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Ausgabe:

März/2018

Spalte:

163–180

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ingolf U. Dalferth

Titel/Untertitel:

Glaubensfreiheit

Über Freiheit als Fiktion und Glaube als Einbildung1




1. Freiheit des Glaubens

In den folgenden Überlegungen geht es nicht um das, was in Artikel 4 des Grundgesetzes als Glaubensfreiheit definiert ist – die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung frei zu wählen, seine Religion ungestört auszuüben, sie zu wechseln oder auf jede Religion zu verzichten. Unter Freiheit des Glaubens wird dort die Freiheit verstanden, zu glauben oder nicht zu glauben. Mir dagegen geht es um die Freiheit des Glaubens nicht im genetivus objectivus, sondern im genetivus subjectivus bzw. auctoris – um die Freiheit also, die der Glaube ermöglicht und bewirkt. Mein Thema ist nicht die Freiheit, die Menschen dem Glauben gegenüber haben, sondern die Freiheit, die sie dem Glauben verdanken.

Unter »Glaube« verstehe ich dabei das, was im Christentum darunter verstanden wird. Dort hat diese Kurzformel historisch und sachlich ihren Sitz im Leben: Ohne von Glauben zu reden, lässt sich das Christentum nicht verstehen. Das ist bei anderen religiösen Traditionen nicht so. Die Ausweitung dieses Ausdrucks auf andere Religionstraditionen und Lebensorientierungen ist ein westlicher Christentumszentrismus in der Betrachtung der Welt der Religionen und meist eine begriffliche Schludrigkeit. Aus »Glaube« wird dann »Glaubensweise«, andere Traditionen werden durch die Brille dessen gelesen, was für das Christentum charakteristisch ist, und umgekehrt wird christlicher Glaube zu einem Fall dessen, was man auch in anderen Traditionen zu finden meint.

Das führt regelmäßig zu Missverständnissen, auch über das, was »Glaubensfreiheit« meint. Dieser Kerngedanke des Christentums ist kein Euphemismus für blinden Gehorsam oder für den Verzicht auf Freiheit aus Glaubensgründen, sondern kennzeichnet gerade umgekehrt das, was menschliche Freiheit im Kern auszeichnet. Menschen können manches, aber nicht alles. Sie haben deshalb guten Grund, nach den Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen ihrer Freiheit zu fragen. Menschliche Freiheit ist endliche Freiheit, und um Endliches zu bestimmen, muss man es nicht nur von anderem Endlichen abgrenzen, sondern vom Unendlichen unterscheiden. Eben das leistet die Glaubensfreiheit für die menschliche Freiheit. Sie tritt nicht als eine Art der Freiheit neben andere, sondern konkretisiert im Licht der Unterscheidung von unendlicher und endlicher Freiheit, was menschliche Freiheit auszeichnet.

In einem ersten eher philosophischen Teil erläutere ich daher zunächst einige zentrale Aspekte endlicher Freiheit. In einem zweiten theologischen Teil soll dann gezeigt werden, was das Eigentümliche der Freiheit ist, um die es im Glauben geht.

I Endliche Freiheit

2. Kontingenz und Freiheit


Alles, was wir kennen, könnte auch nicht oder anders sein. Es ist also kontingent. Das sind auch wir. Anders als andere kontingente Wesen können wir uns aber zu unserer Kontingenz verhalten – wir ignorieren sie, lehnen sie ab, begrüßen sie, leben sie so oder anders. Wir leben also nicht nur, sondern wir erleben, wie wir leben, und wie wir uns und anderes erleben, so leben wir, indem wir uns so oder anders entscheiden.

Diese Konstellation von Erlebensmodus und Lebensweise ist Ausdruck unserer Freiheit: Weil wir unser Leben so oder anders erleben, können wir es so oder anders leben. Wir können Entscheidungen treffen, wir müssen es, und wir treffen sie auch ständig. Wir sind Freiheitswesen. Werden wir daran gehindert, unsere Freiheit zu praktizieren, erleben wir das als Freiheitsbehinderung oder Freiheitsentzug. Der Mangel zeigt, dass nicht der Fall ist, was eigentlich der Fall sein sollte. Man ist nur frei, wenn man seine Freiheit auch leben kann.

3. Schöpfer und Geschöpf


Das gilt, wie immer man Freiheit versteht. Es ist ein Grundzug der Freiheit, dass man sie nicht haben kann, ohne sie zu gebrauchen: Frei ist nur, wer seine Freiheit auch praktiziert. Das aber kann auf verschiedene Weise geschehen. Absolut oder unendlich ist Freiheit, wenn man sich ihres Gebrauchs auch enthalten kann, weil diese Enthaltung selbst ein Vollzug dieser Freiheit ist: Nichts zu tun, ist hier auch eine Option – die freie Entscheidung, seine Freiheit nicht zu praktizieren, also weder das eine noch das andere zu tun. Endliche Freiheit dagegen muss praktiziert werden, indem man entweder das eine oder das andere tut. Frei zu sein, so oder anders zu handeln, schließt hier nicht ein, nicht zu handeln: Nichts zu tun, ist hier keine Option. Endliche Freiheit kann niemals nichts, sondern immer nur das eine oder das andere tun. Sie handelt unvermeidlich, und eben diese Unvermeidlichkeit verleitet immer wieder dazu, auch Freiheitshandeln als kausal bedingtes Verhalten verstehen zu wollen.

Die Differenz zwischen unendlicher und endlicher Freiheit wird theologisch seit alters zur Unterscheidung von Schöpfer und Ge­schöpf herangezogen: Der Schöpfer kann handeln, der Mensch muss es. Der Sabbat des absoluten Nichtstuns ist eine Option für Gott, aber nicht für uns. Für uns ist jeder Tag ein Werktag, auch der Sonntag, weil wir auch Nichtstun nur als ein Tun vollziehen können und nicht als Enthaltung von allem Tun oder Nichtstun. Für absolute Freiheit ist Nichtstun das, was es sagt: ein Nichts-Tun. Für endliche Freiheit dagegen ist auch Nichtstun ein Tun. Menschen sind nicht frei, ihre Freiheit nicht zu praktizieren. Sie müssen es tun.

4. Die Vielfalt der Freiheitsverständnisse

Doch das ist bestenfalls ein Anfang. Freiheit hat viele Facetten. Kaum ein anderes philosophisches und theologisches Thema hat eine so wichtige Rolle in der westlichen Tradition gespielt, und kaum ein anderes Thema ist so eng mit vielen anderen Fragen des menschlichen Lebens, Erlebens, Verstehens und Selbstverstehens verknüpft wie die Freiheit. Das zeigt sich schon an der Vielzahl und Vielfalt der Freiheitsdefinitionen. Wir verstehen Freiheit als die Spontaneität, aus eigenem Antrieb Ereignisreihen zu starten und eine Situation, in der man sich befindet, von sich aus gezielt zu verändern; oder als die Handlungsfreiheit, ungezwungen so oder an­ders zu handeln, also das, was wir tun oder lassen wollen, auch tun oder lassen zu können; oder als Entscheidungsfreiheit, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, also ohne Nötigung oder Zwang aus einer Menge hier und jetzt wählbarer Alternativen eine wählen und andere verwerfen zu können; oder als die Willensfreiheit, sich für das Gute und gegen das Böse entscheiden zu können; oder als Selbstbestimmung, also die Fähigkeit, unser Wollen und Entscheiden an Kriterien auszurichten, die wir selbst setzen, um unsere Entscheidungen daran zu orientieren und zwischen Optionen zu wählen; oder als moralische Autonomie, also die Fähigkeit, uns aus Vernunftgründen zur Wahrung der Würde jedes Menschen auf das Prinzip festzulegen, uns für keine Weise des Entscheidens zu entscheiden, die nicht am intrinsisch Guten orientiert ist, für die sich also jede moralische Person unter den gleichen Umständen nicht auch entscheiden müsste.

Die Vielzahl der Verständnisse lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen, die Bestimmungen sind aber auch nicht willkürlich, sondern stehen in einem bestimmten Zusammenhang. Ohne freie Entscheidungen gibt es keine freien Handlungen, ohne freie Selbstbestimmung keine freien Entscheidungen, und ohne moralische Autonomie keine Entscheidungen und Handlungen, die daraus entspringen, dass sich Personen frei am Guten orientieren.

5. Handeln und Verhalten

Ausgangspunkt dieses ganzen Gedankengefüges von Handlung, Entscheidung, Selbstbestimmung und Autonomie ist eine Unterscheidung, die wir lebensweltlich wie selbstverständlich machen: die Unterscheidung zwischen Verhalten (das immer durch etwas bedingt ist) und Handeln (das von uns selbst zu verantworten ist). Während alles Handeln auch als Verhalten beschrieben werden kann, wenn man sich an das hält, was beobachtbar ist, gilt das Um­gekehrte nicht. Wer handeln kann, hat die Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, sich von sich aus auf andere zu beziehen, sich selbst so oder anders zu bestimmen, also einen Zustand von sich aus zu verändern. Der Akzent liegt nicht auf dem, was geschieht, sondern darauf, dass es nur geschieht, wenn es von jemandem getan wird, wenn es also einem Urheber zugeschrieben werden kann.

Zwei Aspekte sind dabei wichtig. Zum einen geht es um etwas, das unter gegebenen Bedingungen sein kann, aber nicht sein muss. Der neue Zustand ist möglich, aber er tritt nicht ein, wenn er nicht gezielt herbeigeführt wird. Zum anderen geht es um den Akteur, nicht um einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang von Ereignissen oder Sachverhalten. Der neue Zustand ist nicht Wirkung einer Ursache, sondern Resultat des Tuns eines Täters.

Kant definiert Freiheit dementsprechend als »das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte«2. Handlungen sind vermeidbare Neuanfänge, nicht unvermeidliche Wirkungen vorausgehender Ursachen. Es gibt sie nicht ohne Handlungssubjekte, die solche Neuanfänge herbeiführen können. Wer von Handlungen spricht, spricht deshalb von Selbstbewegern (Selbsten), die Handlungen vollziehen können.

Das steht in Spannung zu gegenwärtigen neurophysiologischen Versuchen, alles Handeln als Verhalten zu verstehen und kausal als Wirkung von Ereignissen im Gehirn erklären zu wollen. Doch die Differenz zwischen Verhalten und Handlung ist tief in unserer Lebenswelt verankert. Wir können uns selbst nicht verstehen, ohne zwischen Verhalten, das mannigfach bedingt sein kann, und Handeln, für das wir selbst verantwortlich sind, zu unterscheiden. Wer atmet oder wem vor Schrecken der Atem stockt, der verhält sich, aber er handelt nicht. Wer dagegen bei Grün die Straße überquert oder bei Rot wartet, der verhält sich nicht, sondern handelt. Die Unterscheidung ist gut begründet und der Fußpunkt aller Freiheitserfahrung. Unser Verhalten zeigt, wie Situationen auf uns wirken und wie wir auf sie reagieren. Unser Handeln belegt, wie wir Situationen sehen und zielgerichtet verändern. Beides sind lebensweltlich distinkte Phänomene, die wir unterscheiden müssen, wenn wir uns selbst verstehen wollen. Das erste lässt sich in objektiver Beobachterhaltung beschreiben. Das zweite erfordert es, den Teilnehmerstandpunkt von Akteuren einzunehmen, also auf ihre Sicht der Dinge zu rekurrieren.

Dieser Unterschied ist auch neurophysiologisch relevant. Wo immer gehandelt wird, stellt sich die Freiheitsfrage. Aber nicht alles Handeln ist frei. Zwischen Handlungen und freien Handlungen kann man sinnvoll unterscheiden. Frei ist eine Handlung, wenn ohne Zwang gehandelt wird, die Handlung also nicht deshalb stattfindet, weil man aus inneren oder äußeren Gründen keine Alternative hatte, sondern weil man einiges von dem, was man hätte tun können, nicht getan hat und stattdessen anderes getan hat, für das man die Verantwortung nicht auf andere abschieben kann. Wir haben die Fähigkeit, Nein zu sagen zu etwas, was möglich wäre, und Ja zu sagen zu dem, was man nicht hätte tun müssen. Wo Kinder diese Fähigkeit zum Nein und zum Ja entdecken, beginnen sie, ihre Freiheit zu erleben. Und was für Kinder gilt, gilt auch für uns. Die negative Freiheit, nicht gezwungen zu sein zu dem, was man tut, und die positive Freiheit, etwas tun zu können, was man nicht tun müsste, sind die beiden Seiten aller handlungsbasierten Freiheitserfahrung.

6. Handlungsfreiheit

Der Reformator Melanchthon formuliert daher eine alte Einsicht, wenn er Freiheit bestimmt als die Fähigkeit, »zu handeln oder nicht zu handeln. So oder anders handeln zu können«: »Est autem libertas agere aut non agere. Posse sic aut aliter agere«.3 Allerdings verdunkelt diese Doppelbestimmung einen entscheidenden Punkt. Handeln oder nicht handeln zu können, ist etwas anderes, als so oder anders handeln zu können. Weder Wasser noch Wein zu trinken, ist etwas anderes, als gar nichts zu trinken. Trinken müssen wir alle. Wer frei ist, so oder anders zu handeln, ist nicht ohne Weiteres auch frei, weder so noch anders zu handeln. Das geht nur, wenn man eine dritte Option hat, die man wählen kann, und die haben wir nicht immer.

Es ist ein Kennzeichen endlicher Freiheit, dass man sich entscheiden muss, wenn man sich entscheiden kann. Sich nicht zu entscheiden, ist selbst eine Entscheidung: die Entscheidung, weder das eine, noch das andere, sondern etwas von beidem Verschiedenes zu tun. Deshalb sind wir nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun, obwohl wir es hätten tun können. Wenn endliche Wesen die Freiheit haben zu entscheiden, dann wird auch ihr Nichtentscheiden zu einer Entscheidung, für die sie Verantwortung tragen. Das Entscheiden ist so selbst ein Handeln, das eine unter verschiedenen Möglichkeiten wählt, und steht damit wie alle Handlungen unter der Bedingung, dass es auch anders hätte ausfallen können. Wer keine Alternativen hat, der kann nicht handeln. Wer sie hat, aber sie nicht kennt, kann sich nicht entscheiden. Wer sie kennt und sich zwischen ihnen nicht entscheidet, der handelt nicht. Aber auch wer sich entscheidet, handelt erst, wenn er das Gewählte auch auszuführen vermag. Man kann an jedem Punkt scheitern: weil es nichts zu wählen gibt, weil man die gegenwärtig möglichen Optionen nicht kennt, weil man sich nicht zwischen ihnen entscheiden kann, oder weil man seine Entscheidung nicht realisiert.

Auch das Entscheiden ist daher ein Handeln, das eine unter verschiedenen Möglichkeiten wählt, und es steht wie alle Handlungen unter der Bedingung, dass es auch anders hätte ausfallen können. Oder wie Leibniz definiert: Freiheit »besteht […] in der Einsicht, die eine deutliche Erkenntnis des zu beschließenden Ge­genstandes in sich fasst, in der Spontaneität, mit der wir uns entscheiden, und der Zufälligkeit, d. h. dem Ausschluss logischer oder metaphysischer Notwendigkeit.«4 Man muss die verfügbaren Möglichkeiten kennen, um sich zwischen ihnen entscheiden zu können, und das Resultat der Entscheidung wird immer eine kontingente Wirklichkeit sein, die nicht so sein muss, wie sie ist, sondern die auch nicht oder anders hätte sein könnten.

7. Entscheidungsfreiheit

Doch das für sich genommen genügt noch nicht, wie Leibniz wusste. Eine Heizungsanlage, die bei einer bestimmten Temperatur anspringt, »entscheidet« auch zwischen Möglichkeiten, aber sie entscheidet zwischen ihnen nicht von sich aus, weil sie unter denselben Umständen nichts anderes hätte tun können, wenn sie entsprechend eingestellt ist. Freie Handlungen gibt es nur auf der Grundlage freier Entscheidungen, freie Entscheidungen aber setzen nicht nur das Vorliegen alternativer Möglichkeiten voraus, sondern auch die Fähigkeit, zwischen diesen mit Gründen (und nicht aus kausaler Veranlassung) zu wählen. Ich entscheide, indem ich mich entscheide, und ich entscheide mich, indem ich mich durch Gründe dazu bestimme, das eine und nicht das andere zu wollen und zu tun.

Das besagt nicht, dass ich es tatsächlich auch tue. Ich will das Buch zurückgeben, das ich mir ausgeliehen habe. Aber ich kann es nicht, weil es mir gestohlen wurde. Freies Handeln setzt freies Entscheiden voraus, aber dieses resultiert nicht zwangsläufig im Tun des frei Gewollten, und das Tun realisiert nicht zwangsläufig das, was man wollte. Freiheit ist offenkundig kein Selbstläufer. Freie Entscheidungen können zu nichts führen, sie können unfreie Handlungen zur Folge haben, und freie Handlungen können Ereignisse bewirken, die sie nicht intendierten. Umgekehrt können Entscheidungen auch dann frei sein, wenn sie nicht zu freien Handlungen führen. Man kann mich zwingen, Übles zu tun. Aber man kann mich nicht zwingen, dieses Üble für etwas Gutes zu halten, mich also für das Üble zu entscheiden, das ich tue. Ich will es nicht, auch wenn ich gezwungen werde, es zu tun. Auch wo freie Handlungen durch Zwang oder Nötigung unterbunden werden, kann es freies Entscheiden geben. Wo es aber freies Entscheiden gibt, gelten dieselben Bedingungen wie bei allem freien Handeln: Ich kann mich nur frei entscheiden, wenn es auch möglich wäre, mich nicht oder anders zu entscheiden. Und ich handle nur frei, wenn ich frei entschieden habe, so und nicht anders zu handeln.

Wenn Handeln im Entscheiden gründet und dieses Entscheiden selbst als Handeln zu verstehen ist, dann ist die klassische Bestimmung der Freiheit, unter denselben inneren und äußeren Umständen so oder auch anders handeln zu können, unzureichend. Sie lässt nicht nur unbedacht, dass wir handeln müssen, wenn wir handeln können, in der Regel also nicht die Option haben, weder das eine noch das andere zu tun. Sondern sie blendet auch aus, dass die Wahl zwischen Optionen erst dann ein Freiheitsphänomen wird, wenn sie nicht nach einer mechanischen Regel stattfindet (wie im Fall der Heizungsanlage), sondern nach Gründen erfolgt, die man haben kann, aber nicht muss, und über die man daher immer streiten kann. Gründe nötigen nicht, und selbst wenn sie einem einleuchten, ist das noch keine Garantie dafür, dass auch entsprechend gehandelt wird.

Das ändert sich auch nicht, wenn ich mich für Gründe zweiter Ordnung entscheide, um zwischen Gründen für Handlungen wäh­len zu können. Auch wenn ich mir vornehme, aus Gesundheitsgründen nur noch gut gebratenes Fleisch und keine veganen Gemüsesuppen mehr zu essen, kann ich mich im konkreten Fall durchaus für die vegane Option entscheiden. Gründe nötigen nicht, weder um zu wählen, was man will, noch um zu tun, was man gewählt hat. Angesichts dieser Kluft zwischen Gründen und Handeln kann man die Verantwortung für das, was man tut, nicht den Gründen zuschieben, die man hat, sondern ist selbst verantwortlich dafür, wie man entscheidet und handelt. Nur wo man in diesem Sinn verantwortlich ist, ist man frei.

8. Freiheit als Fiktion (Kant)

Dass wir selbst zur Debatte stehen, wenn es um Freiheit geht, hat niemand deutlicher gesehen als Kant. Nicht unser Verhalten, Handeln, Wollen oder Entscheiden ist das Entscheidende, sondern dass es unser Verhalten, Handeln, Wollen oder Entscheiden ist. Freiheit ist kein Phänomen, das wir erfahren können, sondern ohne Freiheit gäbe es für uns keine Phänomene, die wir erfahren könnten.

Der Typ von Argumentation ist nicht neu. Leibniz hatte Lockes tabula rasa-Argumentation (»Nichts ist im Verstand, was nicht aus der Erfahrung stammt«)5 entgegengehalten »Ja, ausser dem Verstand selbst«: »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus.«6 Kant argumentiert analog, nicht nur im Blick auf unsere Erkenntnis, sondern auch im Blick auf unsere Freiheit: Kein Phänomen der empirischen Erfahrung belegt unsere Freiheit, aber ohne Freiheit könnten wir keine empirischen Erfahrungen machen. Blicken wir auf die Phänomene, sehen wir keine Freiheit. Blicken wir auf die, für die es Phänomene gibt, kommen wir nicht umhin, von Freiheit zu sprechen.

Die Suche nach einem wissenschaftlichen Beweis der Freiheit ist daher ein Unding. Kein menschliches Phänomen belegt von sich aus unsere Freiheit. Was immer wir wollen, ist durch unsere Interessen, Wünsche und Motive bestimmt, und was immer wir tun, ist durch die Umstände bedingt, unter denen wir handeln. Alles lässt sich daher als eine Art von Verhalten erklären. Nur dass wir uns selbst dabei als Freiheitswesen erleben, wird nicht erklärt. Im Erklärungszusammenhang weltlicher Erfahrung kommt Freiheit nicht vor. Sie wird zur Fiktion.

Genau diese Konsequenz zieht auch Kant, allerdings mit einer wichtigen Präzisierung: Freiheit ist eine für uns unverzichtbare Fiktion. Nach Kant sind Fiktionen »gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände«,7 aber nicht alle so für möglich angenommenen bzw. annehmbaren Gegenstände sind von derselben Art. Während ein fiktionaler Gegenstand bzw. Sachverhalt wie Pegasus, das Spaghettimonster oder »Mahomets Paradies«8 so ist, dass man ihn für möglich annehmen kann, aber nicht muss, gibt es Kant zufolge auch Fiktionen, auf die man nicht verzichten kann, wenn man ein menschliches Leben auf menschliche Weise führen will. Sie sind keine verzichtbaren Erfindungen, aber auch keine falsifizierbaren Hypothesen, sondern heuristische Fiktionen, die wir im Feld der Erfahrung als regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs oder im Feld des Handelns als Grundpostulate der freien Selbstbestimmung benötigen, um ein autonomes menschliches Leben führen zu können.

Zu diesen unverzichtbaren Fiktionen zählen nach Kant die Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit und Gottes. Freiheit, Unsterblichkeit und Gott sind keine Phänomene der realen Erfahrungswelt, sondern Fiktionen. Aber in einem menschlich gelebten Leben sind sie unverzichtbare Fiktionen, ob wir sie affirmieren, bestreiten oder ignorieren. Sie sind nicht weniger, sondern mehr als fallible Hypothesen über kontingente Sachverhalte. Sie sind unverzichtbar, um unser Selbstsein als Personen verstehen zu können.

Was er damit meint, wird deutlich, wenn wir die drei Substantive in Sätze übersetzen.

(1) Freiheit heißt: Ich bin frei, das heißt, ich bin imstande, mir Regeln meines Handelns zu geben und diese Regeln an einer moralischen Regel, der Maxime des guten Willens, auszurichten.

(2) Unsterblichkeit heißt: Ich werde weiter existieren. Um tatsächlich ein nicht nur moralisch gutes, sondern auch physisch glückliches Leben erreichen zu können, muss ich als endliches Wesen mit einem physischen Körper und den entsprechenden Neigungen und Bedürfnissen darauf setzen können, dass sich die asymptotische Annäherung an das Ideal des guten und glücklichen Lebens auch über den Tod hinaus fortsetzen wird, auch wenn sich das Ziel nie erreichen lässt (sonst wäre ich ein heiliges Wesen, d. h. Gott selbst).

(3) Gott heißt: Es gibt einen Gott, das heißt, dasjenige, was wir zusammengenommen mit dem Ausdruck »Gott« bezeichnen, ist wirklich, und zwar so, dass es ohne Gott nichts anderes gibt oder geben könnte.

Alle drei Sätze sind Kant zufolge theoretisch nicht begründbar oder widerlegbar, d. h. sie sind möglicherweise wahr, aber weder ihre Wahrheit noch ihre Falschheit ist theoretisch zu erweisen.

Allerdings sind diese drei Fiktionen nicht beliebig oder willkürlich. Sie sind mit unserer Wirklichkeit als zwecksetzende Handlungswesen gesetzt, da wir ohne diese Fiktionen unser Leben als freie Personen nicht verstehen können.

(1) So ist Ich bin frei kein Satz, der einen Sachverhalt der realen Welt beschreibt, sondern eine Fiktion, die ich machen muss, um mein eigenes Agieren in meiner Umwelt zu verstehen (also meinem Leben als Person einen Sinn abzugewinnen), und die ich genau dadurch als »wirklich« erweise, dass ich mich so verhalte: Ich bin frei, indem ich frei handle.

(2) Ich werde weiter existieren ist kein Satz, dessen Wahrheit ich hier und jetzt erweisen könnte – nicht nur, weil er über etwas Zukünftiges spricht, das mir hier und jetzt nicht zugänglich ist, sondern auch, weil er nur wahr ist, wenn ich selbst ihn bewahrheiten kann. Das Erste setzt voraus, dass es nicht unmöglich ist, weiter zu existieren, sonst wäre es nicht vernünftig, damit zu rechnen. Das Zweite setzt voraus, dass das Ich, das jetzt spricht, und das Ich, das dann bewahrheitet (wenn es das denn tut), dasselbe ist. Die Möglichkeit der Unsterblichkeit kann ich denkend erproben, die Identität des hier Denkenden und des – möglicherweise – dort Erfahrenden kann ich nur erhoffen. Hier und jetzt kann ich daher nur sagen: Ich hoffe, dass ich weiter existieren werde, aber nicht: Ich weiß, dass ich weiter existieren werde. Nicht das Wissen, dass das so ist, sondern nur das Wissen, dass es möglich ist, weiter zu existieren, ist die Bedingung der Möglichkeit vernünftigen Hoffens.

(3) Es gibt einen Gott schließlich ist ebenfalls kein Satz über die reale Welt, sondern über das, ohne das die Welt nicht so sein könnte, dass ein moralisches menschliches Leben in ihr möglich wäre, und es niemanden gäbe, der sich so zu leben verpflichtet fühlen würde. Auch dieser Satz beschreibt keinen übernatürlichen Sachverhalt, sondern formuliert eine Bedingung, die Menschen für erfüllbar annehmen müssen, wenn sie als Vernunftwesen moralisch gut und zugleich als Naturwesen auch glücklich sein wollen. Auch hier kann man daher nicht sagen: Ich weiß, dass es Gott gibt, sondern allenfalls: Ich will – nicht: ich wünsche! –, dass es Gott gibt, »ich will, daß ein Gott, daß mein Dasein in dieser Welt auch außer der Naturverknüpfung noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt, endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen.«9 Denn ließe ich mir diesen Glauben nehmen, hörte ich auf, als Person zu leben.

Als Personen, die sich frei am Prinzip des guten Willens ausrichten können und sollen, erhoffen und wollen wir eine Welt, in der ein moralisch gutes und menschlich glückliches Leben möglich ist. Als Vernunftwesen sollen wir moralisch leben und als Naturwesen wollen wir glücklich sein, und weil wir als Vernunftwesen Naturwesen und als Naturwesen Vernunftwesen sind, wollen wir, dass beides zusammengeht. Das aber ist in der Erfahrungswelt, in der wir leben, häufig nicht der Fall: Den Guten geht es schlecht, und den Schlechten geht es gut. Moralisch zu leben, heißt nicht zwangsläufig, auch glücklich zu sein; und unmoralisch zu leben, heißt nicht zwangsläufig, unglücklich zu sein. Doch stünde Moralität in unüberwindlichem Widerspruch zum glücklichen Leben, gäbe es für uns als Naturwesen keinen guten Grund, moralisch zu leben, und wäre ein glückliches Leben prinzipiell unvereinbar mit Moralität, würde es für uns als Vernunftwesen keinen Sinn haben, nach Glück zu streben. Weil Freiheit aber eine für ein menschliches Leben in Würde und Selbstbestimmung unverzichtbare Fiktion ist, werden auch Unsterblichkeit und Gott zu dadurch unverzichtbar gemachten Fiktionen.

Man beachte das Gefälle von Kants Argumentation: Erst durch Freiheit werden Unsterblichkeit und Gott unverzichtbare Fiktionen im menschlichen Leben. Sie unter Absehung von Freiheit verstehen und konstruieren zu wollen, heißt die in ihnen sich artikulierende Hoffnung in ein Hirngespinst oder einen metaphysischen Traum zu verkehren. Freiheit ist die grundlegende unverzichtbare Fiktion für das Leben von Personen, Unsterblichkeit und Gott dagegen sind die dadurch unverzichtbar gemachten Folge-Fiktionen. Dass wir frei sind, wissen wir. Dass wir unsterblich sind, hoffen wir. Dass es Gott gibt, wollen wir. Ohne Freiheit gibt es keinen vernünftigen Glauben an Gott. Gibt es aber Freiheit, dann gibt es keinen vernünftigen Grund, nicht an Gott zu glauben und nicht auf ein ewiges Leben zu hoffen.

Alle drei Fiktionen haben gemeinsam, dass sie ihren Wirklichkeitsbezug im konkreten Vollzug selbstbestimmten Lebens haben: Nur im frei selbstbestimmten Handeln gibt es Freiheit, nur im Anstreben des Höchsten Gutes – der Möglichkeit eines Lebens, das sowohl moralisch als auch glücklich ist – gibt es zu Recht Hoffnung auf Unsterblichkeit und den unbedingten Willen, einen Gott zu haben. Wer die Freiheit negiert, entzieht daher nicht nur aller vernünftigen Religion ihren Boden, sondern vermag sich auch nicht mehr als Person zu verstehen, deren Würde unantastbar ist.

II Gottes Freiheit


9. Willensfreiheit (Augustinus)


Kants Freiheitsphilosophie ist keine Verteidigung der Willensfreiheit. Ihm geht es um Autonomie, die personale Verantwortungs-fähigkeit für das eigene Wollen, Entscheiden und Tun, nicht um Willensfreiheit, und schon gar nicht um eine bloße Wahlfähigkeit zwischen Optionen. Dass das Problem der Willensfreiheit unterbestimmt ist, wenn man es nur als Wahlfähigkeit zwischen Optionen fasst, wussten schon die Alten. Sie meinten damit nicht nur die Fähigkeit, sich so oder anders zu entscheiden, sondern die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse unterscheiden und sich für das Gute und gegen das Böse entscheiden zu können.

Das öffnet Tor und Tür für nicht endende Debatten über das, was für wen aus welchen Gründen in welchen Situationen gut oder schlecht, richtig oder falsch, gut oder böse, gut oder übel ist. Offenkundig gibt es auf diese Fragen nicht nur eine Antwort. Wir alle können Beispiele für das eine oder das andere nennen, auch wenn wir das, was wir für gut und für übel oder böse halten, unterschiedlich bestimmen mögen. Doch die interessanten Fälle sind die, wo sich Gutes und Übles in welchem Sinn auch immer nicht auf verschiedene Situationen verteilen, sondern ein und dasselbe Ereignis für die einen gut und die anderen übel ist. Das ist der Normalfall im Kinderzimmer, im Sportstadion und an der Universität. Alle streben danach, das Gute zu realisieren, aber über das, was das Gute ist, herrscht Dauerstreit, und über das, was man für übel hält und zum Bösen erklärt, auch.

Das ändert sich auch dann nicht, wenn man eine objektive Wertordnung des Guten und Bösen postuliert, die sich nicht kulturellen Setzungen verdankt, sondern menschlichem Entscheiden und Wählen vorgegeben ist. Mit diesem Verständnis der Willensfreiheit kommt man theologisch in Teufels Küche. Sind Gut und Böse Optionen, die unserem Entscheiden vorgegeben sind, dann sind nicht die Geschöpfe, sondern ist letztlich Gott für die Wirklichkeit des Bösen verantwortlich. Das hatte schon Augustin gesehen.10 Deshalb fasste er das Freiheitsproblem als Alternative zwischen zwei grundlegenden Weisen des Wählens: Gut und Böse sind keine Gegenstände der Wahl (Optionen), sondern Weisen (Modi) des Wählens. Gutes wählen heißt, auf gute Weise wollen und auf böse Weise nicht wollen (bene velle et male nolle), und Böses wählen heißt, auf schlechte Weise wollen und auf gute Weise nicht wollen (male velle et bene nolle). Auf gute Weise will, wer sich an Gott orientiert, auf schlechte Weise dagegen, wer sich an sich selbst ausrichtet. Menschen sind im Prinzip frei, das eine oder andere zu tun. Im Unterschied zum Schöpfer aber müssen sie wählen und sind nicht frei, nicht zu wählen. Es ist das Kennzeichen endlicher Freiheit, dass man sie nicht haben kann, ohne sie zu praktizieren. Menschen sind daher zwar frei, aber sie wählen falsch, wenn sie sich bei der Bestimmung des Guten nicht an der Liebe zu Gott, sondern an ihrer eigenen Selbstliebe ausrichten.

Genau das aber tun alle Menschen, wie Paulus, Augustinus und Luther betonen. Alle wollen das, was sie für sich selbst für gut halten. Aber nicht alles, was man für gut hält, ist es auch; nicht alles, was für den einen gut ist, ist es auch für andere; und nicht alles, was für mich unter einer Beschreibung (als Sohn, Vater, Bürger, Mensch, Geschöpf) gut ist, ist es auch unter den anderen. Das ist eine Quelle permanenter ethischer Konflikte. Deshalb brauchen wir ein Verständnis von Sohn, Tochter, Mutter oder Vater, das deutlich macht, was für Söhne, Töchter, Mütter oder Väter gut ist, ein Verständnis des Bürgers, das erhellt, was für Bürger gut ist, einen Begriff des Menschen, der klarstellt, was für Menschen gut ist, ein Verständnis von Geschöpf, das anzeigt, was für Menschen als Ge­schöpfe gut ist.

Kein Mensch wird mit solchen Verständnissen geboren. Niemand weiß von sich aus, was für ihn oder sie als Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter gut ist, oder was für ihn oder sie als Bürger oder Bürgerin im Staat oder als Mensch unter Menschen gut ist. All das muss man lernen, und in verschiedenen Kulturen lernt man da Verschiedenes. Das gilt auch für das Verständnis von Geschöpf. Niemand weiß von sich aus, was für ihn oder sie als Geschöpf gut ist. Auch das muss man zuerst einmal lernen, und man kann es, wenn man will. Aber niemand will es wirklich wissen. Das ist nicht erst in einer säkular gewordenen Welt so. Das war schon immer so, wie die christliche Sündenlehre in Erinnerung hält (die nichts mit Moral, sondern mit unserer Einstellung zu Gott zu tun hat). Wir alle eignen uns durch Erziehung und Kultur ein Verständnis dessen an, was es bei uns heißt, zu einer Familie, zu einem Staat, einer Gesellschaft oder zur Menschheit zu gehören. Aber niemand muss sich als Geschöpf verstehen, und niemand will es von sich aus. Im Gegenteil, wir suchen es nach Möglichkeit zu vermeiden, weil es uns in ein Unterscheidungsverhältnis zum Schöpfer setzt, das uns fremd ist – nicht erst fremd geworden ist, wie es säkulares Denken nahelegt, sondern immer schon gewesen ist, wie reformatorische Theologie betont. Von sich aus wollen die Menschen nicht Ge­schöpfe, sondern Gott sein. Denn wie könnten sie es ertragen, kein Gott zu sein, wenn es Götter gäbe, wie Nietzsche fragte? 11

Das kulturell Gängige, moralisch Gute, religiös Geforderte und für Geschöpfe Rechte fällt offenkundig nicht zusammen. Wer im einen Sinn gut ist, ist es keineswegs auch schon im anderen. Als Mütter, Väter, Bürger, Menschen mögen wir mehr oder weniger gut wählen und entscheiden können, als Geschöpfe aber entscheiden wir regelmäßig falsch, weil kein Mensch sich von sich aus so versteht. Wer aber nicht weiß, wer und was er ist, kann nicht entscheiden, was für ihn in dieser Hinsicht bzw. unter dieser Beschreibung gut ist. Das ist die Grundeinsicht der biblischen Tradition. »Ihr werdet sein wie Gott«, raunt die Schlange, um Menschen zu verführen, sich die göttliche Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse anzueignen. Doch die Unterscheidungsfähigkeit nützt nichts, wenn man sie nicht recht gebrauchen kann, weil man den Unterschied zwischen Geschöpf und Schöpfer verwischt und damit sich selbst nicht recht versteht. Das hebt diesen Unterschied nicht auf. Aber vergangenes Fehlentscheiden lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen und künftiges Gutsein nicht garantieren. Menschen wollen wie Gott sein und scheitern schon an ihrem Menschsein.

Dass die Menschheitsgeschichte nicht damit endet, ist für Augustin die Pointe der christlichen Botschaft. Gott beendet das universale Scheitern, indem er selbst Mensch wird und so den Menschen hilft, die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf zu wahren und wirklich nur Menschen zu sein. Das ist man, wenn man sein Menschsein so lebt, dass es dem eigenen Geschöpfsein nicht widerspricht, wenn man die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf also wahrt in der Ausrichtung seines Lebens, indem man sich nicht an sich selbst, sondern an Gott orientiert. Wer an Chris-tus glaubt, so Augustin, tut eben das. Er setzt nicht auf sich selbst, sondern ganz auf Gott und ist nicht mehr willens, auf schlechte Weise zu wollen und auf gute Weise nicht zu wollen. Er lebt als Mensch auf menschliche Weise, weil er aufhört, wie Gott sein zu wollen. Die ursprüngliche Möglichkeit, auf gute oder schlechte Weise zu wollen ( bene velle vel male velle) und die faktische Wirklichkeit, nur noch auf schlechte Weise zu wollen (male velle et bene nolle) wird dann überboten dadurch, dass man nur noch auf gute Weise will und anders nicht mehr will und wollen kann (bene velle et male nolle).

10. Drei Gegenmodelle

Es gibt drei Haupteinwände gegen diese augustinische Sicht, die an gegenläufigen Punkten ansetzen: das katholische Kooperationsmodell, das aufklärerische Perfektionsmodell und das reformatorische Gabemodell.

1. Das katholische Kooperationsmodell
Der katholische mainstream hält die augustinische Auffassung, wir könnten hier und jetzt überhaupt nicht mehr gut wollen, für eine einseitige Übertreibung. Wir können zwar nicht alles, aber manches, so heißt es, andernfalls stünde es übel um uns als Freiheitswesen. Unsere Freiheitsfähigkeit ist beeinträchtigt, aber nicht gänzlich zerstört. Wir sind nicht völlig unfähig, das Gute zu wollen, sondern nur nicht hinreichend willens, es auch zu tun. Daher sind wir auf die Kooperation mit denen angewiesen, die wissen, was das Gute ist (die Kirche), und die es auch gegen Widerstände realisieren können (Gott). Ohne die Kirche gibt es für uns keine Gewissheit, was das Gute ist, und ohne die Zusammenarbeit mit Gott keine Chance, es zu realisieren.

Bis zum heutigen Tag reden katholische Theologen so von einem »Austausch[…] von Freiheiten« zwischen dem sündigen Ge­schöpf und dem rechtfertigenden Schöpfer.12 Als ob das Geschöpf einen eigenständigen Beitrag zu seinem Geschaffenwerden leisten könnte oder Glaubende einen eigenständigen Beitrag zum Wechsel von einem Leben, das Gott ignoriert, zu einem Leben, das sich an Gott orientiert. Keiner, der lebt, hat sich selbst ins Dasein gebracht oder selbst am Wechsel vom Nichtsein zum Sein mitgewirkt. Und keiner, der glaubt, hat sich selbst zum Glauben gebracht oder selbst dazu beigetragen, seine Gottesblindheit zu überwinden. Man muss nur den Schöpfungsgedanken ins Zentrum stellen, um zu sehen, wie abwegig hier alle Kooperationsfiguren sind. Als Geschöpf und als Glaubender ist man etwas, zu dem man selbst nichts beiträgt, sondern zu dem man sich in seinem Leben nur verhalten oder nicht verhalten kann, weil und insofern man es unabhängig davon ist. Das ist kein theologischer Ungedanke, sondern ein wohlvertrauter Sachverhalt: Keiner macht sich selbst zum Kind oder zum Erben. Das eine verdankt man seinen Eltern, das andere dem Erblasser. Das heißt nicht, dass man nichts tut. Kinder toben herum, und Erben streiten sich. Man kann ein Erbe annehmen oder ablehnen, aber man kann es nur, weil und insofern man der Erbe ist. Nur Erben können sich um das Erbe streiten. Zum Erben aber wird man ganz ohne eigenen Beitrag. Zum Geschöpf auch. Und zum Glaubenden auch.

2. Das aufklärerische Perfektionsmodell

Die Aufklärung ist da konsequenter. Sie verwirft den augustinischen Ausgangspunkt und betont, dass die Möglichkeit, auf gute oder auf schlechte Weise zu wollen und zu handeln, keine verlorene Fähigkeit einer unvordenklichen Vergangenheit ist, sondern unsere gegenwärtige Realität: Wir können, wenn wir wollen, wir müssen nur wirklich wollen, dann können wir auch. Wir können erkennen, was gut ist, wir können es tun, und wir können, wenn wir uns anstrengen, das Gute auch verwirklichen.

Dass das keineswegs so ist, haben die vergangenen zweihundert Jahre zur Genüge gezeigt. Wir können zwar immer mehr, und wir sind dabei, uns in ungeahnten Weisen zu optimieren. Aber wir haben keine Kontrolle über das, was wir damit anrichten. Und wir müssen ständig nachjustieren, um das Schlimmste zu vermeiden.

3. Das reformatorische Gabenmodell
Die reformatorische Theologie wusste das. Sie stimmt Augustin zu, dass wir hier und jetzt auf gute Weise nicht wollen können, sondern immer nur auf schlechte Weise wollen. Uns fehlt die Einsicht in das Gute und der Wille, es zu tun. Für Luther, den radikalen Augustiner, ist angesichts der Realität menschlicher Gottesblindheit die Freiheitsfigur einer Wahl zwischen Gut und Böse leeres Gerede. Menschen sind unfähig und unwillig, das für sie als Geschöpfe Gute zu erkennen und zu wollen, weil sie den Schöpfer ignorieren und ihr Geschöpfsein leugnen. Und selbst wenn sie wüssten und wollten, was für sie gut ist, wären sie nicht in der Lage, das Gewollte auch zu verwirklichen.

11. Urteilsenthaltung und Wahlfreiheit (Erasmus)

Das wird überdeutlich in Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus, mit dem er den augustinischen Hintergrund teilt. Erasmus vertritt die skeptische Version der katholischen Sicht eines Zusammenwirkens von Mensch und Gott im Heilsprozess. Seine Position lässt sich in drei Sätzen umreißen.

1. Wenn wir wissen, was in einer bestimmten Situation gut für uns ist, dann können wir es tun, wenn und soweit es die Umstände erlauben.

2. Wenn wir es nicht wissen, dann müssen wir uns eines Urteils enthalten und dann ist es besser, nichts zu tun, als das Falsche zu tun.

3. Wenn wir das nicht können, sondern handeln müssen, dann ist es besser, in Glaubensdingen das zu tun, was die Kirche sagt, als es nicht zu tun.

Luther widerspricht jedem dieser Punkte:

Ad 3. Selbst wenn uns die Kirche sagen würde, was existenziell – also für ein Leben vor und mit Gott – gut ist (und sie lässt uns durch ihre permanente Vermischung von göttlichem Willen und eigenem Wollen gefährlich im Unklaren), können wir das Gute nicht tun, weil wir es nicht tun wollen. Und selbst wenn wir es wollten, könnten wir es nicht tun, weil wir nicht die Macht haben, das Erreichen des Guten auch zu garantieren.

Ad 2. Auch wenn wir nicht wissen, was in einer bestimmten Situation gut oder nicht gut wäre für uns, können wir uns in lebensrelevanten Angelegenheiten eines Urteils nicht enthalten und können nicht nichts tun. Auch wer nicht weiß, was in einer Situation gut ist, wird faktisch so oder anders handeln, also sich lebenspraktisch eines Urteils nicht enthalten können. Kognitive Urteilsenthaltsamkeit ist kein Ausweg aus lebenspraktischer Handlungsnotwendigkeit. Wer frei ist, muss seine Freiheit praktizieren, kann also nicht nichts tun.

Ad 1. Auch wenn wir das Gute kennen, wollen wir es nicht tun. Und auch wenn wir es tun wollen, können wir es nicht tun. Wir können handeln, aber wir können nicht garantieren, dass wir das Gute, das wir wollen, auch realisieren. Doch wirklich frei zu sein, das Gute zu tun, heißt, die Macht zu haben, das Gute auch zu realisieren. Die haben wir nicht. Und deshalb sind wir nicht wirklich frei.

Der zentrale Differenzpunkt zwischen Erasmus und Luther ist das Verständnis der Freiheit. Für Erasmus ist Freiheit die Fähigkeit, das Gute wählen oder nicht wählen zu können. Das gilt für Gott nicht weniger als für uns. Gott kann das uneingeschränkt, während unsere Freiheitsfähigkeit massiv beeinträchtigt ist. Wir sehen nicht alles, was möglich wäre, wir sehen nicht um die Ecke der Zukunft, und wir wissen nicht, was die besten Folgen hätte. Wenn man aber nicht weiß, wie man sich entscheiden soll, ist es klüger, sich des Urteils zu enthalten und sich nicht zu entscheiden, also weder das eine noch das andere zu wollen oder zu tun.

Doch bei Licht betrachtet ist diese skeptische Reduktion der Freiheit auf das Sich-Enthalten und Nichtstun lebensfremd. Wer nicht weiß, was er will, aber nicht nichts tun kann, solange er lebt, tut in der Regel etwas, was er nicht will, und in den meisten Fällen ist das nichts Gutes. Weil es unmöglich ist, nicht zu handeln, solange wir leben, können wir nicht darauf verzichten, in lebenswichtigen Fragen Position zu beziehen, denn das nicht zu tun ist selbst eine Entscheidung, und zwar eine negative: Wer sich nicht für das Gute, die Wahrheit und das Recht einsetzt, ist nicht neutral, sondern arbeitet gegen sie. Wer sich nicht selbst entscheidet, wird abhängig von Autoritäten wie der Kirche, die beanspruchen, das Gute zu kennen. Und weil sich auch Skeptiker zwar des Urteils, aber nicht des Handelns enthalten können, bleibt ihnen nur, sich darauf zu verlassen, dass die Kirche weiß, was sie sagt.

12. Freiheitsmacht (Luther)

Luthers Erfahrung war, dass die Kirche das nicht tut, sondern ihre eigenen Interessen als die Gottes ausgibt und damit das Gute, das Gott will, durch die Vorteile, die sie will, verdunkelt. Für ihn ist Freiheit nicht primär die Fähigkeit, das Gute wählen oder nicht wählen zu können, sondern die Macht, das Gute herbeizuführen. Luther spitzt alles auf einen Freiheitsbegriff zu, der ganz an Gottes Freiheit orientiert ist.13 Nicht der ist wahrhaft frei, der zwischen Gut und Böse wählen kann. Auch nicht der, der nur auf gute und nicht auf schlechte Weise will. Sondern allein der, der das Gute, das er will, auch vollbringen kann. Frei sein heißt, die Macht zu haben, das Gute, das man will, auch zu verwirklichen, also das Gutsein der Folgen seines Wollens und Tuns garantieren zu können. Das aber kann kein Mensch. Wir mögen das Beste wollen, und bewirken Übles, und wir mögen Übles wollen, und bewirken Gutes. Dass unser Wollen und Tun zu einem guten Ende führt, liegt nicht in unserer Macht.

Erasmus und seine Anhänger haben das bis heute nicht begriffen. Das Freiheitsproblem wird unterbestimmt, wenn man es nur als Wahl zwischen Optionen konzipiert. Es geht auch nicht nur um die Fähigkeit, das Gute zu erkennen, und den Willen, sich dafür zu entscheiden. Es geht um die Macht, das Gute auch zum Zuge zu bringen.

Menschen scheitern an jedem Punkt. Sie wissen nicht, was exis-tenziell (also vor Gott) für sie gut ist, und sie können das für sie Gute nicht selbst verwirklichen. Frei werden sie nur durch die Teilhabe an Gottes Freiheit und Macht, alles zum Guten zu führen. Diese Teilhabe gibt es nur als unverdiente Teilgabe. Luther nennt sie »Glaube«. Glaube ist keine Schwachform des Wissens, sondern das vertrauensvolle Sichverlassen auf Gottes Zusage, alles gut zu machen.

Dieses Gottvertrauen ist reines Geschenk. Man kann es sich nicht selbst verschaffen, sondern es ist allein Gott zu verdanken, eine Gottesgeburt in der menschlichen Seele, wie Meister Eckhart sagte, über die niemand selbst verfügt. Niemand bildet sich selbst zum Glaubenden, sondern Glaube ist und bleibt Einbildung – ein Einbezogen- und Hineingebildetwerden in Gottes Leben durch Gott selbst. Gerade deshalb sind Menschen im Glauben und nicht im Nein zum Glauben wirklich frei. Im Glauben nehmen sie teil an Gottes Ja zum Menschen und seiner Freiheitsmacht, selbst aus Üblem Gutes zu schaffen. Alles Gute ist möglich bei Gott, der Glau be setzt ganz und ausschließlich auf Gott, und deshalb ist alles Gute möglich dem, der glaubt. Im Glauben sind Christen freie Herren über alle Dinge und niemand untertan, wie Luther 1520 schreibt, und zugleich in der Liebe dienstbare Knechte aller Dinge und jedermann untertan. Wer sich im Glauben ganz auf Gottes Freiheitsmacht zum Guten verlässt, wird frei wie Gott und für andere zum Ort, an dem Gott Gutes wirkt.

Jeder Versuch, die theologische Freiheitsfrage als Zusammenwirken von Gott und Mensch zu denken, geht für Luther daher an der Sache vorbei. Es gibt keine menschliche Freiheit neben einer göttlichen Freiheit. Es gibt nur die Freiheitsmacht Gottes, die das Gute verwirklicht. Menschen können Ereignisketten erzeugen, Nein sagen, zwischen Gut und Böse wählen. Aber sie wissen nicht, was für sie gut ist, solange sie ausblenden, dass sie Gottes Geschöpfe sind. Und auch dann sind sie unfähig, das Gute selbst zu verwirklichen. Sie haben keine Kontrolle über die Folgen ihres Entscheidens und Tuns. Sie sind nicht die Herren ihres Lebens, ihre Freiheit ist Illusion.

Wahrhaft frei werden Menschen erst im Glauben. Im Glauben setzen sie ganz auf Gottes Güte, Freiheit und Macht, das für sie und alle Geschöpfe Gute auch tatsächlich herbeizuführen. Sie wollen, was Gott will, nicht weil sie wissen, was das ist, sondern weil sie darauf setzen, dass Gott will, was gut ist, und deshalb gut ist, was Gott will. Das macht sie frei, im Vertrauen auf Gott und in Achtung der Würde seiner Geschöpfe ihr Leben in eigener Verantwortung zu führen. Wer glaubt, ist frei, weil er darauf setzt, dass die Verwirk-lichung des Guten in Gottes Händen liegt, so dass er sich um die Nöte der Nächsten kümmern kann. Glaube ist keine Unmündigkeit und Untätigkeit, sondern die Gott verdankte Ermächtigung, an Gottes Freiheit teilzuhaben, indem man zum Ort wird, an dem Gott Gutes für andere wirkt.

13. Die Säkularisierung der Glaubensfreiheit

In entscheidender Hinsicht wird Freiheit von den Reformatoren also nicht als Fähigkeit der Wahl zwischen Gut und Böse verstanden, sondern als Machtphänomen. Der Gedanke hat Schule ge­macht. Am Ende der Aufklärungsepoche formulierte die französische Nationalversammlung im 6. Artikel der französischen Konstitution von 1793: »Die Freiheit ist die Macht, die dem Menschen erlaubt, das zu tun, was den Rechten eines anderen nicht schadet; sie hat als Grundlage die Natur, als Maßstab die Gerechtigkeit, als Schutzwehr das Gesetz. Ihre moralische Begrenzung liegt in dem Grundsatz: ›Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.‹« 14 Freiheit wird hier nicht libertär bestimmt als die Fähigkeit, tun und lassen zu können, was man will und kann, sondern liberal so, dass die Grenzen der Freiheit die Freiheit des anderen sind. Wir sind frei zu tun, was wir wollen, sofern es den Rechten der anderen nicht schadet. Diese Rechte gründen in unserer gemeinsamen menschlichen Natur, sie haben einen von allen geteilten Maßstab (die Gerechtigkeit), sie werden durch das Gesetz vor Missbrauch geschützt und sie unterliegen dem moralischen Minimalprinzip, anderen nichts zu tun, was man von anderen selbst nicht erleiden will.

Welche Idealisierungen diese Bestimmungen darstellen, wissen wir heute. Wir haben wachsende Schwierigkeiten, von einer gemeinsamen menschlichen Natur auszugehen, ein verbindliches Verständnis von Gerechtigkeit zu formulieren, einzusehen, dass Gesetze notwendig für unsere Freiheitspraxis sind, und uns ge­meinsam an Moralprinzipien zu orientieren, auch wenn Trittbrettfahrer Vorteile daraus ziehen, sie zu ignorieren. Übrig bleibt eine Auffassung von Freiheit als die Macht, seine Wünsche und Interessen anderen gegenüber durchzusetzen. Freiheit wird zum Recht der Stärkeren gegenüber den Schwächeren, auf individueller und auf nationaler Ebene, und sie kennt nur noch die Grenze, nicht stark genug zu sein, das auch zu tun. Im politischen und privaten Zusammenleben reduziert sich Freiheit auf die Durchset zungsmacht eigener Wünsche – sie mögen berechtigt sein oder nicht.

Genau dem hatten die Reformatoren widersprochen. Nicht die Fähigkeit, seine eigenen Wünsche durchzusetzen, ist die Macht der Freiheit, sondern die, das Gute, das man will, auch zuwege zu bringen. Beides gehört zusammen: Orientierung am Guten und die Macht, es zu realisieren. Wer nichts Gutes will, ist auch nicht frei, was immer er für Wünsche hat und zu realisieren sucht. Aber auch wer Gutes will, ist nicht frei, wenn er nicht in der Lage ist, es auch zu realisieren. Freiheit ist die Macht, das Gute, das man will, auch zu tun, also nicht nur gesinnungsethisch das Gute zu wollen, sondern das Gewollte auch umsetzen und das Gute verwirklichen zu können.

Niemand hat das philosophisch besser verstanden als Kant. Die Freiheit, sich selbst zu bestimmen, impliziert nicht nur die Möglichkeit, das auch zu tun, sondern – als endliche Freiheit – auch die Unmöglichkeit, es nicht zu tun. Wir sind frei, uns selbst zu bestimmen, aber nicht so, dass wir es auch nicht tun könnten, sondern nur so, dass wir nicht vermeiden können, es zu tun. Das gilt für alle Ebenen der Freiheit, von der Handlungsfreiheit über die Entscheidungsfreiheit und freie Selbstbestimmung, bis zur moralischen Autonomie. Allein in der moralischen Selbstbestimmung sind wir völlig autonom, weil wir das, was wir wollen, tatsächlich auch können und tun. Für meine Moralität oder deren Fehlen ist niemand anders als ich selbst verantwortlich. Meine Handlungen können andere verhindern, mein Entscheiden kann durch meine Wünsche, Bedürfnisse und Interessen beeinträchtigt sein, meine Selbstbestimmung mag meinem kalkulierenden Verstand zur Maximierung des für mich Profitablen oder meinen Privatinteressen zur Steigerung meines Wohlbefindens folgen und alle moralischen Verpflichtungen ignorieren oder leugnen. Aber dafür, welche Art von Person ich bin und wie ich mein Personsein lebe, trage ich selbst die Verantwortung.

Die Freiheit zur moralischen Selbstbestimmung kann mir niemand streitig machen, und am Vollzug dieser Selbstbestimmung kann mich niemand hindern. Wie es Freiheit nur gibt, wo sie gelebt wird, so gibt es moralische Selbstbestimmung nur, wo Freiheit auf moralische Weise gelebt wird. In der moralischen Selbstbestimmung sind wir wirklich autonom, weil es hier zwischen Wollen und Vollbringen keinen Hiat gibt. Wer moralisch leben will, der kann es, indem er es tut, er tut es, indem er sich dazu bestimmt, und er bestimmt sich dazu, indem er sich tatsächlich am Moralprinzip orientiert.

Kants Freiheitsphilosophie lässt sich in entscheidender Hinsicht als Säkularisierung des reformatorischen Freiheitsgedankens verstehen. Um das Gute zu tun, muss man es nicht nur klar und eindeutig erkennen, sondern man muss auch die Macht haben, es zu realisieren. Die Reformatoren hatten das auf Gott beschränkt, weil die Menschen an beiden Punkten versagen. Sie kennen das für sie Gute nicht, weil sie gottlos sind, und würden sie es kennen, könnten sie es nicht realisieren, weil sie endlich sind. Kant weicht davon an einem entscheidenden Punkt ab. Es gibt etwas, was Menschen ohne Wenn und Aber nicht nur als gut erkennen, sondern tatsächlich auch verwirklichen können, nämlich den guten Willen: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille15 Wer sein Wollen an diesem Willen orientiert, der will dieses Gute nicht nur, sondern der realisiert es auch. Zu wollen, was das moralische Gesetz be­fiehlt, ist gut, und es zu wollen, ist hinreichend, den eigenen Willen auch so zu bestimmen. An dem einen Punkt der moralischen Selbstbestimmung sind damit die beiden Bedingungen wahrer Freiheit erfüllt: Man will Gutes, und man erzielt, was man will, weil der eigene Wille tatsächlich so bestimmt wird – ob das im Leben zum Zuge kommt oder nicht.16 Wir haben die Fähigkeit, uns am guten Willen zu orientieren, und wir haben die Macht, dieses Gut dadurch, dass wir uns so bestimmen, auch zu realisieren.

14. Der Überschuss der Glaubensfreiheit

Kant hat die Kerneinsicht der reformatorischen Glaubensfreiheit im Autonomiegedanken so aufgenommen, dass er nicht von Gott auf unsere Freiheit, sondern von unserer Freiheit her auf Gott hin argumentiert hat. Seine Argumentation stellt klar, was wir verlieren, wenn wir unsere Freiheit bestreiten oder leugnen: Wir werden damit uns selbst unverständlich und verstricken uns in Widersprüche. Wir haben die Macht, uns selbst zu bestimmen. Bestreiten wir das, dann belegen wir es, indem wir uns dazu bestimmen, uns nicht so zu bestimmen. Denn man muss es ja nicht bestreiten, sondern ist nur frei, es zu tun.

Dennoch hat Kants Sicht den Mangel, Freiheit zwar als anthropologisches Grundphänomen zu thematisieren, sie aber nicht als Gabe zu verstehen, die Gottes Freiheitsmacht am Ort des Menschen zum Zuge bringt. Der Gottesgedanke ist zwar unverzichtbar, um unsere Freiheit zu verstehen. Aber er verweist nur auf die Wirklichkeit unserer endlichen Freiheit, nicht auf die von Gottes un­endlicher Freiheit. Damit wird zwar unsere moralische Autonomie als Macht gedacht, das Gute, das sie will, auch zu realisieren, aber unser Handeln bleibt nach wie vor ambivalent, weil der Hiat zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir erzielen, bestehen bleibt. Die Macht, das Gute, das wir wollen, auch zustande zu bringen, haben wir nur in der Selbstbestimmung zur Orientierung am Guten, nicht im Leben und Handeln. Dort gilt weiterhin, dass Gu­ tes zu wollen nicht verhindert, dass Übles dabei herauskommt, und dass Übles zu wollen nicht ausschließt, dass es zu Gutem kommt.

Um mit Recht darauf hoffen zu können, dass es im Leben aufwärts geht, also Übles verhindert und Gutes realisiert wird, muss man auf der Basis der autonomen Selbstbestimmung zum Guten auf Gott setzen und den vernünftigen Willen haben, dass es Gott gibt und es möglich ist, dass im Leben Gutes aufgebaut und Übles abgebaut wird, also auch aus Üblem Gutes hervorgeht und Gutes nicht Übles nach sich zieht. Dafür aber genügt es nicht, mit Kant den Gottesgedanken für unverzichtbar zu halten, um unsere Autonomie zu verstehen. Man muss vielmehr die Wirklichkeit unserer endlichen Freiheit in Gottes unendliche Freiheit eingebettet verstehen, die sich nicht darauf beschränkt, Gutes zu wollen, sondern die auch die Macht hat, es zu realisieren, nicht nur in der eigenen Selbstbestimmung, sondern im gesamten Wirklichkeitsprozess. Gott ist nicht nur gut, weil er sich zum Guten bestimmt, sondern er ist gut, weil er gut macht – nicht nur sich selbst, wie das Kant im Autonomiegedanken für den Menschen durchdenkt, sondern die, die nicht gut sind, und das, was nicht gut ist, indem er aus Üblem Gutes, aus Tod Leben, aus Nichts Sein schafft. Genau das kann Kant nicht denken. Er bleibt bei der Wirklichkeit unserer endlichen Freiheit stehen und geht nicht zu Gottes unendlicher Freiheit weiter. Er beschränkt sich darauf, die Unverzichtbarkeit des Gottesgedankens aufzuzeigen, um vernünftig auf die Realisierung des höchsten Gutes hoffen zu können, aber er weist Gott keine aktive Rolle bei der Realisierung dieses Gutes zu.

Doch wer Gott minimiert, der muss die Vernunft maximieren, und wer das tut, macht sie meist größer als sie ist. Auch unsere Vernunft ist endlich und hat Grenzen, die sie kritisch beachten muss. Sie ist kein Selbstprodukt, sondern eingebettet in eine umfassendere Wirklichkeit, wie unsere Freiheit auch. Menschliche Freiheit wird nicht kleingeredet, sondern besser verstanden, wenn sie von der göttlichen Freiheit her gedacht wird. Sie ist nicht absolut, sondern Resonanz einer Wirklichkeit, der sie sich verdankt.

Es ist kein Zeichen der Mündigkeit, diese grundlegende Passivität zu bestreiten. Zur Mündigkeit gehört, sich selber nichts vorzumachen über das Vermögen der eigenen Kräfte. Menschen tendieren dazu, sich zu überschätzen. Doch wir sind nicht die Schöpfer unserer selbst, auch wenn wir nicht leben können, ohne uns selbst zu schaffen. Ohne da zu sein, können wir nichts tun, aber dass wir da sind, ist nicht das Ergebnis unseres eigenen Tuns. Nur weil wir wurden, können wir werden. All unsere Aktivität gründet in einer vorgängigen Passivität, ohne die nicht möglich wäre, was uns möglich ist. Wir tun gut daran, das nicht auszublenden, sondern unsere Aktivitäten von dieser grundlegenden Passivität her bestimmt sein zu lassen.

Um diese kreative Passivität geht es der Glaubensfreiheit. Sie erinnert an die Einbildung endlicher Freiheit in die Wirklichkeit unendlicher Freiheit, an die Einbettung menschlichen Lebens in das Leben Gottes. Darüber kann man trefflich streiten. Wir sind frei, uns auf eine größere Freiheit zu verlassen, indem wir anerkennen, dass wir anerkannt sind. Niemand muss das tun, jeder kann es tun. Aber ist das die Realität, dann kann keiner vermeiden, sich im Vollzug seines Lebens faktisch zu ihr zu verhalten – negativ, indem man sie ignoriert, obwohl man von ihr profitiert, oder positiv, indem man sich an ihr orientiert und seine endliche Freiheit im Vertrauen auf Gottes unendliche Freiheitsmacht vollzieht.

Ohne Freiheit kein vernünftiger Glaube an Gott, argumentierte Kant. Ohne Glaube keine wahre Freiheit, insistierte Luther. Beide sagen etwas Richtiges, gerade weil sie Verschiedenes unter Freiheit verstehen. Beides schließt sich nicht aus, aber nur, wenn man nicht bei Kant stehenbleibt, sondern Kant von Luther her versteht.

Alle Menschen streben nach dem, was sie für gut und gerecht halten. Wir sind selten einer Meinung, was das ist. Aber wir wissen aus Erfahrung: Es genügt nicht, es zu wissen, um es auch zu wollen, und es zu wollen, um es auch zu tun. Christen sind daher keine Träumer, sondern Realisten, wenn sie betonen: Es gibt nichts Gutes, es sei denn, Gott tut es. Das lässt viel Raum zum Streit um das Gute und Gerechte. Aber es entlastet auch davon, von den eigenen Freiheitsversuchen mehr zu erwarten, als man vernünftigerweise kann. Niemand kann darauf setzen, das Gute, nach dem man strebt, aus eigener Kraft tatsächlich auch zu erreichen. Zu vieles kann schiefgehen, und zu vieles geht schief. Aber – und das sagen Kant und Luther auf ihre verschiedenen Weisen – es gibt Grund zu hoffen. Man darf nur nicht sich selbst mit Gott verwechseln.

Abstract


Human freedom is finite freedom. It only exists by being practiced. But can we practice it? Can we be what we would be if we could practice it? And what does it mean to practice it? Kant described freedom as a necessary fiction of human life and existence and Luther insisted vis-à-vis Erasmus on the bondage of our will and the passive character of faith as incorporation into Christ. The essay examines what they meant by freedom and in what sense freedom is a human dream from which we cannot leave without failing to understand ourselves anymore.

Fussnoten:

1) Leicht überarbeitete Version der Antrittsvorlesung als Leibniz-Professor der Universität Leipzig im Wintersemester 2017/18 am 23. Oktober 2017.
2) I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 561, AA III, 363.
3) Ph. Melanchthon, Lucubratiuncula, Opera, CR 21, Sp. 11–48, hier Sp. 13 f.
4) G. W. Leibniz, Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, Dritter Teil, § 288, hrsg. u. übers. v. A. Buchenau, Hamburg 1996, 303.
5) J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Book I, Chap. III, Sec. 21: »Whatever idea was never perceived by the mind was never in the mind«; sowie Book II, Chap. I, Sec. 2: »Whence has it [the mind] all the materials of reason and knowledge? To this I answer, in one word, from EXPERIENCE.« Vgl. schon Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate, q. 2, a. 3, arg. 19: »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu.«
6) G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Buch II, Kapitel I, § 2, Philosophische Schriften, Bd. 3,1, hrsg. v. W. von Engelhardt/H. Holz, Frankfurt a. M. 1996, 100 f.
7) I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 799, AA III, 503.
8) I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 216–218, AA V, 120 f.
9) I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, A 257–260, AA V, 143.
10) A. Augustinus, Confessiones, Liber VII, cap. III: »[…] itaque cum aliquid vellem aut nollem, non alium quam me velle ac nolle certissimus eram, et ibi esse causam peccati mei iam iamque advertebam. quod autem invitus facerem, pati me potius quam facere videbam, et id non culpam, sed poenam esse iudicabam, qua me non iniuste plecti te iustum cogitans cito fatebar. sed rursus dicebam: quis fecit me? nonne deus meus, non tantum bonus, sed ipsum bonum? unde igitur mihi male velle et bene nolle? ut esset, cur iuste poenas luerem?« (http://faculty.georgetown.edu/jod/latinconf/7.html)
11) F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, Zweiter Theil: Auf den glückseligen Inseln: »Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein!« (www.nietzschesource.org/#eKGWB/Za-II-Inseln)
12) Vgl. J.-H. Tück, Herr über alles und allen untertan. Warum die Macht der Gnade die Freiheit des Menschen nicht überspielen kann, NZZ 1.10.2017.
13) M. Luther, De servo arbitrio, WA 18, 636–637, Übersetzung nach Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Band 1: Der Mensch vor Gott, hrsg. v. W. Härle, 293: »Denn die Kraft des freien Willensvermögens ist nichts und tut nichts und vermag nichts Gutes, wenn die Gnade fehlt. Es sei denn, du wolltest ›Wirksamkeit‹ eine neue Bedeutung verleihen und ›Vollkommenheit‹ nennen in dem Sinne, dass das freie Willensvermögen zwar anfangen und wollen könne, aber nicht vollenden. Das glaube ich jedoch nicht. […] Jetzt folgt, dass das freie Willensvermögen vollständig ein göttlicher Titel ist und niemandem zustehen kann als allein der göttlichen Majestät. Diese nämlich kann und tut (wie der Psalm singt) alles, ›was sie will im Himmel und auf Erden‹. Wenn dies den Menschen zugebilligt wird, könnte ihnen mit gleichem Recht auch die Göttlichkeit selbst zugebilligt werden. […] Es ist ein zu herrliches, zu weites und inhaltsreiches Wort: freies Willensvermögen. Das Volk glaubt, damit würde die Kraft bezeichnet […], die sich frei nach beiden Seiten wenden könne, und die Kraft, die niemandem weicht oder unterworfen ist. Wenn es wüsste, dass es sich anders verhält und kaum ein winziges Fünkchen damit bezeichnet wird und dass es, auf sich selbst gestellt, völlig unwirksam ist, ein Gefangener und Knecht des Teufels – was ein Wunder, wenn sie uns nicht steinigten.«
14) La Constitution du 24 juin 1793: Declaration des Droits de l’Homme et du Citoyen, Article 6: »La liberté est le pouvoir qui appartient à l’homme de faire tout ce qui ne nuit pas aux droits d’autrui : elle a pour principe la nature ; pour règle la justice ; pour sauvegarde la loi ; sa limite morale est dans cette maxime : Ne fais pas à un autre ce que tu ne veux pas qu’il te soit fait.«
15) I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A 1, AA IV, 393.
16) Wie Gottes Güte nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass es in der Welt Übel und Böses gibt, so ist die Güte des guten Willens nicht dadurch in Frage gestellt, dass er im Handeln nur manchmal und meist nicht zum Zuge kommt.