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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

138–140

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Boehme, Katja, u. Thomas Herkert[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

… lauter Sprungbretter in die Ekstase. Alltagsspiritualität nach Madeleine Delbrêl.

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2015. 184 S. Kart. EUR 16,90. ISBN 978-3-429-03855-7.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Das Buch dokumentiert neben Texten von Madeleine Delbrêl (1904– 1964) vor allem die Beiträge einer Tagung, die anlässlich ihres
50. Todestages in Kooperation zwischen der Katholischen Akademie in Freiburg i. Br. und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg im September 2014 stattfand. Die beiden Herausgeber sind Kenner der französischen Mystik. Katja Boehme hat sich mit dem Leben und Werk von Madeleine Delbrêl wissenschaftlich intensiv auseinandergesetzt, ist aber in der evangelischen Theologie kaum bekannt. Im weiteren Sinne gehört sie zur Aufbruchsbewegung des französischen Katholizismus nach dem Zweiten Weltkrieg, der vor allem durch die Arbeiterpriester bekannt geworden ist und als Vorgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils zu gelten hat. Neben der bereits ge­nannten Mystikerin gehört in diesen Zusammenhang auch Charles de Foucauld (1858–1916), der, in der algerischen Sahara als Märtyrer gestorben, ein wichtiger geistlich-mystischer Impulsgeber des modernen französischen Katholizismus war. Dieser stand viel früher als der deutsche Katholizismus vor der Herausforderung, angesichts eines betont laizistischen Staates, eines machtvollen atheistischen Kommunismus und eines um sich greifenden Sä­kularismus christliche Antworten zu finden. Dabei kam es zu Aufbrüchen und Erkenntnissen, die in die katholische Kirche weltweit ausstrahlten.
Das Buch macht deutlich: Delbrêl, von Beruf Sozialarbeiterin, wurde durch ihr Lebenszeugnis verbunden mit ihren theoretischen Überlegungen zu einer Mutter des Zweiten Vatikanischen Konzils. In Ivry, einer Arbeiter-Vorstadt von Paris, lebte sie jahrelang als Leiterin einer katholischen Sozialstation mit einer Reihe von Frauen Seite an Seite mit den Armen ohne Berührungsängste gegenüber Marxisten, die in Ivry politisch den Ton angaben. Die verschiedenen Beiträge des Buches zeigen das besondere Profil des Engagements von Madeleine Delbrêl: Für sie war – gut reformatorisch – der entscheidende Ort des Christseins der Alltag. Darin gilt es, den Mehrwert des Evangeliums, »die Kraft der Auferstehung« zur Darstellung zu bringen. Dabei bemühte sich Delbrêl, einen solidarischen und einen kontemplativen Lebensstil miteinander zu verbinden, ein Leben »in der Spannung zwischen solidaire und solitaire« zu führen: »Gott hingegeben und solidarisch mit den Menschen«, wie der Freiburger Weihbischof Michael Gerber in seinem Grußwort schreibt.
Das Buch beginnt mit einer kurzen biographischen Orien-tierung zu Madeleine Delbrêl. Zwei Beiträge des Fundamental-theologen Michael Quisinsky (Fribourg), »Die Welt sinnlos ohne Gott?« (Teil 1 und 2), bilden qualitativ und quantitativ das Zen-trum der Veröffentlichung. Sie ermöglichen aus kirchengeschichtlicher und politischer Perspektive einen Einblick in die kirchlichen und ge­sellschaftlichen Konstitutionsbedingungen des Wirkens von Delbrêl. Dabei werden Impulse herausgearbeitet, die ihr Le­ben und Werk der weiteren Säkularisierung der westlichen Ge­sellschaft entgegenzusetzen vermögen. Der Artikel des Innsbrucker Pastoraltheologen Christian Bauer interpretiert Delbrêl als Konzilsmutter. Dass die Lebensweise der französischen Arbeiterpriester bis heute Nachahmer findet, zeigen zwei Beiträge von Ma­ria Jan-Wenstrup und Albert Koolen. Der Artikel der Caritasmitarbeiterin Dorothee Steiof fragt nach der möglichen Gestaltwerdung diakonischer Spiritualität von Sozialarbeiterinnen heute. Die Theologin Katja Boehme hört Delbrêl auf Einsichten ab, wie in einer von einem zunehmenden religiösen Pluralismus geprägten Gesellschaft Verständnis zwischen den unterschiedlichen religiösen Gruppen wachsen kann. Die Theologin Ilona Biendarra schließlich interpretiert das »Spirituelle Testament« von Madeleine Delbrêl und fragt dabei nach Hinweisen für ein geistliches Leben heute.
Das Buch ist deswegen so interessant, weil es die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation gegenüber den 1930er Jahren noch ungleich drängender gewordene Frage zu beantworten sucht, wie in einer säkularen Gesellschaft das Evangelium erfolgreich verkündigt werden kann. Delbrêl ging vom universalen Heilswillen Gottes als Grunddogma aus (93). Schlüsselworte der Mission waren für sie Präsenz, Zeugnis und Glaubwürdigkeit (104). Sie verstand Christsein bereits vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil als Dialog; d. h. Mission darf nicht als Einbahnstraße aufgefasst werden (96)! Inkulturation des Evangeliums ist nicht ohne das vorangehende Neulernen des eigenen Glaubens zu haben (67). Dabei scheute Delbrêl sich nicht, verstörenden Wahrheiten ins Auge zu schauen: Auch eine Welt ohne Gott muss nicht sinnlos sein (71).
Selbst wenn manche Aussagen Delbrêls für evangelische Ohren merkwürdig anmuten – z. B. wenn sie meint, dass der Bischof »das Ge­hirn« der Kirche sei (161) –, erweisen sich doch viele Einsichten als erstaunlich aktuell. Ihre mystisch orientierte politische Spiritualität zeichnet sich durch »Begeisterung für das Alltägliche« aus (so Christian Möller im Hinblick auf reformatorische Frömmigkeit). Darum kann sie im Hinblick auf das alltägliche Erleben formulieren: »Lauter Sprungbretter in die Ekstase« (9). Nicht zuletzt um der ökumenischen Rezeption von Delbrêl willen wäre es sinnvoll gewesen, wenn auch eine evangelische Perspektive in diesem Band zu Wort gekommen wäre.