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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

110–112

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Mecklenburg, Norbert

Titel/Untertitel:

Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur.

Verlag:

Stuttgart: J. B. Metzler (Part of Springer Nature Springer Verlag) 2016. X, 313 S. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-476-02684-2.

Rezensent:

Martin Bollacher

»Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt / Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte« – Schillers Urteil über den Feldherrn im Prolog zu Wallenstein könnte auch als Motto für die Abhandlung über den Reformator Luther und seine bis in die Gegenwart reichende literarische Rezeptionsgeschichte dienen, die Norbert Mecklenburg zum 500-jährigen Reformationsjubiläum der Öffentlichkeit vorlegt. Als germanistischer Literaturwissenschaftler mit Fachkenntnissen in der evangelischen Theologie ist M. aufgrund eigener Vorarbeiten – die Anfänge des Projekts liegen im Jahr 1971 – mit dem anspruchsvollen Thema bestens vertraut. Vom Gros der aktuellen Lutherliteratur unterscheidet sich die Studie insofern, als sie – in stetem Bezug auf ausgewählte Forschungsbeiträge – die Fülle der Lutherbilder in den Flugschriften, in Drama, Lyrik, Roman und Erzählung in einer Gesamtdarstellung vereinigt, die Textzeugnisse einer einheitlichen Sichtweise unterwirft und die Werkanalyse mit einem Werturteil verbindet. Damit schließt M. eine eklatante Forschungslücke!
M. geht nicht den Weg einer wohlfeilen Aktualisierung, sondern konstatiert einen großen historischen Abstand zum »welthis­torischen Individuum« (1) Luther und bekennt sich selbst zu einer postreligiösen Perspektive. Aus dieser kritischen Distanz heraus unterstreicht er die Janusköpfigkeit der Reformation, die als ein grundstürzendes, die Moderne beförderndes Ereignis auch de­struktive Wirkkräfte freigesetzt und deren Ambivalenz sich in der Person Luthers inkarniert habe. Im Leitbegriff »Prophet der Deutschen«, einer Selbstbezeichnung Luthers (5), erkennt M. deshalb nicht nur die Bedeutung der Reformation für die Deutschen, sondern auch den Keim des im 19. und 20. Jh. sich entfaltenden nationalistischen Ungeists, der sich in ideologischer Verblendung auf den Reformator als Verkörperung des deutschen »Wesens« berufen zu können glaubte. Dass in diesem Zusammenhang auch Luthers in einer langen Tradition christlichen Judenhasses stehender Antisemitismus besonders ins Gewicht fällt, kann nicht überraschen.
Die Intention der Studie zielt aber nicht auf eine religiös-theologische Deutung Luthers und der Reformation, sondern auf die Analyse von Lutherbildern in der deutschen und – am Rande – auch nichtdeutschen Literatur vom 16. Jh. bis in unsere Tage. Die literarische Bildgestaltung wird dabei nicht als unmittelbare Widerspiegelung der Realität verstanden, sondern als »Reflexionsmedium« (9) und kulturelles, auf seine Voraussetzungen hin zu befragendes Konstrukt. Zugleich erscheinen die Lutherbilder als »Testfall« (7) für die Grenzen historischer Dichtung.
Gleich zu Beginn konstatiert M. eine »große Diskrepanz von Quantität und Qualität« (1) in der Geschichte der Lutherbilder und verblüfft mit der These, nur sehr wenige Werke von literarischem Rang ragten aus der Flut mittelmäßiger Erzeugnisse hervor. Genannt werden Kleists Erzählung Michael Kohlhaas, ein kurzes Gedicht C. F. Meyers, ein geplantes, aber nicht geschriebenes Drama von Thomas Mann (Luthers Hochzeit) sowie ein Theaterstück von Dieter Forte und ein Roman von Stefan Heym. Da auch die weitgehend protestantisch geprägte Aufklärung, aber auch Klassik und Romantik kein bedeutendes Werk über den Reformator, einen der größten Sprachschöpfer Deutschlands, hervorgebracht haben, ist Luther nur selten zu einer zentralen Figur der deutschen Literatur geworden! Die auffallende Luther-Abwesenheit im 18. Jh. er­klärt M. mit dem Autonomieanspruch der klassisch-idealistischen Literatur und ihrer Ablehnung der lutherischen Orthodoxie.
Das weite Panorama der Lutherliteratur wird in 14 Kapiteln entfaltet, die, wie schon ihre Überschriften erkennen lassen, den chronologischen Verlauf mit thematischen Aspekten verschränken. Steht das 16. Jh. ganz im Zeichen der konfessionellen Propaganda der Flugschriften (I), so entstehen mit Thomas Murners antireformatorischer Satire Von dem großen Lutherischen Narren und Hans Sachs’ reformatorischem Lehrgedicht Die Wittenbergisch Nachtigall auch schon zwei literarisch anspruchsvollere Werke (II). Das 17. Jh. ist nur mit Martin Rinckarts Lutherdramen vertreten (III), während das Folgekapitel eine detaillierte Analyse der Lutherbezüge bei Lessing, Hamann, Herder, Schiller, Goethe, den Romantikern und Heinrich von Kleist enthält, der in Michael Kohlhaas kunstvoll-differenziert die Widersprüchlichkeit Luthers und Kohlhaas’ dargestellt habe. Zwischen nationalen und liberalen Tendenzen bewegen sich die Lutherbilder im 19. Jh. (V, VI), die dann 1871 in C. F. Meyers Luther-Gedicht aus Huttens letzte Tage ein gelungenes Exempel geschichtsphilosophischer Deutung bieten (VII). Neben der nationalistischen Inanspruchnahme Luthers vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit zeigt das 20. Jh. »eine generelle Lutherferne« (167), auch eine verstärkte Lutherkritik, die im katholischen Frankreich gar zur Gleichsetzung von Hitler und Luther (P. Claudel, 177) führte (VIII, IX). Den Wandlungen von Thomas Manns Lutherbild (der Reformator als der »dämonische Deutsche«, 191) bis hin zu seinem Komödienplan über Luthers Hochzeit mit Katharina von Bora, der DDR-Lutherliteratur und den »Luther-Entzauberungen« (227) in J. Osbornes und R. Hochhuths Dramen sind die Kapitel X–XII gewidmet. Mit Dieter Fortes dramatischer Reformationssatire Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung (1970/71) und Stefan Heyms den lutherischen Judenhass anprangerndem Roman Ahasver (1981) endet das Buch, das durch ein Literaturverzeichnis und ein hilfreiches Autoren- und Werkregister ergänzt wird.
M. gelingt es, die gewaltige Materialfülle der literarischen Lu­therbilder nach chronologischen, thematischen und genrespezifischen Aspekten aufzuarbeiten und die sich wandelnden Kontexte anhand von zahlreichen Beispielen zu dokumentieren. Auch wo der theologische Inhalt von Luthers Wirken in einer säkularisierten Welt seine Bedeutung verliert, bleibt der Reformator als eine in seiner Widersprüchlichkeit provozierende Figur in vielen literarischen Werken präsent. So gewährt die Abhandlung auch Einblicke in die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte, indem sie die pro- und antilutherische, emanzipatorische, politische oder distanziert-kritische Luther-Rezeption nachzeichnet und die Skala der Wertungen von der Glorifizierung bis zur polemischen, oft auch skatologisch-obszönen Diffamierung sichtbar macht. Die Grenzen der historischen Dichtung werden insofern deutlich, als Luthers religiöses Anliegen und seine geniale Sprachkunst kaum einmal eine adäquate Darstellung gefunden haben. Größere Lücken sind in der Arbeit nicht zu erkennen – allenfalls vermisst man bei Goethe den Hinweis auf Fausts an Luther angelehnte Übersetzung des Johannes-Evangeliums, und in der Bibliographie fehlt Günter Arnolds wichtiger Essay über Luther im Schaffen Herders von 1986. Den Ansichten M.s wird man nicht immer folgen können: Insbesondere bei der Analyse des Romans Ahasver verfließt die Grenze zwischen Bericht und wertendem Kommentar. Ist das Christentum nur ein von den Jüngern erdachter »Mythos«, eine Folge von »Fehlinterpretationen« jüdischer Quellen, und kann wirklich jeder gelehrte Jude »mit unwiderleglichen Argumenten« das christliche Glaubensgebäude »spielend leicht« (287 f.) umstoßen? Hier möchte man mit Herder entgegnen: »Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angriff derselben unterliegen« (SWS 5, 46)!