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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

137–138

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Böckel, Holger

Titel/Untertitel:

Führen und Leiten. Dimensionen eines evangelischen Führungsverständnisses. Ein Handbuch.

Verlag:

Berlin: EB-Verlag 2014. 787 S. m. Abb. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-86893-157-0.

Rezensent:

Jan Hermelink

Die Finanz- und Strukturkrisen der evangelischen Großkirchen bescheren der theologischen Diskussion zu den Leitungsaufgaben, -formen und -akteuren in Gemeinden und anderen kirchlichen Institutionen, also zur Kybernetik, seit mehr als zwanzig Jahren eine anhaltende Konjunktur – und zwar auf theoretischer Ebene wie in einer Fülle von Programmschriften und Rezeptbüchern. Im Kontext dieser Debatte hat Holger Böckel ein umfangreiches »Handbuch« vorgelegt, das auf eine Wuppertaler praktisch-theologische Habilitationsschrift (2013/14) zurückgeht. Dass es hier erst jetzt besprochen wird, hat ausschließlich der Rez. zu verantworten.
Das Werk akzentuiert ein vor allem an H. Willkes Systemtheorie und am sog. St. Galler Management-Modell orientiertes Führungsverständnis, und es untersucht in dieser Perspektive die kirchlichen Institutionen, die gegenwärtig Fortbildung im Bereich »Leiten und Führen« betreiben. Die Darlegungen zielen auf ein »integriertes Führungsverständnis«, das beansprucht, die vorliegenden Ansätze in der Managementlehre wie im kirchlichen Leitungshandeln kohärent zu verbinden und anwendungsorientiert zu vertiefen. So ist der Adressatenkreis denkbar weit gefasst: »haupt- und ehrenamtlich Tätige mit Leitungsverantwortung in ganz un­terschiedlichen Funktionen und auf unterschiedlicher Ebene – [...] Mitarbeitende in Gemeinden ebenso wie [...] Personen in einem geistlichen Amt, [...] Mitglieder in Gremien ebenso wie Geschäftsführende in diakonischen Unternehmen« (23). Die wissenschaftliche Debatte ist offenbar weniger im Blick.
Ein Grundlagenkapitel (37–141) skizziert zunächst die systemtheoretische Führungstheorie. Führung wird hier als »das durch (Selbst-)Beobachtung thematisierte Interventionsgeschehen einzelner oder kollektiver Akteure im Rahmen der Selbststeuerungsaktivität einer Organisation« begriffen (63) – zugleich jedoch
werden intervenierender Akteur und Organisation als zwei verschiedene, strukturell gekoppelte Systeme begriffen, so dass Führungs-Interventionen eigentlich nur »Variation von Entscheidungsprämissen« oder »Irritation« bestehender Konstellationen sein können (64). Hier zeigen sich erste begriffliche Unklarheiten. Im Anschluss an H. Willke werden fünf »Führungsdimensionen« sowie die Querschnittsfrage nach den »Führungsressourcen« un­terschieden (66 ff.); das entsprechende grafische Schema wird im Folgenden wieder und wieder genutzt.
Eine zweite, kirchentheoretische Grundlegung ergänzt die gängige Unterscheidung von Kirche als Organisation, Gemeinschaft und Institution durch die Perspektive des Netzwerks und plädiert sodann dafür, dies alles im Rahmen der Kirche als »Organisation im weiteren Sinne« zu begreifen (85 ff.). Auf diese Weise kann der Organisationsbegriff sowohl auf der »sozialwissenschaftlich-systemtheoretischen« wie auf der »betriebswirtschaftlich-führungstheoretischen« Ebene verortet werden (125 ff.). Das macht die folgenden Darlegungen immer wieder recht unübersichtlich. Den beiden genannten Ebenen wird zudem eine »theologisch-ekklesiologische Ebene« vorgeschaltet (124); in dieser Hinsicht bleibt die Darstellung– auch in den weiteren Kapiteln – allerdings sehr knapp. Im Folgenden tritt die betriebswirtschaftliche Betrachtung kirchlicher Vollzüge immer mehr in den Vordergrund – und leider wird kaum einmal gefragt, inwiefern die entsprechenden Beobachtungen sich auch auf die sozialwissenschaftlichen und theologischen Sichtweisen von »Kirche« auswirken.
Die folgenden Kapitel stellen zum einen die systemtheoretische Führungslehre in extenso dar und geben dabei auch einen Überblick über deren kirchliche Rezeption, vor allem hinsichtlich von Struktur-, Prozess- und Zielinterventionen (Kap. II/III, 147–381). Weitere Kapitel geben zum anderen einen instruktiven Überblick über die Institutionen (IV, 385 ff.) und ausgewählte Angebote der kirchlichen Führungsfortbildung (V, 482 ff.); dazu wird eine Studie über die Leitungspraxis zweier Landeskirchen sekundär ausgewertet (VI, 578 ff.). Alle diese Kapitel stellen zwar – auf dem Stand von 2011 – sehr detailliertes Material bereit; eine theoretische, gar eine theologische Reflexion der Befunde, die die einschlägigen Debatten weiterführen könnten, findet sich aber allenfalls in An­deutungen.
Das VII. Kapitel (635–686) versucht, nicht ohne Redundanzen, ein integrales »evangelisches Führungsverständnis« zu skizzieren. Der Vf. bedenkt hier, im Anschluss an die Publikationen von P. Böhlemann, u. a. das Verständnis von »Geistlicher Leitung«, kommt da­bei aber über die Beschwörung einer »Tiefendimension des Führungshandelns« (684 u. ö.) sowie über den Hinweis, hier seien auch Ehrenamtliche einzubeziehen, kaum hinaus. Auch bei anderen Themen fällt auf, dass die gängigen theologischen Formeln – »Pries­tertum aller Glaubenden«, »Leitung durch das Wort«, »Kommunikation des Evangeliums« – nirgends entfaltet oder themenbezogen präzisiert werden. So schwankt die Darstellung etwa zwischen einem Kommunikationsverständnis, das die Wechselseitigkeit der Evangeliumsmitteilung betont, und einem schlichten, transitiven Kommunikationsbegriff, demzufolge die Kirche »den Menschen« Orientierung und Sinn zu vermitteln habe. Problematisch er­scheint zudem, dass »Führen und Leiten« nahezu ausschließlich als ein zielgerichtetes und wissensbasiertes Handeln begriffen wird – die biographischen Prägungen, die persönlichen Haltungen und Selbstdeutungen der Akteure, auch die emotionalen Dimensionen der Leitungspraxis kommen nur am Rande in den Blick.
Eine Eigenart dieses Handbuches besteht in längeren »Hinführungen« zu den einzelnen Kapiteln, in denen sukzessive drei (fik-tive) Praxisbeispiele für Leitungsaufgaben in einer Gemeinde, einem Kirchenkreis und einer Landessynode entfaltet werden. Da­bei wird – ohne dass dies noch einmal reflektiert würde – die Orientierung an einem »missionarisch-spirituellen«, wachstumsorientierten Verständnis der Leitungsaufgabe immer deutlicher (vgl. 387.630 ff. 688 ff.). Ob die damit noch einmal markierte Absicht des Buches erreicht wird, vor allem für die Praxis der kirchlichen Leitung hilfreiches Material zu bieten, vermag der Rezensent nicht
zu beurteilen. Für die praktisch-theologische Fachdiskussion, die der Praxis doch vertiefte Einsichten und weiterführende Impulse geben sollte, stellt dieses Werk jedoch leider keinen substanziellen Fortschritt dar.