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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

140–141

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dürr, Walter, u. Ralph Kunz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gottes Kirche re-imaginieren. Reflexionen über die Kirche und ihre Sendung im 21. Jahrhundert.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2016. 210 S. = Glaube und Gesellschaft, 3; Studia Oecumenica Fribourgensia, 76. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-402-12016-3.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Der Titel des Buches ist gut gewählt: Statt religionssoziologischer Analysen oder kirchentheoretischer Strukturüberlegungen liegt hier ein Band zur Zukunft der Kirche vor, der theologisch ansetzt. Entsprechend wird keine zukunftsfähige, ansprechende und/oder finanziell realistische Gestalt der Kirche entworfen, sondern über ihre grundlegende Ausrichtung theologisch nachgedacht. Die daraus erwachsenden Konsequenzen für die Gestalt und die Ausrichtung der Kirche werden überwiegend auf der Ebene von Kriterien formuliert, denen das Nachdenken über die Kirche der Zukunft folgen sollte. Dies geschieht allerdings mit unterschiedlichen Ansätzen und in unterschiedlicher Ausrichtung, wobei manches be­kannter ist und anderes neu gedacht wird.
Die Beiträge sind überwiegend als Vorträge im Rahmen der Studientage »Re-Imagening the Church in the 21st Century« gehalten worden, die 2016 in Fribourg mit einem breiten Publikum stattfanden. Entsprechend zielen sie auf den Schweizer Kontext, von dem jedoch vieles auf deutsche Verhältnisse übertragbar ist. Dass der Vortragsstil überwiegend beibehalten wurde, macht die Beiträge frisch und ansprechend und lässt gleichzeitig an der einen oder anderen Stelle den Wunsch nach etwas mehr theoretischer Vertiefung aufkommen. Auch die Reihenfolge der Vorträge wurde in der Publikation beibehalten, während hier stärker nach inhaltlichen Linien und Schwerpunktsetzungen gefragt werden soll.
Eine von diesen ist – nicht überraschend – durch das Stichwort »Mission« charakterisiert. Dieser wird von Michael Herbst ausgeführt zum einen im Rückgriff auf reformatorische Einsichten, zum anderen in einem Plädoyer für den »Mut zur Unordnung« (32) in der Kirchenentwicklung mit unterschiedlichen traditionellen und neuen Formen von Gemeinde. Auch die von Sabrina Müller thematisierten »Fresh Expressions of Church« in der anglikanischen Kirche möchten Menschen mit dem Evangelium erreichen, die in den bisherigen Strukturen nicht angesprochen wurden. Getreu dem Charakter des Buches identifiziert sie »atmosphärische Bedingungen für kirchliche Erneuerung« (92) in der anglikanischen Kirche, aus denen sich lernen lässt, wie beispielsweise die kirchenleitende Er­laubnis für neue Wege, Fehlerfreundlichkeit, Mut zum Kleinen, Empowerment als Grundhaltung der Wertschätzung oder eine »re­lationale Ekklesiologie« (97). Mission ist nach Überzeugung von Matthias Zeindler aber auch und gerade in der Volkskirche nötig, jedoch ohne zu einer »Bekenntniskirche« mit klaren Konturen zu werden oder »Kriterien für ›wahres‹ oder ›falsches‹ Christsein« aufzustellen. Er plädiert im Gegenteil für eine Vielfältigkeit der Mis-sion, für ihren fragenden und hörenden Charakter, für ihre gesellschaftskritische Dimension im mutigen Sprechen von Gott und der Freude am Evangelium.
Einen Neuansatz hingegen wagt Ralph Kunz mit seinen Überlegungen zu einer neuen »Matyretik«, indem er die »Glaubwürdigkeit« und die »Wahrhaftigkeit des Zeugnisses« (43) der Institution Kirche kritisch anfragt. Anhand des erschütternden Kinofilmes »Calvary« zeigt er, dass die »Schuldgeschichte der Kirche« (55) anzusehen und zu Gehör zu bringen ist, jedoch nicht in einem »masochistischen Messianismus« (55), sondern im Vertrauen auf die »Ge­meinschaft der Heiligen« (54) und dem Leben von Umkehr, der Predigt der Versöhnung und dem Lob Gottes. Er stellt dem in einem zweiten Beitrag eine »kritische Evangelistik« gegenüber, mit der die wissenschaftliche Theologie sich konstruktiver und kritischer als bisher den evangelistisch-missionarischen Bemühungen der kirchlichen Praxis widmen sollte.
Auch Graham Tomlin, Bischof von Kensington (London), wählt einen ungewohnten Ansatz, wenn er das »Warum« als Wurzel und Ausgangspunkt kirchenreformerischer Überlegungen ansieht und dies in dem Erwählungsgedanken festmacht. Daraus folgt als Konsequenz die Aufforderung »Forget Survival« (140) ebenso, wie die Freude des Evangeliums in den Vordergrund zu stellen und sich an der Vision des »Kingdom of God« (142) zu orientieren.
Drei historische Beiträge spielen schließlich strukturelle Parallelen der gegenwärtigen Situation aus anderen kirchengeschichtlichen Epochen ein. Gregor Emmenegger skizziert die Suche der Kirche nach einer gelingenden Balance zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und Wahrhaftigkeit im 4. Jh., dem Übergang von einer verfolgten religiösen Gemeinschaft zur Staatsreligion. Joachim Nagel stellt die Wüstenväter als »Urbild menschlicher Existenz« (101) zwischen der »Einsamkeit seiner selbst« (103) und Gemeinschaftsorientierung dar und kommt von diesem mönchischen Mo­dell als »Archetyp der Seele« (110) zu neuen monastischen Formen in der Gegenwart als einem »kulturstiftenden Beitrag« (117). Frère Richard aus Taizé schließlich zeichnet ein Bild der Entstehung der Kirche nach der Apostelgeschichte und endet bei einer sich in Apg 2,12 und 2,37 zeigenden »fruchtbare[n] Ratlosigkeit« (172), die auch der heutigen Kirche guttut.
Die Beiträge sind überwiegend anregend und machen an der einen oder anderen Stelle in der Tat nachdenklich. Gelegentlich wünscht man sich allerdings doch ein wenig mehr Konkretion oder zumindest eine klarere Differenzsetzung zur kirchlichen Gegenwart, denn etliche der genannten Kriterien entsprechen konsens-fähigen Zielen in den Kirchen. Hier wäre dann vielleicht eher die Frage, was daran hindert, dass diese die Gestalt der Kirche prägen – aber das wäre sicher dann ein anderes Buch.