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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

143–145

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Liedke, Ulf, Wagner, Harald, u. a.

Titel/Untertitel:

Inklusion. Lehr- und Arbeitsbuch für professionelles Handeln in Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 218 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-030393-5.

Rezensent:

Ulrike Witten

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kammeyer, Katharina, Roebben, Bert, u. Britta Baumert[Hrsg.]: Zu Wort kommen. Narration als Zugang zum Thema Inklusion. Hrsg. unter Mitarbeit v. V. Burggraf u. K. Hanneken. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 189 S. m. 16 Abb. = Behinderung – Theologie – Kirche, 9. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-17-028909-3.


Die zu besprechenden Veröffentlichungen stammen aus dem sich auch in Diakoniewissenschaft und Religionspädagogik stetig ausdifferenzierenden Inklusionsdiskurs. Es handelt sich um zwei Sammelbände, die von Wissenschaftlern verantwortet werden, die sich schon länger mit dem Inklusionsdiskurs befassen. Das von Ulf Liedke und Harald Wagner verantwortete Lehr- und Arbeitsbuch ist im Umfeld der Evangelischen Hochschule Dresden entstanden, entsprechend wird im Kontext von Diakoniewissenschaft und Sozialer Arbeit reflektiert. Ausgangspunkt ist die Diagnose, dass Inklusion zwar ein relativ neuer Begriff ist, die Rezeption sich inzwischen aber enorm dynamisiert hat, so dass es schwerfällt, den Überblick zu wahren. Das Lehr- und Arbeitsbuch will zu Erweiterung und Dif-ferenzierung des Fachdiskurses Inklusion beitragen. Es sollen ein weiter Inklusionsbegriff grundgelegt, die in Beziehung stehenden Theoriemodelle erläutert und eine Praxistheorie entwickelt werden. Dazu werden Perspektiven auf Inklusion aus naheliegenden Disziplinen dargelegt und »Spezifika einer inkludierenden Praxis mit unterschiedlichen marginalisierten Personengruppen« (7) thema-tisiert. Dies beinhaltet auch Klärungen aus theologischer Perspek-tive.
Namhafte Vertreter stellen verschiedene Perspektiven auf In­klusion dar. Überzeugend ist der stringente Aufbau. Alle Beiträge sind durch die Gliederung in Theoriegrundlagen, Praxistheorie und Anregungen zur Weiterarbeit mit Literaturhinweisen für die Leserinnen und Leser sehr gut nachvollziehbar aufbereitet und ermöglichen die eigene Vertiefung. Die Theoriegrundlagen zeichnen sich dadurch aus, dass knapp aber differenziert zentrale As-pekte der jeweiligen Zugänge aufgezeigt werden. Die Praxistheorie leistet einen kritischen Übertrag zur Handlungsorientierung. Die Anregungen markieren offene Fragen und Handlungsfelder.
Erhellend ist die Darstellung unterschiedlicher Inklusionsdiskurse, die nicht in einer Synthese zusammengeführt werden sollen, sondern zur differenzierten Wahrnehmung dienen und auf ihr theoretisches Anregungspotenzial hin befragt werden.
Die theoretische Weitung des Diskurses über Behinderung und gemeinsames Lernen hinaus ist ertragreich; aufgezeigt wird, wie komplex die Auseinandersetzung mit Inklusion gedacht werden muss. Liedke und Wagner verstehen explizite Inklusion als Operationen, »durch die Personen in einer solchen Weise adressiert und eingeschlossen werden, dass sie in ihrer Individualität anerkannt sind und uneingeschränkt an den gesellschaftlichen Kommunikationsformen teilhaben« (29), wobei die Interdependenzen zwischen einzelnen Systemen und die Formen der Anerkennung zu bedenken sind. Abschließend wird dies in einem Modell zur inkludierenden Kommunikation gebündelt, das zwischen Dimensionen und Ebenen von Inklusion differenziert. Für die Theologie formuliert Liedke als Kerngedanken, dass Gott in seiner Vielfalt die Menschen in seine Vielfalt aufnimmt und damit dazu inspiriert, andere in ihrer Individualität anzuerkennen. Da als Bezugspunkt für das Engagement die Kirche gesehen wird, bleibt die theologische Klärung christlich verortet.
Dass inklusionspädagogische theoretische Grundlagen, wie z. B. Annedore Prengels Pädagogik der Vielfalt, die die Anerkennungstheorie Axel Honneths prominent aufgreift, keine Erwähnung finden, verwundert, zumal Liedke und Wagner problematisieren, dass die Anerkennungstheorie »ansonsten eher nicht oder nur am Rande der Diskussion auftaucht« (23) – ein Befund, der sich gegenwärtig gewandelt hat.
Erfreulich ist am Arbeitsbuch, dass es nicht nur Theorie und Praxis darstellt, sondern die Lesenden zur Selbstreflexion im Blick auf ihr inklusives Denken und Handeln herausgefordert werden. Ein eigenes Urteil müssen sich die Lesenden auch hinsichtlich des nicht immer konsistenten Inklusionsbegriffs sowie widersprüchlicher Deutungen bilden. Ein Resümee, das bündelt und offene Fragen formuliert – auch in Form der Fragen und Aufgaben, die sonst die Beiträge abschließen, z. B. nach der interreligiösen Perspektive oder dem Dialog zwischen theologischer und menschenrechtlicher Grundlegung von Inklusion –, wäre hilfreich gewesen.
Der im Kontext von evangelischer und katholischer Religionspädagogik stehende Band Zu Wort kommen präsentiert die Er­gebnisse einer Tagung, die die Gestaltung von Inklusion als Narration thematisierte sowie den Abschluss eines Forschungsprojekts zur religiösen Bildung in einer diversitätssensiblen Schulkultur.
Ge­bündelt werden theoretische Perspektiven, reflektierte Praxis sowie Erzählungen in pädagogischer und jugendlicher Perspek-tive.
Theoretischer Ausgangspunkt ist die These, dass menschliche Wahrnehmung durch Erzählungen strukturiert ist und dass In­klusion als eine große Erzählung verstanden werden kann. In dieser Erzählung geht es um die Gestaltung eines gemeinsamen Lebens und das Recht auf Teilhabe. Religion und religiöse Bildung können inklusive Prozesse unterstützen, da »religiöse Bekenntnisse und religiöse Praxis« sich in Vielfalt darstellen und daher »zum Dialog« auffordern (7). Erzählungen werden dabei so verstanden, dass sie eine lebensdienliche Ordnung stiften, strukturieren und dem Erlebten Sinn geben. Um die Logiken der Narrative und das Verständnis von Vielfalt zu prüfen, wird daneben der Diskurs mit seiner reflexiv-argumentativen Kraft gestellt. Damit soll dem Defizit, dass Inklusion aus Perspektive Dritter gedacht wird und die persönlichen Erfahrungen von Menschen in ihrer Vielfalt überhört werden, Rechnung getragen werden und das utopische Potenzial von Inklusion in der Narration sich widerspiegeln. Der beitragende Autor Bernhard Grümme wirft kritisch ein, dass Narrative zwar Identität stiften, aber sowohl überkommene Stereotype als auch Pluralität, Alterität und Heterogenität stützen. Dieser Hinweis hätte im Band vertiefter aufgegriffen werden können, indem z. B. kritisch durchleuchtet würde, welche Narrationen mit geformten kulturellen Mustern sich als schwierig für Inklusion erweisen.
Die theoretische Durchdringung verdeutlicht das Potenzial der Bestimmung von Inklusion als Narration, die handlungsorientierten Beiträge zeigen Wege auf, wie man das fruchtbar machen kann, schöpfen das in der Theorie entwickelte Potenzial aber nicht gänzlich aus.
Beide Bände weiten die Perspektiven auf Inklusion, es gelingt aber nicht in allen Aufsätzen konsequent, diese weite Perspektive aufrechtzuerhalten. Die Bände stellen wichtige Beiträge zur Theoriebildung für Inklusion innerhalb der bearbeiteten Felder dar, dabei ist aber der Bedarf an Theoriebildung, z. B. hinsichtlich der genutzten Begriffe (Diversität, Heterogenität, Pluralität) oder hinsichtlich der enthaltenen Widersprüche zwischen mit Inklusion verbundenen Anliegen, noch nicht gedeckt.
Die Lektüre beider Bände sei dem an Inklusion interessierten Leser nachdrücklich empfohlen. Sie ermöglichen einen guten Einblick in die dynamische Auseinandersetzung mit Inklusion, es sind zahlreiche Anregungen zu finden, eine geschlossene Konzeption zur Bedeutung von Inklusion in den benannten Kontexten jedoch noch nicht.