Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

123–125

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Briefe 1887–1894. Hrsg. v. R. Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit m. Th. Gerhards u. S. Oßwald-Bargende.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XX, 683 S. = Max Weber-Gesamtausgabe, II/2. Lw. EUR 289,00. ISBN 978-3-16-154927-4.

Rezensent:

Konrad Hammann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Weber, Max: Briefe 1895–1902. Hrsg. v. R. Aldenhoff-Hübinger in Zusammenarbeit m. U. Hinz. 2 Halbbde. Tübingen: Mohr Siebeck 2015. LIX, 1031 S. = Max Weber-Gesamtausgabe, II/3. Lw. EUR 459,00. ISBN 978-3-16-153753-0.


Innerhalb des editorischen Großprojektes der Max Weber-Gesamtausgabe nähert sich die Abteilung II: Briefe ihrer Vollendung. Von den elf vorgesehenen Bänden dieser Abteilung fehlen nun lediglich noch Bd. 1 mit den Briefen von 1875–1886, dessen Erscheinen der Verlag bereits angekündigt hat, sowie der Nachtrags- und Register-Band 11. Die beiden hier zu besprechenden Bände bieten die Briefe W.s von 1887–1894 sowie – aufgeteilt auf zwei Halbbände – von 1895–1902 dar. Sie dokumentieren zwei für seine Lebensgeschichte und die Ausformung seines wissenschaftlichen Profils entscheidende Phasen, zunächst die Zeit von seinem Rechtsreferendariat bis zu den Anfängen seiner akademischen Lehrtätigkeit in Freiburg i. Br., sodann die Phase seines Wirkens als Hochschullehrer in Freiburg i. Br. und Heidelberg bis hin zu seiner Erkrankung im Sommer 1898, seiner vorläufigen Unfähigkeit zu wissenschaftlicher Arbeit und seinen mehrfachen Versuchen, der eigenen Intellektualität wieder publizistische Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen.
Die Briefe von 1887–1894 spiegeln zunächst W.s berufliche Laufbahn von seinem juristischen Referendariat in Berlin über die Etappen der Promotion und Habilitation bis zu seiner Lehrtätigkeit als Privatdozent, Lehrstuhlvertreter des Handelsrechtlers Levin Goldschmidt und etatmäßiger außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät in Berlin. Als er im Frühjahr 1892 im Auftrag des Vereins für Socialpolitik mit der Auswertung der Erhebung zur »Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland« begann, zeichnete sich zumindest die Möglichkeit ab, dass sich die wissenschaftlichen Interessen des Juristen auf die Nationalökonomie verlagern könnten. Seine sukzessive Hinwendung zur Nationalökonomie hing wohl auch mit seiner intensiven Beschäftigung mit den politischen und sozialen Fragen zusammen, die sich um 1890 mit neuer Dringlichkeit stellten. Insbesondere gegenüber seinem Onkel Hermann Baumgarten, dem Straßburger Historiker und Repräsentanten des älteren Liberalismus, monierte W., dass der »Liberalismus in den 70er Jahren die socialen Aufgaben des Staates« nicht erkannt habe (II/2, 157). W. selbst engagierte sich nach 1890 in der evangelisch-sozialen Bewegung, knüpfte Kontakte zu deren Protagonisten Paul Göhre, Friedrich Naumann und Martin Rade, veröffentlichte in Naumanns »Göttinger Arbeiterbibliothek« zwei Broschüren über die Börse und vertrat allerdings auch, etwa in der Landarbeiterfrage, Positionen, die sich mit denen des Alldeutschen Verbandes berührten.
Die Briefe, in denen W. über seine militärischen Übungseinsätze und die regelmäßigen Treffen in der Berliner Gesellschaft junger Nationalökonomen berichtet, sind relevant in biographischer Hinsicht, diejenigen, die die Anbahnung seiner Ehe tangieren, darüber hinaus für unsere Kenntnis der zeitgenössischen Heiratskonventionen in dem bürgerlichen Milieu, dem er angehörte. Nach 1887 kam für W. zuerst Emmy Baumgarten, eine Tochter Hermann und Ida Baumgartens, ernsthaft als Partnerin in Betracht. Er entschied sich aber letztlich für Marianne Schnitger, die dem familiären Umfeld des Leinenfabrikanten Carl David Weber aus Oerlinghausen bei Bielefeld entstammte. Über die Hintergründe dieser Entwicklung informieren die einschlägigen Briefe W.s und die um­sichtige Einleitung der Herausgeberin, in der auch der aus heutiger Sicht merkwürdige Ehevertrag erläutert wird, den die beiden Brüder Carl David Weber und Max Weber sen. ausgehandelt hatten. Für die Einordnung aller in den Briefen berührten Verwandtschaftsbeziehungen erweisen sich die – in allen Briefbänden dargebotenen – Verwandtschaftstafeln zu den Familien Fallenstein und Weber als hilfreich. Auch die Seitenkonkordanz der in diesem Band abgedruckten Briefe zu den von Marianne Weber 1936 (unvollständig) herausgegebenen »Jugendbriefen« erleichtert den Umgang mit dieser Korrespondenz.
Die auf zwei Halbbände verteilten über 400 Briefe aus den Jahren 1895–1902 zeigen, wie W. einen ersten Zenit seiner wissenschaftlichen Karriere erreicht und dann durch eine Neurasthenie oder depressive Neurose in eine tiefe Lebenskrise stürzt. Die Vielfalt der in diesem umfassenden Briefcorpus versammelten Themen kann hier allenfalls angedeutet werden. Als Nachfolger Eugen von Philippovichs 1894 auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften in Freiburg berufen, hielt W. dort im Mai 1895 seine berüchtigte Antrittsvorlesung mit dem ursprünglichen Titel »Die Nationalität in der Volkswirtschaft«, mit der er, wie er seinem Bruder Alfred schrieb, »Entsetzen über die Brutalität meiner Ansichten erregt« habe (II/3, 82). Mit der Veröffentlichung dieser Antrittsrede im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) begann die lebenslange Verbundenheit und Zusammenarbeit W.s mit Paul Siebeck. Diese Beziehung, die für den Autor, Herausgeber und Wissenschaftsorganisator ebenso wie für den Verleger von immenser Bedeutung war, lässt sich nunmehr anhand der gesamten Korrespondenz von 1895–1920 rekonstruieren.
Auch wenn W. sich in seinem Fach vorerst als Außenseiter wahrnahm, knüpfte er doch von den Freiburger Jahren an Kontakte zu zahlreichen Kollegen in der Nationalökonomie, etwa zu Lujo Brentano, Heinrich Bücher, Carl Johannes Fuchs, Eugen von Philippovich, Gustav Schmoller oder Gerhart von Schulze-Gaevernitz. Seine Beziehungen zu seinen Schülern sind ebenfalls, teilweise in der Korrespondenz mit dem Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), breit dokumentiert. Sowohl in Freiburg als auch später in Heidelberg war W. gut vernetzt in die lokalen universitären Kreise, die auf interdisziplinären Austausch Wert legten, so in Heidelberg u. a. mit Adolf Deißmann, Paul Hensel, Georg Jellinek, Carl Neumann und Ernst Troeltsch. In Heidelberg kann es dann am 14. Juni 1897 zum endgültigen Bruch zwischen Max Weber und seinem Vater, dem dramatischen Endpunkt einer Auseinandersetzung um die Bewegungsfreiheit Helene Webers, die in den Schreiben an Alfred Weber aus dem Sommer 1897 hinreichend deutlich wird.
Gegen Ende des Wintersemesters 1897/98 machten sich bei W. erstmals Symptome einer Krankheit bemerkbar, die der Heidelberger Psychiater Emil Kraepelin als Neurasthenie diagnostizierte. Ein dreiwöchiger Erholungsurlaub in Glion bei Montreux führte nur kurzfristig zu einer Besserung seines Gesundheitszustandes. Die Krankengeschichte, die nun begann, zog sich über mehrere Jahre hin. Die Versuche W.s, seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen, blieben ohne Erfolg, diverse Sanatoriumsaufenthalte trugen nicht dazu bei, seine gesundheitlichen Probleme zu beheben. Aus den im zweiten Halbband abgedruckten Briefen und Bulletins – von Marianne Weber vorgefertigten und vom Patienten im Sommer 1900 ausgefüllten Berichten über sein körperliches Befinden – gehen die Symptome seiner Krankheit – Schlaflosigkeit, Apathie, Müdigkeit und gelegentliche Erregungszustände – und die verschiedenen von ihm eingenommenen Opiate hervor. Wir erfahren aber letztlich nichts Näheres über die Art und die Ursachen seiner Erkrankung. Zumal auch die Briefe, die W. aus einem dreimonatigen Sanatoriumsaufenthalt 1898 an seine Frau richtete, aufgrund späterer Eingriffe teilweise nur unvollständig erhalten sind, hat die Herausgeberin zu Recht darauf verzichtet, sich an Spekulationen über die Ursachen von »Webers gesundheitlichen Zusammenbruch« (II/3, 27) zu beteiligen. Sie kann aber in ihrer umsichtigen Nachzeichnung der Lebenskrise W.s, die im April 1903 in seine Versetzung in den Ruhestand mündete, plausibel machen, dass er im Herbst 1902 seine wissenschaftliche Arbeit wieder aufnehmen konnte.
Angenehmer als die Briefpassagen zur Krankengeschichte lesen sich die Berichte über die Reisen nach Schottland und Irland 1895 sowie nach Frankreich und Spanien 1897, die W. überwiegend seiner Mutter schrieb. In ihnen gelingt es ihm, die »Vielseitigkeit der Eindrücke« (II/3, 438) in überaus anschaulichen und mit schriftstellerischer Begabung verfassten Schilderungen zu ordnen und zu reflektieren. Diese Reisebeobachtungen geben einen Vorgeschmack auf das, was und wie W. später von seiner Reise nach Amerika berichten wird. Wie er dort konkreten Erscheinungsformen der protestantischen Arbeitsethik begegnen wird, so beobachtet er 1897 im Baskenland die Herrschaft der Jesuiten in der Kirche und eine strenge Kirchenzucht, zugleich die demokratische Verfassung des Gemeinwesens und eine sehr hohe Arbeitsmoral in der Bevölkerung. W. zieht daraus den Schluss: »Auf diesem Untergrunde entfaltet sich nun der modernste Capitalismus mit unerhörter Wucht.« (II/3, 443)
Mit unerhörter Akribie haben die Herausgeberin und ihre Mitarbeiter die Briefe W.s editorisch erschlossen – von deren Ermittlung über die Entzifferung seiner schwer lesbaren Handschrift und die Textpräsentation bis hin zur Kommentierung der relevanten Sachverhalte wie auch der erwähnten Institutionen, Orte und Personen. Die Einleitung bettet diese Briefe mustergültig in die verschiedenen Kontexte des Kaiserreichs um 1900 ein. Rita Aldenhoff-Hübinger, Thomas Gerhards, Sybilla Oßwald-Bargende und Uta Hinz gebührt Dank und Anerkennung für eine ausgezeichnete editorische Leistung.