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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

118–121

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rössler, Beate

Titel/Untertitel:

Autonomie. Ein Versuch über das gelungene Leben.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2017. 442 S. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-518-58698-3.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die an der Universität Amsterdam lehrende Philosophin Beate Rössler hat sich mit dem hier vorzustellenden Werk der für die Ethik zentralen Thematik der vernünftigen Selbstbestimmung im Sinn sittlicher Freiheit angenommen. Dabei differenziert sie zwischen Ethik und Moral derart, dass sich Erstere auf die Frage nach dem guten, gelungenen Leben bezieht und Zweitere auf die nach den Pflichten. Durch den weitgehenden Verzicht auf eine reine philosophische Fachterminologie, durch den Bezug auf beispielgebende literarische Texte und durch die Übersetzung fremdsprachlicher Texte ist R. ein überaus gut lesbares Buch gelungen, das dessen wichtige Thematik auch einem interessierten, aber fachfremden Publikum erschließt – und bei der gleichzeitigen Rezeption der historischen wie aktuellen Debatte auf der Höhe der gegenwärtigen Diskussion steht. Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, die den Weg von der Begriffsbestimmung der Autonomie zu ihren vielfältigen Bezügen bis zur Fixierung ihrer Realität nehmen.
Die Autonomie bestimmt R. (29–61) grundlegend als »eine Tatsache des Lebens, weil sich diese Idee seit der Aufklärung als fundamentaler Wert und als Freiheitsrecht mehr und mehr in liberalen demokratischen Gesellschaften durchgesetzt hat« (31). Damit ist zugleich ausgedrückt, dass das eigene Handeln auf guten Gründen und nicht auf Manipulation beruht. Die vernünftige, eigenständige Reflexion ist also für die Autonomie wesentlich.
Nach dieser Annäherung an den Begriff der Autonomie legt R. dar, dass die autonom handelnden Akteure nicht vollkommen rational bestimmt sind, sondern, wie es der Alltagserfahrung entspricht, als unvollkommene, verletzbare Personen können sie in verschiedenen Konflikten stehen, wie sie etwa durch Probleme der Entscheidungsfindung, der eigenen kulturellen Identität oder Rollenanforderungen oft gegeben sind. Diese Konstellationen be­zeichnet R. als Ambivalenzen (63–93). Wenn eine Person mehrere Optionen hat und sich souverän für eine Möglichkeit entscheidet, ist sie autonom, da sie mit ihren Ambivalenzen selbstbestimmt umgeht.
Damit ist die »Selbstbestimmung eine Grundbedingung des gelungenen, sinnvollen Lebens« (96), da es nicht von außen, etwa paternalistisch, gesteuert wird, sondern eigenen Überzeugungen (95–132) folgt. Doch daraus folgt für R. nicht, dass »sich der Sinn des Lebens in subjektiver Wunschbefriedigung« (108) erschöpft. Gegen rein subjektivistische Positionen eines solchen Wollensrelativismus setzt R., »dass Ideen des sinnvollen Lebens immer schon in allgemeinere Narrative eingebettet sind« und »in einem mit anderen geteilten Sinnhorizont« (112) stehen. Damit überschreitet das, was Menschen für sinnvoll halten, die zunächst subjektiv bestimmten Werte auf intersubjektiv geteilte Sinnbezüge hin. R. weist damit für den Sachverhalt des sinnvollen selbstbestimmten Lebens auf das Nebeneinander der subjektiven Binnenperspektive und der intersubjektiven, gleichsam objektiven, Außenperspektive hin. Das selbstbestimmte, gelungene Leben stellt eine eigene Leistung dar, die sich unter günstigen sozialen und politischen Bedingungen leichter erbringen lassen als unter solchen, in denen etwa strukturelle Ungerechtigkeiten eigene Projekte erschweren oder gar verunmöglichen und damit einem eigenen sinnvollen Leben entgegenstehen.
Um zu klären, inwieweit die Autonomie zwischen Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung steht (133–175), bezieht sich R. beispielsweise auf Jane Austens Roman »Stolz und Vorurteil«, da sich hier Phänomene der Verstrickungen zwischen Täuschung und Erkenntnis im Alltag sehr gut aufzeigen lassen. Als weiteres Zwischenergebnis hält R. fest: »Entscheidend für die Autonomie sind Prozesse der Überlegung, der Reflexion und der Artikulationsprozesse, die sich einer auch nur partiellen Reduktion auf Daten, erhoben aus der Beobachterperspektive, entziehen« (175). Eine Person ist demnach in ihrer Autonomie beschränkt, wenn sie selbst- oder fremdverschuldet gehindert wird zu klären, was sie wirklich denkt und auf welche Weise sie agieren will.
Als ein wichtiges Medium, Macht über das eigene Leben zu be­kommen, stellt R. an vielen Beispielen das Tagebuch in seiner Funktion der Selbstreflexion heraus (177–230). Dies kann heute auch in Blogs geschehen, allerdings geht diese Technologie mit einer großen Öffentlichkeit einher. Damit zielen die Blogs weniger auf die eigene Selbsterforschung als mehr auf den gegenseitigen Austausch und auf die Qualifizierung des eigenen Lebens, wie es weitergehend der Quantified-Self-Bewegung um eine »Selbsterkenntnis durch Zahlen« (224) geht, was der Forderung, sich selbst zu erkennen – im Sinn des delphischen Orakels – total entgegensteht.
Nach diesen vielfältigen Bestimmungen der Autonomie nimmt R. die aristotelische Frage nach dem gelungenen Leben wieder auf (231–279). »Autonomie ist insofern eine substantielle Vorbedingung des guten Lebens, als mit ihr bestimmte Lebensweisen ausgeschlossen werden, die sich entweder selbst prinzipiell oder strukturell der Autonomie entziehen oder andere dieser grundlegenden Autonomie berauben wollen« (238). Damit ist ein im liberalen demokratischen Staat politisch unterstützter Pluralismus von verschiedenen Formen gelungenen Lebens impliziert und der Vorstellung nur einer besten autonomen Lebensform eine Absage erteilt, weil jede Person die ihr entsprechende Lebensform wählen kann.
Damit Menschen ihre Möglichkeiten eines autonom gelebten Lebens realisieren können, ist der Schutz ihrer individuellen Privatheit sowohl in ethischer wie in politischer Hinsicht notwendig (281–319). R. differenziert die Privatheit in lokaler, dezisionaler und informationeller Hinsicht, damit Personen bezüglich des Zugangs zu ihren Wohnungen, zu ihren Entscheidungen und zu ihren Daten geschützt sind. Die Privatheit ist für das Selbstverständnis der Menschen als autonomer Personen wichtig, wobei R. deren Gefährdungen sowohl seitens kommerzialer Interessen als auch seitens staatlicher Überwachungen aufzeigt, die »zur demokratiegefährdenden Ideologie« werden, wenn Bürgerinnen und Bürger »nicht mehr als demokratische Subjekte behandelt werden« (317).
Die individuelle Autonomie hat aber auch soziale und politische Voraussetzungen (321–365), da die eigene Freiheit immer von den Kontexten abhängt, in denen sie gelebt wird oder von denen man sich emanzipiert. Autonomie kann aber auch durch gesellschaftliche Machtstrukturen vermittels adaptierter Präferenzen verhindert werden. Damit lässt sich zeigen, »dass nichtautonome Präferenzen aufgrund ideologischer Strukturen möglich sind, dass sich Personen also gegebenenfalls in bestimmten Hinsichten manipuliert entscheiden« (344). Da die Autonomie jedoch in verschiedenen Graden gegeben ist, folgt aus solchen Einflussnahmen für eine Person nicht die Verneinung jeglicher Autonomie, solange sie in bestimmten Bereichen noch nach guten Gründen entscheiden kann. Damit »ist es möglich, auch in totalitären Gesellschaften Formen von Autonomie zu entwickeln und auszuüben« (364). Es geht R. also darum, die Möglichkeit von Autonomie nicht nur im Rahmen einer liberalen demokratischen Gesellschaft für lebbar zu halten, sondern auch unter nicht-idealen gesellschaftlichen Bedingungen.
Diese vorgestellten Überlegungen fasst R. dann in ihrem letzten Kapitel über die Wirklichkeit der Autonomie zusammen (367–399). Gegen die Vorstellung, Autonomie könne eine Schimäre sein, wie es sich von der Negierung der Willensfreiheit durch den Hirnforscher Gerhard Roth nahelegt, argumentiert R. unter Bezug auf den Philosophen Peter Strawson, dass »Freiheit und Autonomie […] unter der Prämisse der Wahrheit des Determinismus nicht vorstellbar« (374) sind.
R. hat mit diesem Buch die Wirklichkeit der Autonomie an der Entwicklung und Durchführung eigenständiger Projekte einer Person aufgezeigt – und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass die nicht-idealen Umstände des Alltags es verhindern, exakte Kriterien für die Autonomie in allen Kontexten darlegen zu können. Autonomie ist vielmehr ein selbstbestimmter Umgang mit den Ambivalenzen oder Entfremdungen des eigenen Lebens, das zu einem gelungenen werden kann, wenn wir es »als ausreichend sinnvoll und ausreichend glücklich erfahren, das ein respektvolles Verhalten zu anderen einschließt und in dem das Schicksal uns halbwegs gnädig ist« (399). Mit diesen Reflexionen hat R. die für das menschliche Selbstverständnis so wichtige Vorstellung der Autonomie umfassend veranschaulicht und ihre Wirklichkeit in der gegenwärtigen Alltäglichkeit verankert – es ist nur schade, dass bei diesem wichtigen Buch mit seinen vielfältigen Verweisen auf ein Re-gister verzichtet wurde.