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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

130–133

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Gasser, Georg, u. Josef Quitterer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Aktualität des Seelenbegriffs. Interdisziplinäre Zugänge.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010. 362 S. Kart. EUR 47,90. ISBN 978-3-506-76905-3.

Rezensent:

Linus Hauser

Seit dem 19. Jh. gibt es einen naturwissenschaftlichen Materialismus, der – meist eine wissenschaftliche Disziplin heraushebend – durch einen »wachsenden Optimismus« (Gasser, 9) hinsichtlich der empirisch fundierten Lösung klassischer Fragen der Metaphysik geprägt ist. Diesen (vielleicht nicht zu neuen) »Neuen Naturalismus« (Gasser, 10) versuchen die Autoren des Sammelbandes, der auf ein interdisziplinäres Kolloquium über das Thema »Der traditionelle Begriff der Seele und die Neue Naturalistische Herausforderung« zurückgeht, zu erkunden und zu begrenzen.
Differenziert wird von Georg Gasser die Vorgehensweise dieser metaphysikförmigen Art der Präsentation empirischer bzw. quasiempirischer Ergebnisse einer sich objektivistisch präsentierenden, aber eigentlich paraphilosophisch interpretierten Hirnforschung im einleitenden Artikel dargestellt. »Am Ende kann ein relativ unspektakulärer ›empirischer Kern‹ mit einer aufgeblasenen ›Interpretationshülle‹ übrig bleiben, die allerdings den Eindruck vermittelt, dass eine gut abgesicherte empirische Basis gegeben sei« (13). Das Thema Seele und der Rückgriff auf differenzierte Traditionen zu diesem Thema bleiben dabei außen vor.
Brigitte Falkenburg führt in »Zeit und Naturalismus« im Ausgang von Hegel aus, dass die naturalistische Voraussetzung, dass sich »unser subjektives Zeiterleben zumindest grundsätzlich auf ein naturwissenschaftlich erkennbares Geschehen zurückführen« (36) lasse, zugleich die Erklärbarkeit von geistigen Prozessen durch »strikte, deterministische, reversible Naturgesetze« (37) ausschließt. Wenn man nicht von dem Modell einer »Komplementäre(n) Zeitauffassung()« (51) ausgeht, dann ist es nicht möglich, die sonst entstehende Paradoxie, dass die »objektive physikalische, messbare« Zeit grundlegend auf Perspektiven der »subjektive(n) Zeit« (52) an­gewiesen ist, aufzulösen.
Klaus von Stosch fragt in seinem Beitrag über »Gottes Handeln denken. Zur Verantwortung der Rede von einem besonderen Handeln Gottes im Gespräch mit den Naturwissenschaften« ausgehend von der Indeterminismus-Debatte im Kontext der philosophischen Aufarbeitung der Quantenmechanik nach einem Ort für das freiheitliche Handeln Gottes und verweist darauf, dass dessen »Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Quantentheorie nicht gerade beeindruckend« (58) sind. Statt Gott zum Lückenbüßer zu machen oder ihn ›chaostheoretisch‹ Beihilfe zum Schmetterlingseinsatz leisten zu lassen, ist es sinnvoller, auf die Interpretationsoffenheit unserer (auch erfahrungswissenschaftlich erschlossenen) Wirklichkeit zu verweisen.
Uwe Meixner legt auf dem Hintergrund der Sichtweise des Gehirns als einem DOMINDAR (Director Of Macroscopic IN-Determination, And Restrictor, 86) dar, dass man in eine selbstwidersprüchliche Situation gerät, wenn man das Gehirn als Ort von Entscheidungen, die zugleich streng determiniert sind, betrachtet. »Die Evolution hat zur Entwicklung von Organismen mit einem überwachenden und leitenden Organ geführt: dem Gehirn. Aber wenn der Determinismus in der physischen Makrowelt regierte, dann – davon können wir ausgehen – hätten sich Gehirne nie entwickelt. Denn was wäre der evolutionäre Vorteil ihrer Entwicklung gewesen?« (95)
Franz Mechsner (»Die Freiheit der Person als wissenschaftliches Basiskonzept«) entwirft ein System dreier »Prozessontologien« im Zusammenhang dreier Kausalitätsvorstellungen (105): die »materiale« Ontologie, die naturkausal ausgerichtet ist, die »teleofunktionale«, die sich auf einen evolutionären Ursachenbegriff im Zusammenhang von Lebensprozessen bezieht und eine »personale« Ontologie des Handelns. Im Hinblick auf die Verwendung dieses Modells für die Wissenschaftspraxis skizziert M. am Ende eine ontologisch fundierte Stufung von Wissenschaftsbereichen, die eher einen schulphilosophischen denn realisierbaren Eindruck macht.
Johannes Seidel gibt seinem Beitrag den Titel »Was konstituiert ein biologisches Individuum (nicht)?« Er setzt mit einer urphilosophischen Methode ein, er macht nämlich unselbstverständlich. Vor ungefähr 3,8 Milliarden Jahren wird der »Beginn des Lebens« (129) angesetzt. Seine Perspektive ist nun wie der »von seinem Ursprung her eine, zwischenzeitlich aber in räumlich viele Kompartimente aufgespaltene Lebensprozess zeitlich so zu kompar-timentieren ist, dass er zum Abstammungszusammenhang von Individuen mit individuellen ›Biografien‹ wird« (130). In der Auseinandersetzung mit der Frage nach biologischen Kriterien von Individualität (einzigartiges Genom) kommt er zu dem Ergebnis, dass das metaphysische Kriterium für Individualität im Anschluss an Aristoteles und Thomas von Aquin der »raum-zeitlich qualifizierte() Möglichkeitsrahmen« (152) ist.
Martin Kurthen skizziert eine Wissenschaft des Selbst und legt gegen den »allseits grassierende(n) Neuro-Boom« (179) dar, dass die Bereichsbezogenheit neurowissenschaftlicher Forschung schon von dieser her keine ›globalen‹ ontologischen Schlüsse ziehen kann, weil sie nur das »zerebrale Korrelat des Selbst« (184), nicht aber alle Aspekte dieses Selbst beschreiben kann.
Olaf Breidbach schreibt über »Die Evolution des Gehirns und die Geschichte des Geistes – Bemerkungen zur Physiologisierung des Denkens«. Die Evolutionsbiologie kann die »Geschichte des Geis­tes« als »Geschichte einer Verhaltensäußerung« physiologisch be­schreiben. Untersuchen kann man dann seit Soemmerings Schrift »Über das Organ der Seele« (1796) irgendein »allgemeines Seelenorgan«, das Soemmering gegen damals vertraute Vorstellungen nicht in irgendeinem »festen« Teil des Gehirns, sondern in der Ventrikelflüssigkeit ortete.
Empirische Forschung und weitgehend »unbewusst« (214) sich ereignende Verwendung von Philosophie verbinden sich in der Folge. Mit dem Auftreten der evolutionstheoretischen Betrachtungsweise bekommen die Vorstellungen noch eine andere Tönung, die sowohl eine andere Gefährdung des das empirisch Sichere überfliegenden Gebrauchs als auch eine Chance anbietet. »In der Evolution etabliert sich keinerlei Maßstab, der über den jeweiligen Moment eines Reaktionsgefüges hinaus weist. Maßstab ist die Existenz dessen, was da ist. Also zeichnen denn auch die Szenarien der Neurophilosophie nicht die Evolution, sondern eine Narratio, eine Geschichte nach, die das, was wir heute sind, als Ziel eines Tuns ausweist, das gestern war.« (208) Diese Einsicht gilt es positiv aufzugreifen und die moderne Neurowissenschaft so zu betreiben, dass die betreffende evolutionäre Bedeutung der kulturellen Sphäre sogar die »Hardware des Hirns« (209) betrifft.
Dieter Sturma schreibt über »Naturalismus, Selbstbewusstsein und das psychophysische Problem«. Er bestimmt den Begriff des Naturalismus als primär durch Ansätze repräsentiert, die »konzeptionell dem Physikalismus bzw. siehe Szientismus verpflichtet sind und davon ausgehen, dass alle mental aktuellen Zustände letztlich physikalische Prozesse sind, die Prinzipien einer naturwissenschaftlichen Erklärung zugeführt werden können« (219). Wenn es um kulturelle oder psychische Phänomene geht, dann geraten solche szientistischen Ansätze in »Erklärungsnot« (219). Ein gelungener Terminus bzw. Begriff wird von S. mit »eliminativer Naturalismus« (222) für die typische Umgangsweise mit derartigen Problemen eingeführt. Als wesentliche Voraussetzung für eine auch immanente Änderung der Perspektive schlägt S. diesen naturalistischen Theoretikern vor, den »zu erklärenden Phänomenen deskriptiv Rechnung (zu, L. H.) tragen« (231).
Aristoteles, der in diesem Sammelband öfter herangezogen wird, widmet Marianne Scharck ihren Beitrag »Der aristotelische Begriff des Lebewesens« (235). Sie setzt ein mit der prosaischen, aber wichtigen Feststellung: »Die Biologie ist zwar die Wissenschaft von den Lebewesen, aber nicht die Wissenschaft davon was ein Lebewesen ist« (235). Lebewesen werden (vom Gattungsbegriff her) als persistierende Wirklichkeiten, d. h. als raum-zeitliche »Kontinuanten« (239) gefasst. Ihre spezifische Weise zu persistieren ist jene des Le­bens, dessen Ende das Ende seiner raum-zeitlichen Existenz ist. Im Zusammenhang einer (populären?, L. H.) Rezeption von Descartes wandert dann der Seelenbegriff aus dem, was uns mit den »Tier-Automaten« verbindet, aus. Von der Seele als Prinzip des Lebens nimmt man Abschied und wendet sich dann allein dem Menschen und seinem Geist zu. Aus einer solchen Perspektive heraus sind auch die Aufsätze von Thomas Kläden, Josef Quitterer und Ulrich Lüke verfasst.
Thomas Kläden folgt – passend zu dem durch Aristoteles inspirierten Beitrag von Scharck – mit einem Aufsatz über »Anima forma corporis. Zur Aktualität der nichtdualistischen Sicht des Menschen bei Thomas von Aquin«. Gegen eine platonistisch inspirierte dualistische Sicht des Menschen setzt er mit dem Modell des Hylemorphismus eine »Sichtweise«, in der »Seele und Körper im Verhältnis von Form und Materie zueinander und somit keine dinghaften, quantitativ zu bestimmenden Teile, sondern nur auf begriffliche Weise zu unterscheidende Konstitutionsprinzipien des einen Menschen« (264) sind. Josef Quitterer weist in diesem Zusammenhang auf den informatio-Begriff von Thomas hin, der im Hinblick auf die Frage nach der Seele eine »top down-Erklärung« (279 f.) ermöglicht, die die heute vielfach gepflegte »strikte() Trennung zwischen dem Bereich des Körperlichen und des Geistigen« überwindet (282). Ulrich Lüke geht diesem Thema in seinem Aufsatz über »Seele – was ist das? Ein interdisziplinärer Verständigungsversuch zwischen Biologie und Theologie« nach. Er arbeitet heraus, was für eine substantielle Bedeutung das Transzendenzbewusstsein sowohl für die Ontogenese als auch für die Phylogenese besitzt. Auf diese Weise zeigt sich wieder die Fruchtbarkeit des nichtdualistischen Denkens im Hinblick auf das Leib-Seele-Problem. Interessant sind dann speziell für den Theologen die folgenden Anfragen Lükes: »Wie kann die Leib-Seele-Einheit des Menschen gewahrt bleiben, wenn dieser Mensch seinem Leibe nach zweifelsfrei eine biologische Evolution durchläuft, aber theologisch gesprochen seiner Seele nach auf einen einmaligen Schöpfungsakt Gottes zurückgeht? Wie ist Gottes Wirken zu denken, wenn man davon ausgeht, dass die nachmaligen Eltern nicht einen Leib, sondern einen Menschen zeugen? Wie können die sich zwischen ein Früher und später aufspannende Prozessualität geschöpflich-menschlichen Daseins und die allgegenwärtige Unmittelbarkeit des schöpferisch-göttlichen Seins miteinander vermittelt werden?« (305)
Im Anschluss an diese systematischen Untersuchungen finden sich dann noch Aufsätze über das »Personverständnis im Judentum der persischen hellenistischen Zeit« (Peter Marinkovic), zum Seelenverständnis im »hellenistischen Judentum und frühen Christentum« (Theo K. Heckel) und eine Problematisierung des protestantischen Seelenverständnisses (Rudolf Christian Henning).
Der Sammelband ist gelungen und wird, solange dieser naturwissenschaftlich orientierte Naturalismus breitenwirksam wichtig ist (und ein Ende dieser Wirksamkeit ist nicht abzusehen), lesenswert bleiben.