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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

133–134

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kreutzer, Ansgar

Titel/Untertitel:

Politische Theologie für heute. Aktualisierungen und Konkretionen eines theologischen Programms.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2017. 323 S. Geb. EUR 30,00. ISBN 978-3-451-34909-6.

Rezensent:

Franz Gmainer-Pranzl

»Politische Theologie« steht heute unter Rechtfertigungsdruck. Die Selbstverständlichkeit, mit der etwa im deutschen Sprachraum bis in die frühen 1990er Jahre »Politische Theologie« betrieben wurde, ist längst verflogen. Junge Theologiestudierende nehmen diesen Begriff mit Ratlosigkeit und Erstaunen auf; Kategorien wie Gerechtigkeit, Solidarität, Hoffnung oder Befreiung wirken wie Relikte aus einer vergangenen Welt – daran ändert auch die Begeisterung über Papst Franziskus und seinen politischen Ansatz der Verkündigung und der Theologie nicht viel. Bringt nicht die ausdrückliche Betonung einer »Politischen Theologie« für heute im Titel dieses Buches genau diese Problematik zum Ausdruck, insofern ausdrücklich betont werden muss, dass »Politische Theologie« etwas »für heute« ist?
Ansgar Kreutzer, Systematischer Theologe an der Universität Gießen, nimmt diese Kritik ernst, zeigt aber auf überzeugende Weise, dass Anliegen und Relevanz des Projekts »Politische Theologie« keinesfalls überholt sind. Er plädiert für die Entwicklung »einer politisch sensiblen Theologie für die gegenwärtige Zivilgesellschaft und ihre konkreten Herausforderungen« (18) und zeigt interes-sante Anschlussstellen für eine solche Form der Theologie auf. So arbeitet der Vf. etwa »Kenosis als ein Leitbild politischer Theologie« (62) heraus und greift die von Johann Baptist Metz stark gemachten Motive der »Praxis als gesellschaftlicher Praxis und […] der Subjektwerdung aller« als Ansatz »einer stärker empirieorientierten und methodologisch ausgefeilteren politischen Theologie« (68) auf. Impulse gesellschaftstheoretischer und soziologischer Klassiker wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Pierre Bourdieu und Erving Goffman stärken eine mögliche »Politische Theologie« in ihrer »Fokussierung auf die ›Prekären‹, ihre Lebenswelten und ihre kulturellen Ausdrucksformen« (93 f.) und tragen dazu bei, »die so­zialen Interaktionsbedingungen von Zeugnisakten realistisch einzuschätzen und konstitutiv zu berücksichtigen, um Zeugnisakte, die elementare Handlungen des Glaubens darstellen, kontextsensibel und -adäquat setzen zu können« (141). Armut ist, wie kultursoziologische Analysen aufzeigen, immer auch »als symbolische Zurücksetzung und Ausgrenzung« (146) wahrzunehmen; Exklu-sion – so der Vf. in seinem beeindruckenden Text »Die Kunst, nicht auszuschließen« (163–180) – ist unvereinbar mit der christlichen Position eines Heilsuniversalismus: »Die Instrumentalisierung von Religion, um andere soziale Gruppen und religiöse Überzeugungen zu diskreditieren, steht offenbar im Gegensatz zur theologischen Idee eines Heils, das allen Menschen, nicht nur einigen Auserwählten, gilt« (175). Stellen wie diese zeigen, welch ungemein gesellschaftspolitisches Potential in diesen sorgfältigen theologischen Analysen steckt, die zwar aktuelle politische Entwicklungen und Strategien nicht direkt ansprechen, aber allen aufmerksamen Leserinnen und Lesern die Augen für das »Politische« der christlichen Botschaft als solcher öffnen. Nicht zuletzt sind auch die Überlegungen zu einer »Theologie der Anerkennung« (231) sowie zu einer »Neuformierung der Gnadentheologie« (246) im Kontext einer Analyse der Arbeitswelt von Bedeutung.
Der vorliegende Band zeigt Perspektiven einer »Politischen Theologie« auf, die den gesellschaftskritischen Stachel christlicher Glaubensverantwortung mit sozialwissenschaftlicher Forschung, soziologischen Diskursen und zivilgesellschaftlichen Analysen verbindet und den Impetus politisch-theologischen Denkens da­durch interdisziplinärer, empirischer und kulturbezogener ausrichtet. Auch wenn es sich bei diesem Band um die Veröffentlichung von zwölf Beiträgen handelt, die in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind (und deren Erstpublikation genau ausgewiesen wird), liest sich das Buch nicht wie eine Aneinanderreihung ähnlich argumentierender Aufsätze, sondern als spannende Einführung in eine tatsächlich vernachlässigte Thematik. Es gelingt dem Vf., das zentrale An­liegen der »Politischen Theologie«, wie sie die nachkonziliare Auseinandersetzung prägte – nämlich den Diskurs christlicher Glau­bensverantwortung (selbst-)kritisch auf seine gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen und Konsequenzen hin zu befragen –, wahrzunehmen, deren theologischen Kern zu markieren und im Kontext gegenwärtiger Erfahrungen weiterzuschreiben.
Mit einem Wort: Es geht in diesem Buch nicht um Theologie-geschichte, sondern um Systematische Theologie. Der Vf. selbst bringt treffend auf den Punkt, was als Resümee seiner Studie gelten kann: »Eine politisch wache Theologie ist keine dem Zeitgeist der ›68er‹ geschuldete Modeerscheinung. Sie verdankt sich vielmehr der bleibenden erkenntnistheoretischen Einsicht, dass religiöse Überzeugungen und theologische Plausibilitäten stets in Abhängigkeit zu ihrem sozialen Umfeld stehen. Sie verdankt sich dem Glauben an einen Gott, dessen universaler Heilswille sich nach biblischem Zeugnis in der Abwesenheit von Diskriminierung und in der Erfahrung von Solidarität vermittelt« (180).