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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

128–130

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ernst-Habib, Margit

Titel/Untertitel:

Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 479 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 158. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-3-525-56453-0.

Rezensent:

Kai-Ole Eberhardt

In ihrer überaus gelungenen Dissertation unternimmt Margit Ernst-Habib den ehrgeizigen Versuch, eine Antwort auf die Frage nach der reformierten Identität zu entwickeln. Ihr Zugang zu dieser klassischen Frage der reformierten Konfession erweist sich als äußerst innovativ: Sie legt ihrem Entwurf eine Analyse der über 60 im 20. und 21. Jh. weltweit entstandenen reformierten Bekenntnisschriften zugrunde. Mit viel theologischem Feingefühl verbindet sie dabei die Identitätsfrage mit dem reformierten Bekenntnisverständnis (Kapitel 2: »Confessing is Identity«: Der doppelte Fokus von Identität und Bekenntnis, 57–108) und bietet eine anregende Darlegung reformierter Bekenntnistheologie (Kapitel 3: Reformier­tes Bekenntnisverständnis in Tradition und Gegenwart, 109–218). Die reformierten Bekenntnisse der Gegenwart befragt sie querschnittartig auf ihren inhaltlichen Beitrag zu der Bestimmung des reformierten Selbstverständnisses. Überzeugend wählt sie dazu einen theologischen Zugang über den Begriff der Heiligkeit, einen zentralen Topos reformierter Tradition, mit dem es ihr gelingt, Gottes- und Trinitätslehre mit der Ekklesiologie zu verbinden und so trotz einer exemplarischen Auswertung der um­fangreichen Bekenntnistradition zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen (Kapitel 4: Der Heilige Gott und die Heiligen Gottes – Heiligkeit als Tiefendimension reformierter Identität, 219–366). Auf dieser Grundlage versucht die Vfn. dann »Reformierte Identität« (Kapitel 5, 367–405) konkret zu bestimmen. Das reformierte Selbstverständnis erweist sich so zuallererst als ein dynamisches. Das Bekenntnisverständnis interpretiert sie als »reformierte Hermeneutik« (367–378) im Sinne einer dialektischen, kontinuierlichen und auf den befreienden Gehorsam gegenüber Jesus Christus ausgerichteten Selbstauslegung von Tradition und Gegenwart reformierter Gemeinschaften. Bekenntnisse sind demnach Ergebnisse eines identitätsstiftenden Auslegungsprozesses und Ausgangspunkte für zukünftige hermeneutische Arbeiten der Kirche zu­gleich. Aus dem konsequent christologisch gedeuteten Motiv der Heiligkeit Gottes und der korrespondierenden Heiligkeit der Kirche ergeben sich nach der Vfn. fünf konkrete Determinanten einer reformierten Identität (378–405). Sie habe erstens partizipatorischen Charakter, insofern die Gemeinschaft der Heiligen auf die Teilhabe an der Heiligkeit Gottes ausgerichtet sei und damit nicht primär reformierte Identität, sondern Identität in Christus werde. Sie wird zweitens konfessorisch bestimmt, insofern ihr Sein und Handeln an ihrem Bekenntnis zu Christus orientiert sei, das dem Bekenntnis Christi zur Gemeinschaft der Heiligen entspreche. Sie sei drittens exzentrisch, deiktisch und pneumatologisch, insofern die Gemeinschaft der Heiligen über sich hinaus auf Christus als ihr identitätsstiftendes Zentrum zu verweisen habe und »ihre Identität als geistgewirkte Gabe und Aufgabe« (379) verstehen müsse. Viertens habe ihre Identität missionalen Charakter und sei auf »Sammlung und Sendung im Horizont der missio Dei« ausgerichtet. Schließlich sei sie eschatologisch als Identität »Zwischen den Zeiten« zu bestimmen. Daraus ergibt sich für die Vfn. zusätzlich ein konsequent ökumenischer Zug des reformierten Selbstverständnisses (407–413). Durch die stringente Ausrichtung auf Jesus Christus und die beständige dynamische Relativierung des eigenen Selbstverständnisses könne sich die reformierte Konfession in ihren vielfältigen Ausprägungen jeweils als Versuch verstehen, im Dienst der gesamten Christenheit und im Vertrauen auf die sich korrigierend durchsetzende Heiligkeit Gottes die ganze Kirche Jesu Christi zur Geltung zu bringen.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis, das auch internationale Sekundärliteratur in umfassender Weise berücksichtigt (421–459) und ein nützliches Personen– und Sachregister (461–479), das die Arbeit auch für Detailfragen zu einzelnen Bekenntnissen und dogmatischen Spezialfragen gut benutzbar macht, runden die Untersuchung ab.
Der Ansatz der Vfn., durch das »›typisch reformierte‹ Phänomen der offenen Bekenntnistradition« (9) das Wesen der reformierten Konfession herauszuarbeiten, bewährt sich vor allem durch die internationale Perspektive, die damit einhergehende Berücksichtigung der zahlreichen reformierten Bekenntnistexte und die theologische Schwerpunktsetzung auf die Heiligkeit. Die Arbeit schließt damit eine große Lücke in der theologischen Forschung und gibt der Gemeinschaft reformierter Kirchen ein nützliches Werkzeug zur Reflexion von Bekenntnistradition und Selbstverständnis sowie für das intra- und interkonfessionelle Gespräch an die Hand.
Eine bemerkenswerte Leistung stellen auch die Vorarbeiten der Vfn. dar. Die umfassende Sammlung und Katalogisierung der zahlreichen reformierten Bekenntnisse der Gegenwart (soweit sie der Vfn. ermittelbar waren), die in einer chronologischen Übersicht mit Quellennachweisen im Anhang (415–420) zugänglich gemacht werden, stellt ein überaus nützliches und zur weiteren Auseinandersetzung mit der reformierten Bekenntnislandschaft einladendes Ergebnis der Forschungen dar.
Die Vfn. beweist theologisches Fingerspitzengefühl und Feinsinn, wenn sie in ihren methodischen Vorüberlegungen zu dem Ergebnis kommt, dass eine Definition der reformierten Identität sich einerseits als ein »nahezu unlösbares Problem« (46) erweist, sich anderseits aber gerade darin ein aus dem reformierten Theologie- und Traditionsverständnis erwachsendes Charakteristikum der Konfession widerspiegelt, so dass sich Unschärfen bei der Suche nach reformierter Identität geradezu als »Stärke der reformierten Tradition« (47) erweisen. Diese Offenheit entwickelt sie überzeugend zu einer ökumenischen Zuspitzung des reformierten Selbstverständnisses weiter, ohne dass dadurch die Spezifika der Konfession aus dem Blick gerieten.
Freilich bleiben bei der komplexen Fragestellung und umfangreichen Quellenlage einige kritische Anfragen an den Entwurf der Vfn. nicht aus. Es überzeugt zwar, dass sie sich für die Bestimmung des reformierten Selbstverständnisses am Identitätsbegriff orientiert, jedoch wird dieser erst spät klarer bestimmt. Bei seiner Einführung fehlt eine umfassendere Berücksichtigung der philosophischen und psychologischen Begriffsgeschichte (58–75). Die eigentliche theologische Entfaltung des Identitätsverständnisses anhand der Heiligkeit Gottes wird erst später nachgeliefert (besonders 220–224). Die Arbeit verspricht zudem eine ausführliche Analyse mit den reformierten Bekenntnissen der Gegenwart, wird diesem Anspruch aber nur teilweise gerecht. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet überwiegend nur im vierten Kapitel statt und bleibt auch dort exemplarisch und unsystematisch. Das ist entschuldbar, nicht nur, weil eine umfassende Behandlung den Rahmen der Untersuchung gesprengt hätte, sondern weil die Vfn. mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Heiligkeit exzellent einen zentralen Topos reformierter Theologie in den Fokus rückt und diesen sehr gewinnbringend entfaltet. Jedoch fehlen Kriterien dafür, warum die Vfn. einzelne Bekenntnisse in besonderem Maße berücksichtigt und andere nicht. Etwas sperrig scheint der immer wieder auftauchende Begriff der Tiefendimension, der erst im Verlauf der Arbeit eine nähere Bestimmung erhält (240–244).
Der Vfn. gelingt nichtsdestoweniger mittels der umfassenden Berücksichtigung von weltweiten Bekenntnissen der Gegenwart und ohne die Tradition aus dem Blick zu verlieren ein großartiger Antwortversuch auf eine drängende Frage der reformierten Theologie und Kirche.