der »religiösen Bildung« eine »weltanschauliche Bildung« im Sinne einer humanistischen Lebenskunde gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Der Preis, den man dafür zu zahlen hatte – und auch zu zahlen bereit war –, bestand darin, sich selbst quasi-konfessionell zu organisieren:45 mit klaren Vereinsstrukturen und dem inhaltlichen Analogon zu Bekenntnissätzen.46 Schließlich bildete sich aber auch eine religionskritische Strömung (3) heraus, welche eine »po­sitive« weltanschauliche – sei es nun religiöse oder säkulare – Bildung in der Schule überhaupt ablehnte und dafür plädierte, nach französischem Vorbild einen reinen Moralunterricht für alle verbindlich zu machen, wobei ein solcher durchaus auch religionskundliche Elemente enthalten konnte.

An Versuchen, diese Richtungen zu vereinen, hat es nicht ge­fehlt. Hinsichtlich der religiösen Bildung kam man allerdings nur in Minimalforderungen überein; der Antiklerikalismus fungierte bloß als größter gemeinsamer Nenner. Nachdem 1919 die gemeinsamen Minimalforderungen – staatliche Aufsicht der Schule, Ab­meldemöglichkeit, gleiches Recht für Weltanschauungsgemeinschaften – de jure erfüllt waren, traten die Probleme nur umso deutlicher ans Licht: Die Dissidenten glaubten sich als Avantgarde der historischen Entwicklung, welche nach ihrem Urteil unzweifelhaft auf ein Ende der Religion hindeutete. Demgegenüber stand die zwar beeindruckende, aber letztlich hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibende Zahl an Mitgliedern der entsprechenden Verbände.47 Es entstand den humanistischen Vereinen ein fundamentales Repräsentationsproblem: Für wen sprachen sie eigentlich? Ihr Gefühl, im Grunde die Vorhut der sich jetzt eben emanzipierenden Vernunft zu sein, prallte hart auf ihre gesellschaftlich eher randständige Bedeutung. Diese Diskrepanz verwies zugleich auf ein neues gesellschaftliches Problem: Wie hatte man die große Gruppe der religiös Indifferenten – ob innerhalb oder außerhalb der Kirche – zu deuten und einzuschätzen? Waren sie schon deshalb irrelevant, weil sie sich nicht äußerten und keiner Gruppe an­gehörten? Ferner konnte man sich – ein vergleichbares Problem war oben bereits aufgetreten – hinsichtlich des weltanschaulichen Unterrichts nicht darauf einigen, »welche Institution als Träger eines solchen Unterrichts in der Konfession der Konfessionslosen auftreten sollte, wenn der Staat dazu nicht zu zwingen war.«48 Die Konstruktion von WRV Art. 149 konnte letztlich nur der kleinen Un­tergruppe Genüge tun, welche die Weiterexistenz von konfessionellem RU im Prinzip in Ordnung fand und sich darüber hinaus selbst konfessionsförmig organisierte, um einen Unterricht in der eigenen, nicht-religiösen Weltanschauung zu organisieren.

2. Das Judentum


Hinsichtlich des Judentums stellt sich die Sachlage etwas anders dar als bei den »Dissidenten«. Wir finden seit der Aufklärung bis ins frühe 20. Jh. hinein eine breite interne Debatte über Ziele und Vorgehensweisen jüdischer Bildung.49 Aber der juristische, politische und christlich-theologische Mehrheitsdiskurs nahm davon so gut wie keine Notiz, und folglich war das Judentum an den politischen Gesprächen im Vorfeld des Weimarer Religionskompromisses auch nicht im Ernst beteiligt.50

Erschwert wurde die Kenntnisnahme durch den Umstand, dass es zum Aufbau einer wirklich schlagkräftigen jüdischen Interessenvertretung nicht gekommen war, weil das Judentum sich inzwischen intern zu heterogen entwickelt hatte.51 Die Gründe dafür reichen bis zur Aufklärungszeit zurück; sie hatte für das Judentum in Deutschland enorme Auswirkungen.52 Die sich selbst als Avantgarde verstehende Bewegung der Haskala entwarf die Vision eines aufgeklärten Judentums, welches sich in die »deutsche Kultur« einfügen ließe. Dazu wurden auch entsprechende Bildungsprogramme entworfen, welche auf konsequente Anwendung der deutschen Sprache, Offenheit für die historische Bibelkritik, Abwendung von der traditionellen Primärorientierung am Talmud (und damit den Rabbinern als primärer Bildungsinstanz), neu zu verfassende aufgeklärte Schulbücher und umfangreichen Einbezug säkularen Wissens setzten. Dem Selbstanspruch nach sollte damit lediglich eine dem Judentum eigene Bildungstradition wiederbelebt werden; die traditionell wichtige Rolle des Tora-Studiums sollte erhalten bleiben. Die innerjüdische Antwort blieb nicht aus, welche den maskilim (den »Aufklärern«) den Ausverkauf der jüdischen Identität und ihrer Traditionen vorwarf. Gegen das Deutsche und die »Wissenschaft vom Menschen« sei an sich nichts einzuwenden, aber an der Vorrangstellung von Tora und Talmud dürfe nicht gerüttelt werden. Man kann sagen, dass sich die für das 19. Jh. so wichtige Trias von liberalem Judentum und Orthodoxie sowie einer vermittelnden konservativen Richtung im Zuge dieser Auseinandersetzung herausbildete.

Diese innerjüdische Debatte gewann an Gewicht und verkomplizierte sich zugleich enorm dadurch, dass sie sich mit dem staatspolitischen Emanzipationsdiskurs überlagerte. Jüdische Menschen hatten im Hl. Römischen Reich Deutscher Nation lediglich den Rechtsstatus von Geduldeten. Dies sollte unter aufgeklärter Ägide – und durchaus in kühler Staatsräson begründet – nach und nach geändert werden. Allerdings nicht sofort und nicht ganz und gar. Man hat in der neueren Forschung von einer »konditionalen Emanzipation«53 gesprochen: Erst wenn das Judentum bereit war, bestimmte Bedingungen zu erfüllen, war die Mehrheitsgesellschaft ihrerseits bereit, die Juden auch mit mehr Rechten auszustatten. Hier entstand nun eine Passgenauigkeit zwischen Haskala und staatlichem Reformdiskurs; weite Teile der jüdischen Aufklärung waren bereit, die Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft zu erfüllen, da sie in ihnen lediglich Ausdruck eigener Anliegen zu entdecken meinten. Diese Tendenz verstärkte sich im Verlauf des 19. Jh.s. Viele Juden waren bereit zur Assimilation bis zur förmlichen Selbstaufgabe, wie die zahlreichen Konversionen beweisen. Das führte invers dazu, dass sich der christlich-paternalistische Diskurs mit seinen Reformanmutungen bestätigt fühlen konnte. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Die deutschen »christlichen Staaten« waren desto mehr geneigt, den Juden volles Bürgerrecht zuzuerkennen, je weniger sie als Juden erkennbar waren.54

Dem dienten dann auch bestimmte schulpolitische Maßnahmen. Juden sollten am staatlichen Schulsystem teilnehmen und dadurch mit der »deutschen Kultur« sozialisiert werden. Jüdische Schulen wurden unter staatliche Oberaufsicht gestellt und da­durch einerseits in gewisser Weise akzeptiert, andererseits aber auch kontrolliert. Mit dem preußischen »Gesetz über die Verhältnisse der Juden« vom 23.07.1847 wurde jüdischer RU an Elementarschulen offiziell zugelassen.< /span>55 Diese Maßnahmen waren von der Art, dass sie tendenziell die Modernisierer unterstützten bzw. solche Strömungen, die sich assimilieren wollten. Sie beförderten das, was man heute die Konfessionalisierung des Judentums zu nennen pflegt, d. h. seine Entfaltung als bloß religiöses Bekenntnis, das sich ansonsten mit der »deutschen Identität« unproblematisch vereinigen lassen sollte. Hierzu reichten dann zwei Stunden RU an der Schule vermeintlich aus. Wo Eltern dennoch Defizite bei der Ausbildung der jüdischen Identität ihrer Kinder feststellten, stand ihnen die Institution der Religionsschule am Nachmittag – eine Art verlängerter Gemeindeunterricht – zur Verfügung.56 Die Traditionalisten hingegen hatten an vielen dieser Maßnahmen gar kein Interesse, insbesondere nicht an einem jüdischen »Religionsunterricht«, der »ein wesentliches Novum des jüdischen Liberalismus darstellt.«57 Ihr Anliegen bestand vielmehr darin, das Judentum als einen umfassenden Lebenszusammenhang auf der Basis der Tradition aufrechtzuerhalten. Das ging ihrer Meinung nach nur mit eigenen jüdischen Schulen; der zweistündige RU wäre dazu ein gänzlich untaugliches Instrument.

Obwohl jüdische Schulen zugelassen waren, gab es ganz klar eine Tendenz vieler jüdischer Gebildeter zur Simultanschule. Zum Teil ungewollt, zum Teil gewollt griff der Staat mit jenen Maßnahmen aktiv in die innerjüdische Debatte ein. Es wäre übertrieben, wenn man sagen würde, der Staat konstruierte sich sein eigenes Staatsjudentum, da es entsprechende Strömungen im Judentum gab. Aber er bevorzugte ganz klar die Richtungen, die sich assimilieren wollten, unabhängig davon, ob dies die Mehrheit der jüdischen Menschen so wünschte. So wurde z. B. häufig auf Sabbat und Feiertage keine Rücksicht genommen, was die Assimilationswilligen in Kauf nahmen, für die Orthodoxen aber ein immenses Problem darstellte. Wo kein jüdischer RU zustande kam, meinte man achselzuckend, dass die Kinder ja auch in den christlichen RU gehen könnten.

Das Judentum in Deutschland wurde förmlich hin- und hergerissen zwischen verzweifelt verstärkten Assimilationsbemühungen, orthodoxer Rückbesinnung auf das »Eigene« und dem aufkommenden Zionismus. Wie es bei einer Religion unter den Bedingungen der Moderne auch nicht anders zu erwarten ist, stellte das Judentum in Deutschland eine in sich heterogene Größe dar. Anders als beim Christentum jedoch, bei dem die »großen« Kirchen bereits gegeben waren und dem internen christlichen Pluralismus vorangingen bzw. in der Lage waren, diesen organisatorisch in sich zu bewältigen, konnten sich ex post im Judentum einheitliche Verbandsstrukturen nicht mehr herausbilden und waren vermutlich noch nicht einmal von der Mehrzahl der Juden in Deutschland gewollt. Das deutsche System war aber auf das Vorliegen eines klar definierten Ansprechpartners angewiesen.

Art. 149 WRV stellte einerseits das Judentum formal den anderen »Religionsgesellschaften« gleich; es konnte schulischen RU ebenso vorhalten wie jüdische Schulen anbieten. Von daher garantierte der Artikel eine dem Judentum bisher unbekannte Rechtssicherheit und schrieb pädagogische Möglichkeiten fest, die bislang stets nur unter Vorbehalt gewährt worden waren. Andererseits war er nach seiner historischen Genese wie auch nach seiner Regelungsintention ausschließlich an den Bedürfnissen der beiden großen Kirchen orientiert. Der Artikel hatte sich um die innerjüdische Debatte nicht gekümmert und bevorzugte – ob gewollt oder ungewollt – den Teil des assimilationswilligen Judentums, der in Bezug auf die Schule am wenigsten Umstände machen wollte. Auch im Hinblick auf jüdische religiöse Bildung gilt, dass man die Gewährung von Rechten als »eine Art ›Preis für gutes Benehmen‹ betrachten«58 konnte. So oder so war der RU als Integrationsinstrument überschätzt; im Vergleich zum Alltagsrassismus, der jüdischen Menschen in der Kaiserzeit vielfach ungeahndet entgegenschlug59 spielte seine Organisationsform nur eine geringe Rolle.

IV Fazit


Art. 149, Abs. 1 WRV, welcher der Sache nach unverändert in Art 7.3 GG überging, leistete viel. Er schrieb zunächst keine religionspädagogische Konzeption fest; ein Unterricht in der katechetischen Tradition konnte ebenso unter seiner Ägide stattfinden wie der heutige, stärker subjektorientierte und interreligiös akzentuierte christliche RU. Er befriedete zweitens die Auseinandersetzungen zwischen So­zialisten, Liberaldemokraten und den Anliegen der Kirchen und bewältigte somit ein gutes Stück weit die bereits entstandene gesellschaftliche Heterogenität. Er garantierte ferner anderen Religionsgemeinschaften (vor allem dem Judentum) Rechtssicherheit und eröffnete ihnen verschiedene Optionen religiösen Lernens. Und er gewährte schließlich auch Konfessionslosen verschiedene Rechte, insbesondere das Recht auf unkonditionierte Abmeldung vom RU.

Der Preis, der für diese Leistungen zu entrichten war, war indes hoch. Zunächst war kaum jemand vollständig zufrieden mit der Lösung. Diese Unzufriedenheit bildete den Keim für nicht abreißende Diskussionen über die Form des RU, und so im Prinzip bis heute. Ferner war er in seinem Aufbau klar an den Interessen der beiden großen, etablierten Kirchen orientiert. Die Anliegen des Judentums war er nur insoweit zu berücksichtigen in der Lage, als sich das Judentum nach Inhalt und Form dem Vorbild der Kirchen anpasste. Dadurch griff der Staat ungewollt in die innerjüdischen Debatten ein und ergriff Partei zugunsten der Modernisierer. Den gesellschaftlichen Alltagsrassismus zu bändigen war er nicht das richtige Instrument. Und schließlich erfüllte er, was die Konfessionslosen anging, nur gewisse Minimalforderungen; mit weitergehenden Überlegungen fanden sie kein Gehör. Das mag konsequent erscheinen, da es sich den Mitgliederzahlen nach – und so bis heute – um eine absolute Minderheitenbewegung handelte. Aber es blieb die bange Frage zurück, ob der säkulare Humanismus in seinen vielen Spielarten de facto nicht doch die Anliegen weit größerer Teile der Bevölkerung repräsentierte, als es die nackten Zahlen vermuten ließen.

Die Weimarer Lösung bewältigte gesellschaftliche Pluralität in einem erstaunlich großen Maße. Sie hatte ihre Schwächen bei der Berücksichtigung der Belange anderer Religionen und der Konfessionslosen. Stärken und Schwächen vererbte sie dem Art. 7.3 GG. Ob man dafür plädiert, sie grundsätzlich zu ersetzen, oder ob eine intelligente Weiterentwicklung möglich scheint, ist die Frage, die sich anschließt. Die vorherigen Ausführungen wollten in dieser Frage keine Partei ergriffen, sondern lediglich aus der historischen Debatte heraus einige Aspekte zur heutigen Diskussion beigetragen haben.

Abstract


The German legislation on religious education according to Art. 7.3 GG (Basic Law) is repeatedly criticized. It is said to come from a time of religious homogeneity and not able to fit into a pluralistic society. In contrast, this article shows that the regulation at the time of its creation – i. e. in 1919 as part of the Weimar Constitution – already responded to a plural situation and balanced out heterogeneous interests in matters of religious education: Church groups, social democrats and political liberals could support the article of the Constitution. At the same time, however, its regulatory intention followed only the interests of the two main confessional churches. It could consider Judaism only in terms of the organization of the Christian churches, and it gave merely minor rights to non-religious citizens and hardly considered their educational concerns. So while the accusation that the German regulation is not apt for pluralism is not true from a historical perspective, there is nevertheless a moment of truth in it that cannot be denied.

Fussnoten:

1) A. C. Koch, Religion hat in staatlichen Schulen nichts zu suchen. http://ze.tt/in-staatlichen-schulen-hat-religion-nichts-zu-suchen/ [03.06.2017 19:00 MESZ].
2) Mit einem ganz ähnlichen Tenor M. Kohlmeier, Glaube hat an der Schule nichts verloren – Religion aber sehr wohl. http://www.sueddeutsche.de/bildung/religionsunterricht-glaube-hat-in-der-schule-nichts-verloren-religion-aber-sehr-wohl-1.3029254 [21.09.2017 18:20 MESZ].
3) A. C. Koch, Religion (s. Anm. 1).
4) Progressiv gesonnene Gemüter waren bereits im 19. Jh. der Ansicht, eine gemeinsame Beschulung von jüdischen und christlichen Kindern würde an sich – abgesehen von einer entsprechenden Pädagogik – schon zu mehr Toleranz und wechselseitiger Akzeptanz führen; vgl. Ch. Schatzker, Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich. Sozialisations- und Erziehungsprozesse der jüdischen Jugend in Deutschland 1870–1917, Frankfurt a. M. 1988, 39–49.
5) Bereits vor 25 Jahren sprach G. Otto von einem »schleichenden Verfassungswandel«: Der durch Art. 7.3 GG zu regelnde Sachverhalt habe sich gegenüber 1949 so grundlegend geändert, dass dieser Artikel einen »Anachronismus« darstelle (Allgemeiner Religionsunterricht – Religionsunterricht für alle. Sieben Thesen mit Erläuterungen, in: J. Lott [Hrsg.], Religion – warum und wozu in der Schule? Weinheim 1992, 359–374, hier 363).
6) Diese These ist an sich nicht neu; ich verdanke sie O. Kliss, Schulentwicklung und Religion. Untersuchungen zum Kaiserreich zwischen 1870 und 1918, Stuttgart 2005, 15. Inwiefern mein Beitrag das Buch von Kliss sachlich ergänzen will, wird im Folgenden deutlich werden.
7) Vgl. dazu B. Schröder (Hrsg.), Religionsunterricht – wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014; E.-M. Kenngott u. a. (Hrsg.), Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2015; C. Gennerich/R. Mokrosch, Re­ligionsunterricht kooperativ. Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts in Niedersachsen und Perspektiven für einen religions-kooperativen Religionsunterricht, Stuttgart 2016.
8) Vgl. F. Schweitzer/H. Simojoki, Moderne Religionspädagogik. Ihre Entwicklung und Identität, Gütersloh 2005.
9) Zu parallelen Debatten innerhalb der katholischen Theologie vgl. W. Simon, Die Reformbewegung in der katholischen Religionspädagogik, in: Ders., Im Horizont der Geschichte. Religionspädagogische Studien zur Geschichte der religiösen Bildung und Erziehung, Münster 2001, 127–140; U. Kropač, Re­-ligionspädagogik und Offenbarung. Anfänge einer wissenschaftlichen Religionspäda­gogik im Spannungsfeld von pädagogischer Innovation und offenbarungstheologischer Position, Münster 2006.
10) Vgl. M. Lobsien, Über die Beliebtheit des Religionsunterrichts in der Schule, in: MERU 1 (1908), 80–85.
11) Vgl. A. Roggenkamp-Kaufmann, Religionspädagogik als »Praktische Theologie«. Zur Entstehung der Religionspädagogik in Kaiserreich und Weimarer Republik, Leipzig 2001, 19–207; O. Kliss, Schulentwicklung (s. Anm. 6), 151–273.
12) Vgl. F. Jacobs, Die religionspädagogische Wende im Herbartianismus, Heidelberg 1969.
13) Vgl. E. Ch. Helmreich, Religionsunterricht in Deutschland. Von den Klos-terschulen bis heute, Hamburg/Düsseldorf 1966, 102.
14) Vgl. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, Gütersloh 31964, 571–626.
15) Ich zitiere der Einfachheit halber hier nach K. E. Nipkow/F. Schweitzer, Religionspädagogik. Texte zur ev. Erziehungs- und Bildungsverantwortung seit der Reformation. Bd. 2/1: 19. und 20. Jahrhundert, Gütersloh 1988, 88.
16) Hier zit. nach R. Bolle u. a. (Hrsg.), Hauptströmungen evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Münster 2002, 45.
17) H. Lietz, Religionsunterricht im D. L. E. H. (1901), in: Ders., Protestantismus als idealistische Pädagogik. Kleine Schriften zur Religion und zum Religionsunterricht. Hrsg. und kommentiert von R. Koerrenz, Jena 2011, 89.
18) Vgl. M. Baader, Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim/München 2005. Diese unreflektierte Ausrichtung an den Meinungen und Ansichten des charismatischen Gründers ist ein für die frühe Reformpädagogik charakteristischer Sachverhalt.
19) Zit. nach Bolle u. a. (Hrsg.), Hauptströmungen (s. Anm. 16), 35.
20) Bis heute wird man den Umgang mit der psychischen Dimension von Religion als die Meisterfrage jeder religionskundlichen Konzeption von RU anzusehen haben.
21) Zit. nach Nipkow/Schweitzer (Hrsg.), Religionspädagogik (s. Anm. 15), 94.
22) Der Begriff stammt von dem Kirchenjuristen F. J. Stahl; zu einer Rekonstruktion des Begriffs im Kontext der ekklesiologischen Debatte der Restaurationszeit vgl. Hirsch, Geschichte (s. Anm. 14), 178–185.
23) Vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1994, 428–530; C.-D. Osthövener, Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne, in: A. Kubik (Hrsg.), Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit, Göttingen 2011, 133–152.
24) So wurde noch 1918/19 argumentiert; vgl. A. Reukauf, Freiheitlicher Religionsunterricht, Langensalza 1919. M. Dibelius nannte Tendenzen zur Abschaffung des RU »ein Attentat auf die Grundlagen unserer christlich-deutschen Kultur« (zit. nach J. Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918, Hamburg 1976, 70).
25) Vgl. S. Prüfer, Sozialismus statt Religion. Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863–1890, Göttingen 2002.
26) Vgl. T. Breitsohl, Die Kirchen- und Schulpolitik der Weimarer Parteien1918/19. Ein Beitrag zur Parteiengeschichte der Weimarer Republik, Tübingen 1978, 7 f.
27) Vgl. grundlegend P. Drews, Die freien religiösen Gemeinden der Gegenwart (1901), in: Ders., Religiöse Volkskunde und Religiöse Psychologie. Schriften zur Grundlegung einer empirisch orientierten Praktischen Theologie, hrsg. v. A. Kubik, Tübingen 2016, 139–171; J. Leonhard, Konfession und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert. Eine Beziehungsanalyse im deutsch-englischen Vergleich, in: Kubik, Protestantismus (s. Anm. 23), 110–132.
28) Vgl. W. Landé, Religionsunterricht. Sammlung der staatlichen Bestimmungen über Religionsunterricht, Berlin 1929, 209–239. Das Ersatzfach für den RU ist also ursprünglich ein Angebot »dissidenter« Gemeinden. Dass heute der Staat das Ersatzfach (»Werte und Normen«, »Ethik« usw.) inhaltlich ausgestaltet, ist kein trivialer Umstand.
29) Vgl. H. Groschopp, Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997, 215.
30) Vgl. J.-G. Sternberg, Kirchenaustritte in Preußen 1847–1933 im Lichte der kirchlichen Publizistik als Anfrage an die evangelische Kirche, Bochum 1992.
31) Zit. nach Bolle u. a. (Hrsg.), Hauptströmungen (s. Anm. 16), 43 f.
32) Vgl. R. W. Glatzel, Religionsunterricht der Dissidentenkinder. Eine gemeinverständliche Darstellung nach quellenmäßigem Material, Berlin 1897.
33) Vgl. D. Kurtz, Zur Geschichte der Schulaufsicht im deutschsprachigen Raum, Diss. Tübingen 1982; für das Folgende insbesondere 257–280.
34) Vgl. E. Fooken, Die geistliche Schulaufsicht und ihre Kritiker im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1967.
35) Vgl. Kliss, Schulentwicklung (s. Anm. 6), 92–104.142–148. – Unter anderem hatte das Beharren der Kirchen auf der geistlichen Schulaufsicht die paradoxe Konsequenz, dass häufig auch der entstehende jüdische Religionsunterricht unter der »geistlichen Aufsicht« des christlichen Pfarrers stattfand; vgl. Schatzker, Jüdische Jugend (s. Anm. 4), 35. – Erst WRV Art. 144 setzte die pädagogische Forderung vollständig um.
36) Ein anderes Beispiel neben der bereits angesprochenen Bestreitung des Elternrechts: Als einige Richter die vollständige Abmeldung der Konfessionslosen vom RU für rechtens erklärten, argumentierten die Kirchen, man könne sich höchstens vom RU abmelden, sofern er Katechismusunterricht sei, nicht aber, sofern er bloß biblische Geschichte vermittle; hier müssten die Kinder dabei bleiben (vgl. J. Rosenthal, Die religiöse Erziehung der Dissidentenkinder in Preussen. Eine staatsrechtliche Studie, Greifswald 1918, 52 f.).
37) Vgl. im Ganzen dazu Nipperdey, Geschichte (s. Anm. 23), 531–601; hier 533.
38) Vgl. B. Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, 388–404.
39) Vgl. K. K. Kronhagel, Religionsunterricht und Reformpädagogik. Otto Eberhards Beitrag zur Religionspädagogik in der Weimarer Republik, Münster 2004, 45–57.
40) Vgl. die minutiöse Rekonstruktion bei K. K. Kronhagel, Religionsunterricht und Verfassung in der Weimarer Republik. Die politische Diskussion über Art. 149 RV in der Weimarer Nationalversammlung, in: W. Weiße (Hrsg.), Wahrheit und Dialog, Münster 2002, 181–199; vgl. ferner W. Landé, Die Schule in der Reichsverfassung. Ein Kommentar, Berlin 1929, 182–212; L. Richter, Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, Düsseldorf 1996.
41) Zu Harnacks und Naumanns Rolle vgl. Landé, Reichsverfassung (s. Anm. 40), 186–189.
42) Zit. nach Breitsohl, Kirchen- und Schulpolitik (s. Anm. 26), 39.
43) Nach K. Nowak, Geschichte des Christentums in Deutschland, München 1995, ist »den Interessen der Kirchen erstaunlich großzügig Rechnung getragen worden« (209); Jacke, Kirche (s. Anm. 24), weist hingegen darauf hin, dass auch die Bestimmungen zum RU »ausnahmslos durch gemeinschaftliche Anträge der Demokraten und Sozialdemokraten« (141) zustande kamen.
44) Vgl. M. Heinig, Artikel 135 bis 141 der Weimarer Reichsverfassung. Entstehung und aktuelle Bedeutung, in: H. Groschopp (Hrsg.), Konfessionsfreie und Grundgesetz, Aschaffenburg 2010, 29–43, hier 38.
45) Vgl. H. Groschopp: Konfessionsfreie und Weltanschauungspflege, in: Ders., Grundgesetz (s. Anm. 44), 143–168.
46) Vgl. F. Simon-Ritz, Die Organisation einer Weltanschauung. Die freigeis-tige Bewegung im Wilhelminischen Deutschland, Gütersloh 1997, 166–198.227–233.
47) Simon-Ritz, Organisation (s. Anm. 46), nennt als Höhepunkt den »Vorabend des Ersten Weltkriegs« (159), zu welchem Zeitpunkt die gesamte freigeis-tige Bewegung deutschlandweit maximal 43.000 Mitglieder gehabt habe.
48) Groschopp, Dissidenten (s. Anm. 29), 227.
49) Vgl. M. Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und der Emanzipation (1960), aus d. Hebr. übers. v. M. Strobel, Münster 2001; M. Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt a. M. 1986; Z. E. Kurzweil, Hauptströmungen jüdischer Pädagogik in Deutschland von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1987; Schatzker, Jüdische Jugend (s. Anm. 4).
50) Jacke, Kirche (s. Anm. 24), berichtet, dass es am 14.12.1918 immerhin zu einem Gespräch zwischen dem preußischen Kultusminister Haenisch und »Repräsentanten der Freikirchen und der jüdischen Gemeinden« (62) kam, und zwar einen Tag nach den Konsultationsgesprächen mit den »großen« Kirchen. In der Literatur und in den von mir eingesehenen Quellen gibt es aber keinen Hinweis darauf, dass dieses Gespräch Spuren hinterlassen hätte.
51) Vgl. A. Reinke, Geschichte der Juden in Deutschland 1871–1933, Darmstadt 2007, 82–88.
52) Für den folgenden Abschnitt danke ich einigen Aufschluss der herausragenden studentischen Seminararbeit von Katharina Simon M. A., Das Recht auf (religiöse) Bildung im Spannungsfeld von Akkulturation und Isolation am Beispiel der Debatte um die jüdische Bildung im Zeitalter der Haskala, Osnabrück masch. 2016.
53) S. Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, 657.
54) Vgl. Kurzweil, Hauptströmungen (s. Anm. 49), 62.
55) Vgl. Landé, Religionsunterricht (s. Anm. 28), 245.
56) Vgl. Eliav, Erziehung (s. Anm. 49), 315–321. Die Religionsschule war bei jüdischen Kindern überwiegend unbeliebt, da sie eine umfangreiche Zusatzverpflichtung bedeutete.
57) Kurzweil, Hauptströmungen, 26.
58) S. Volkov, Politik als Integrationsverfahren. Juden im Kaiserreich, in: C. v. Braun, Was war deutsches Judentum? Berlin 2015, 195–202, hier 195.
59) So mutmaßte die katholische Kreuzzeitung – in der Art des taqiyya-Vorwurfs –, man könne progressiven jüdischen Schulbüchern nicht trauen; man hätte eher davon auszugehen, dass es dahinter eine »ungeschriebene Lehre« gäbe; vgl. Schatzker, Jüdische Jugend (s. Anm. 4), 129 f.