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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

98–100

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Raatz, Georg, Cordemann, Claas, u. Stephan Feldmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Luther im Spiegel liberaler Theologie. Luther-, Reformations- und Protestantismusdeutungen im 20. Jahrhundert. M. e. Einleitung v. G. Raatz.

Verlag:

Kamen: Hartmut Spenner Verlag 2017. VIII, 358 S. = Theologische Studien-Texte, 25. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-89991-183-1.


Martin Luther war ein mittelmäßig origineller spätmittelalterlicher Kirchenreformer. Wenn es ernst wurde, packte ihn die Angst vor der eigenen Courage, und er ließ wagemutigere vormalige Gefährten fallen wie heiße Kartoffeln. Dennoch löste er, begünstigt durch eine herausragende literarisch-polemische Begabung, in einer schicksalhaften Verkettung politisch-sozialer Umstände die Kirchenspaltung des 16. Jh.s aus. Das ist weithin der Tenor in den geschichtlichen Erinnerungen im Rahmen des Reformationsjubiläums des Jahres 2017. Will man diesem Bild Gegenwartsrelevanz zuschreiben, so wird auf Teilaspekte von Luthers Wirken verwiesen, die scheinbar oder tatsächlich mit gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Anliegen und moralpädagogischen Anstrengungen konvergieren. Die Geschichte früherer Reformationsjubiläen wird gern zu einer Reihe von Negativphänomenen skandalisiert (höchst nötige Differenzierungen bietet Dorothea Wendebourg, So viele Luthers …, Leipzig 2017): Immer wieder seien es (angebliche) mentale Deformationen wie Konfessionalismus oder Patriotismus gewesen, die sich im Feiern der Reformation ihrer selbst versicherten. Jetzt erst, nach 500 Jahren, feiere man richtig – in ökumenischer Gemeinschaft mit der katholischen Kirche und in selbstlosem Einsatz für alles Wahre, Schöne und Gute weltweit.
Wie unsinnig jener Anspruch ist, jetzt endlich erstmals Luther und die Reformation in einer Attitüde der reflektierten Distanzierung zu feiern, zeigen die hier versammelten Zeugnisse. Sie sind sehr geschickt ausgewählt. Das gilt inhaltlich, aber zunächst einmal auch formal: Sie sind nicht etwa aus Fetzen der Hauptwerke der Autoren zusammengestückelt, sondern die Herausgeber haben kleinere Texte (zwischen 20 und gut 30 Seiten) gewählt und bieten diese jeweils ungekürzt. Den Anfang macht Albrecht Ritschls Festrede zu Luthers 400. Geburtstag 1883. Es folgt aus Harnacks Dogmengeschichte das Zentralkapitel über deren Ausgang im Protes­tantismus – aber nicht in der Langfassung des Lehrbuchs, sondern aus dem kurzen, für die Studenten konzipierten Kompendium. Ernst Troeltsch ist mit dem Aufsatz über »Luther und die moderne Welt« (1908) vertreten. Karl Holls Reformationsfestrede »Was verstand Luther unter Religion?« (1917) ist abgedruckt nach ihrem kaum bekannten, lediglich rund 30 Seiten langen Erstdruck. Der Harnack- und der Holl-Text sind ganz außergewöhnliche Glücksgriffe: Auch wer die Langversionen kennt, wird noch einmal in besonderer Weise von der konzentrierten thetischen Wucht dieser Kondensate angesprochen. Von Paul Tillich wird der Aufsatz über den Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip reproduziert. Rudolf Otto hat ein Kapitel seines Frühwerks über Luthers Pneumatologie (1898) 1932 nochmals als Aufsatz drucken lassen, dieser kaum noch rezipierte Text wartet jetzt hier auf Leser. Emanuel Hirsch veröffentlichte 1936 eine implizit kritisch an Harnack orientierte Reihe von Vorlesungen über das Wesen des Christentums; aus ihr haben die Herausgeber die beiden Zentralkapitel über die Reformation sowie die Größe und die Grenzen des Altprotestantismus aufgenommen. Hans-Joachim Birkners Büchlein »Protestantismus im Wandel« (1971) dürfte nur noch den Freunden und Schülern des langjährigen spiritus rector der Schleiermacher-Forschung bekannt sein – dafür, dass sie aus diesem bei aller unprätentiösen Schlichtheit der bisweilen subtil-ironischen Diktion außergewöhnlich aspekt- und gedankenreichen Essay wichtige Teile abgedruckt haben, gebührt den Herausgebern besonderer Dank! In starkem Sachkontrast zu Birkner steht Falk Wagners Aufsatz (1992), der hochstufige geistphilosophische Überlegungen mit deftiger Polemik verbindet. Während er die Differenz von Alt- und Neuprotestantismus mit aller dogmatischen Schärfe urgiert, geht Trutz Rendtorff (1998) in eher zeit- und kulturdiagnostischer Attitüde der »Gleichzeitigkeit von Altprotestantismus und Neuprotes­tantismus« nach. – Eine Sonderstellung nimmt insofern der ab­schließende programmatische Aufsatz von Ulrich Barth (2004) ein, als in ihm die Positionen aller anderen Autoren des Bandes kritisch erörtert werden. In ihm begegnet der Leser also am Ende seines Durchgangs den Leitideen wieder, welche auch die von Georg Raatz verfasste umfängliche Einleitung bestimmen.
Ob man die Autoren unter der Richtungsbezeichnung »liberal« subsumieren kann, ist fraglich – zumindest Albrecht Ritschl, Karl Holl, Emanuel Hirsch und Paul Tillich hätten wohl temperamentvoll widersprochen. Und ein 1883 beginnendes 20. Jh. ist doch erstaunlich lang. Aber das ist nebensächlich. Wichtig ist vielmehr: Alle Texte vertreten in je ganz unterschiedlichen Akzentuierungen, d. h. mit je ganz verschiedenen geschichtshermeneutischen Prämissen und ideenpolitischen Absichten, den folgenden Grundgedanken: Martin Luthers Reformationsversuch und die durch ihn ausgelöste konfessionelle Ausdifferenzierung der lateineuropäischen Christenheit waren Geschichtsereignisse, die ihre Rechtfertigung in sich selbst trugen und denen gegenüber jede retrospektive, dogmatisch begründete Kritik ins Leere läuft. Es fehlt also die derzeit modische Mäkelei an den Protagonisten und den Gegnern der reformatorischen Bewegung, die vorsätzlich oder doch fahrlässig die »Kirchenspaltung« geschehen ließen und damit Leid und Unglück in die Welt gebracht hätten. Diese durchaus positive Haltung zur Reformation und ihrem Initiator ist jedoch verbunden mit der Einsicht, dass in und mit ihm zwar eine historische Bewegungsreihe ihren Ausgang nahm, aber dass die in seinem Wirken entstehende neue Variante abendländischen Christentums in seinem literarisch-theoretischen und organisatorisch-praktischen Werk nicht etwa ihre normative Endgestalt, sondern lediglich ihre erste, notwendig transitorische Anfangsgestalt gefunden hat. Un­beschadet dieses Generalvorbehalts bleiben zumal die Kirchenhis­toriker unter den Autoren hier noch nicht stehen: Sie werten gerade diese geschichtliche Distanz als die notwendige Voraussetzung dafür, dass es ihnen und ihren Zeitgenossen möglich sei, bestimmte potentiell auch in der Gegenwart wirkmächtige innovative Facetten von Luthers Denken gebührend wahrzunehmen, die bislang noch nicht abgegolten sind, weil sie älteren Generationen aufgrund ihrer andersartigen Erkenntnisbedingungen verborgen bleiben mussten. Dieser zugleich positiven und nüchtern-distanzierten Sicht der Reformation, die ohne Kitsch und Sentimentalitäten auskommt und auch Fragwürdigkeiten und Un­zulänglichkeiten klar zu benennen weiß, entspricht eine Selbstsicht des je gegenwärtigen Protestantismus, gemäß derer dieser sich immer noch auf dem Wege zu sich selbst befindet.
Protestant sein heißt, so der gemeinsame Grundtenor: auf einer Dauerbaustelle leben und arbeiten, und zwar ohne realistische Aussicht auf einen Fertigstellungstermin. Liest man die Texte aus heutiger Perspektive im Zusammenhang, so fällt eine Gemeinsamkeit ins Auge: Sie würdigen die Reformation als den Ausgang der christlichen Religion aus dem Mittelalter in die Neuzeit hinein. Dass sich die neuartige Variante christlicher Religion im unausgesetzten Wettbewerbsdialog mit der keineswegs einfach im Mittelalter zurückbleibenden, sondern sich eindrucksvoll erneuernden und ihrerseits eine Spielart neuzeitlichen Christentums ausprägenden Papstkirche herausbildete und gerade in diesem Gegenüber ihre theoretische und praktische Gestalt ausprägte, wird eher an den Rand geschoben. Dem entspricht, dass als kritische Bezugsgrößen eines reflexiven Neuprotestantismus zwar einerseits der Altprotestantismus bzw. die unterschiedlichen Versuche zu dessen Wiederbelebung und anderseits eine nachchristlich sich gerierende Moderne figurieren, der moderne Katholizismus aber als alternative, scharf konkurrierende Möglichkeit neuzeitlichen Christentums allenfalls am Rande in den Blick kommt. Wenn ich recht sehe, dann war es unter den hier zu Wort kommenden Autoren allein Emanuel Hirsch, der hierauf eingegangen ist, allerdings erst, be­ginnend mit seinem »Wesen des reformatorischen Christentums« (1963), in seinem hier nicht dokumentierten umfangreichen Al­terswerk. Und insofern ist es bedauerlich, dass Eilert Herms nicht einbezogen worden ist (s. Raatz’ kurze Bemerkung, 10): Er hat ja schon relativ frühzeitig auf dieses Wahrnehmungs- und Orientierungsdefizit hingewiesen und, anders als die hier zu Wort kommenden Zeitgenossen, bei der notwendigen Reaktion auf die Zu­dringlichkeiten des papstkirchlichen Unitatis-Redintegratio-Ökumenismus das Feld und die Stimmführerschaft nicht ganz anders gerichteten Kräften überlassen.
Den Herausgebern und dem Verlag ist zu danken für ihre Präsentation einer ganz vorzüglichen Zusammenstellung von Texten, die sich in vielen Seminaren bewähren wird.
Beim Neusatz in Antiqua haben sich einige unschöne Druckfehler und die heutzutage anscheinend unvermeidlichen verunglückten Silbentrennungen eingeschlichen. Auf jegliche Kommentierung ist verzichtet – zumindest bei den Texten von Tillich und Otto mit ihren sehr eigenwillig gestalteten Fußnoten-Apparaten wären Lesehilfen sicherlich nützlich gewesen –, was »oc. comm. ed. Kolde« (211, Anm. 27) heißen soll, wird sich wohl nicht jedem studentischen Leser sogleich erschließen.
Aber die Herausgeber und der Verleger haben noch mehr geschaffen als eine Textsammlung für Seminare: ein intellektuelles Erbauungsbuch für Protestanten, die spätestens jetzt, am Ende der »Reformationsdekade«, der Vereinnahmung Luthers für die Zeitgeistparolen der political correctness ebenso überdrüssig sind wie der Kehrseite dieser unredlichen Lobeshymnen, des ritualisierten Gejammers über die Kirchenspaltung und der affektierten Empörung darüber, dass Martin Luther wie jeder geschichtliche Mensch weithin die Ideale und Irrtümer seiner Zeit teilte.

Wuppertal Martin Ohst