Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

141–143

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Garth, Alexander

Titel/Untertitel:

Gottloser Westen? Chancen für Glauben und Kirche in einer entchristlichten Welt.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 219 S. Kart. EUR 15,00. ISBN 978-3-374-05026-0.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Garth hat als Pfarrer alternative Gemeinden gegründet, 15 Jahre die »Junge Kirche« im extrem säkularisierten Berlin-Hellersdorf geleitet, und arbeitet gegenwärtig in der Stadtkirchengemeinde von Wittenberg. Außerdem verfügt er über reiche weltweite ökume-nische Beziehungen. Als theologisch gebildeter und sozialwissenschaftlich informierter Praktiker dringt er darauf, dass die Kirche ihr enormes Potenzial wirksamer nutzt, indem »sie in der Kraft des Gottesgeistes zu den Menschen aufbricht, um ihnen mit dem al­lerheiligsten Evangelium in Wort und Tat zu dienen« (207). Dabei geht er davon aus, dass die Säkularisierungsthese überholt ist und Religion weltweit boomt, während Europa eine säkularisierte
In­sel im religiösen Meer bildet. Das Pendel schlage aber auch in Europa von der destruktiven Leitidee des Atheismus zurück zur Religion. Der atheistische Materialismus der säkularen Moderne könne unsere komplexe Welt philosophisch nicht angemessen beschreiben. Die totale Diesseitsfixierung schuf eine spirituelle Leere, die weltweit als defizitär empfunden wird. Religion erweist sich als Motor notwendiger sozialer Transformationen, womit das enorme Wachstum der Pfingstkirchen zusammenhängt. Migrantenkirchen beleben das träge europäische Christentum. Die Kehrseite, vor allem den fundamentalistischen Umgang mit der Bibel, deutet G. nur an.
Die Dechristianisierung Deutschlands und Europas erklärt G. einleuchtend als Ergebnis des Zusammenspiels vieler Faktoren. Vor allem handle es sich um eine Krise des über Jahrhunderte erfolgreichen konstantinischen Kirchenmodells. Weitere Gründe sind die Säkularisierung des Wissenschaftsbegriffs mit dem Verlust der Metaphysik, die Reduzierung des christlichen Glaubens auf einen religiösen Humanismus und die damit vollzogene »Selbstsäkularisierung« der Kirche, wie mehrfach mit W. Huber dargelegt wird. Auf dem spirituellen Markt hat der Profilverlust desaströse Folgen. Wichtiger als die negativen Faktoren, die bekannt sind und im Detail diskutiert werden können, sind die positiven Möglichkeiten. »Spiritualität gehört konstitutiv zum Menschsein.« (82)
G. versteht die Gegenwart als Postmoderne, für die der Zugang zu Wahrheitsfragen subjektiv, pragmatisch und emotional ist. Wissenschaft und Mystik bilden keine Gegensätze. Zweimal zitiert G. zustimmend Rahners Wort, der Christ der Zukunft sei Mystiker oder sei nicht. Ob christliche Mystik mit postmoderner Spiritua-lität kompatibel ist, muss man allerdings fragen, wenn man mit I. Karle feststellt, dass Letztere »kaum Interesse an religiösen Inhalten« hat (88).
G. nimmt Steve Jobs als Beispiel dafür, dass man Produkte erfinden kann, von denen die Menschen nicht wussten, dass sie diese brauchen. Er stellt sich die Frage: »Wie kommt ein absolut im Diesseits verankerter, an der Gottesfrage nicht interessierter Mensch dazu, nach Gott zu fragen?« Fünf Zugangswege, die sich im günstigen Fall gegenseitig ergänzen und verstärken, erläutert G.: die Sinnfrage, Beziehungen zu gläubigen Menschen, spirituelle Erfahrungen, Gemeinschaft mit anderen, Beteiligung an Diakonie. Auf diesen Wegen kann sich die Wirklichkeit Gottes einzelnen Menschen erschließen, deren Lebensgefühl von der postmodernen Individualisierung geprägt ist.
Zugleich geht es G. um den Aufbruch der Kirche zu missionarischer Ausstrahlung. Von Walt Disney lernt er, dass der Umgang mit einer Herausforderung Visionäre, Realisten und Kritiker er­fordert, die in einem kreativen Prozess kooperieren. Er beschreibt drei Phasen, die von den innovativen Ideen über die konkreten Handlungen zur Auswertung und Ergebnissicherung führen. Für einen Aufbruch in die Zukunft braucht die Kirche die Rückkehr zum Eigentlichen. Für Luther war das nicht die Ethik, sondern die Gottesfrage. »Was die Kirche zukünftig wirklich attraktiv macht, sind nicht neue Programme, sondern die erfahrbare Gegenwart Gottes und die vom Evangelium geformte Gemeinschaft der Glaubenden.« (138) Damit geht es primär um spirituelle Desiderate.
G. dringt aber auch auf strukturelle Reformen. Zum Beispiel schlägt er vor, 10 % der Haushaltseinnahmen für missionarische Projekte zu investieren! Die Großkirchen dürfen nicht weiter agieren »wie eine sozialistische Planwirtschaft: uneffektiv, schwerfällig, unflexibel, zentralistisch, ideologisch, wenig kundenorientiert, dafür aber institutionszentriert« (163). Die Verwaltung ist zu reduzieren, die Basis in Gestalt der Gemeinden zu stärken. Die staatsanaloge Leitung von oben nach unten ist umzukehren. Das Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu, 500 Jahre nach Luther die Reformation als aktuelle Aufgabe und Chance zu erkennen. Bei aller Kritik dominiert die Hoffnung, dass die evangelische Kirche in Deutschland reformierbar ist.