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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1289 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pirner, Manfred L.

Titel/Untertitel:

Musik und Religion in der Schule. Historisch-systematische Studien in religions- und musikpädagogischer Perspektive.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 492 S. gr.8 = Arbeiten zur Religionspädagogik, 16. Kart. DM 118,-. ISBN 3-525-61466-7.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Die mit dem Promotionspreis der Universität Bamberg ausgezeichnete Dissertation bei Prof. Dr. Rainer Lachmann aus dem WS 1996/97 will in interdisziplinärer und primär historischer Perspektive "einen propädeutischen Beitrag zu einer religionspädagogischen Theorie der Musik" leisten (35; 51; 407; 453).

Die 50seitige Einführung (Teil A) spiegelt interdisziplinär den aktuellen Diskussionsstand: 1. Musik in der Religionspädagogik- ein Überblick über neuere Veröffentlichungen (14-36), 2. Religion in der Musikpädagogik oder Gibt es ein musikpädagogisch-religionspädagogisches Gespräch? (36-50). Probleme bestehen nach Meinung des Vf.s besonders hinsichtlich der Spannung zwischen dem Eigenwert der Musik und der religionspädagogischen Funktionalisierung, der Vernachlässigung der nicht-wortgebundenen instrumentalen Musik durch die Religionspädagogik, einer ästhetisch-phänomenologischen und einer psychologisch-soziologischen Zugangsweise zur Musik und des Verhältnisses zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung. Der Dialog zwischen Religions- und Musikpädagogik bzw. -theorie erweist sich als unterentwickelt, der Religionsbegriff als ungeklärt, die historische Perspektive als völlig ausgeblendet.

Hier setzt der ca. 350seitige Hauptteil (Teil B): Zur Geschichte von Musik und Religion in der Schule an. Nach methodologischen Vorüberlegungen vor allem zur historischen Forschungsperspektive (51-56) folgen sechs Epochendarstellungen, jeweils durch eine präzise Zusammenfassung incl. anschaulicher Graphiken abgeschlossen: 1. Zur Vorgeschichte: Musik und Religion in der Schule von Luther bis zur Aufklärung (57-65), 2. Das Zeitalter der Aufklärung (66-121), 3. Pestalozzianismus, Neuhumanismus und Restauration (122-203), 4. Christliche Pädagogik und Herbartianismus (204-281), 5. Reformpädagogik und Nationalsozialismus (282-395), 6. Übergang zur Gegenwart: Die Entwicklung der fünfziger und sechziger Jahre im Überblick (396-406).

Eine Systematisierung aus der historischen Darstellung und damit das Ergebnis der Arbeit bietet Teil C: Systematisierung und Aktualisierung: Musik und Religion in der Schule - damals und heute (407-453), bevor Literaturverzeichnis (455-487) und Namenregister (488-492) den Band beenden. Aus dem Paradigma der kritischen Rationalität der Aufklärung gilt es, "das Bewußtsein der Ambivalenz von Religion und Musik in ihren lebensförderlichen, aber auch lebenszerstörerischen Potenzen" (409) aufzunehmen, etwa die kritische Reflexion über den Zusammenhang von Musik/Religion und Politik/Ideologie. Das rein Rationale ist aber zu ergänzen und zu überwinden durch partizipative Emotionalität im Gefolge Herders und der Romantiker: Sowohl für Musik wie für Religion ist das partizipative, "ansteckende", einfühlende und einübende Lernen grundlegend (413). Besonders von F. Schleiermacher und Chr. Palmer her leitet der Vf. dann die gemeinsame Aufgabe von Musikpädagogik und Religionspädagogik ab, "zu einer vertieften Wahrnehmung zu erziehen und somit eine Art Symbolerziehung zu leisten." (symbolische Perzeptibilität, 416 f.).

Schließlich gilt es, aus den historischen Perspektiven noch weitere Paradigmen aufzunehmen: bildende Aktivität (tätiges Einüben von Musik und Religion), substantielle Objektivität (Betonung der jeweiligen Autonomie von Musik und Religion) und anthropozentrische Subjektivität (Aufgabe der Vermittlung zwischen objektivem Sachanspruch und subjektiven Fähigkeiten). Nur wo diese historischen Paradigmen berücksichtigt werden, kann es zu einem angemessenen Verhältnis von Musikerfahrung und religiöser Erfahrung kommen. Dabei kann Musik Auslöser wie Qualifikator transzendenter Erfahrungen sein (423-430). Musik kann religiöse Erfahrung ausdrücken, differenzieren, in religiöse Erfahrung und religiöses Leben einstimmen und Lebenshilfe bieten. Insgesamt votiert der Vf. für eine kulturpädagogische Konzeption, die in enger Kooperation des Religionsunterrichts mit anderen Fächern der Verflechtung des Christentums mit der allgemeinen Kultur sorgfältig nachgeht. Das "Bemühen, in den Schülern ein grundlegendes, kulturhistorisch fundiertes Verständnis für den Zusammenhang von Musik und Religion anzubahnen, erscheint mir auch heute ein zentrales Erfordernis" (441). Endlich Zehn Thesen aus religionspädagogischer Perspektive: Wissenschaftstheoretisch 1. Nötig ist eine umfassende religionspädagogische Theorie der Musik. 2. Nur ein dialektisch-pluralistisches Musikverständnis führt aus der Aporie von Autonomie der Musik und ihrer Funktionalisierung durch die Religionspädagogik.3. Ziel ist die Humanisierung des Menschen. 4. Zur Vermittlung zwischen jugendlicher Lebenswelt und traditionellen Ansprüchen können "Musikerfahrung" und "Symbol" zentrale Kategorien bilden. Didaktisch: 5. Das Verstehen religiöser Musik bedarf des Wissens, des erfahrungsorientierten Kennenlernens und des kritischen Reflektierens. 6. Die Verbindung von Musik und Religion in der Schule umfaßt Aufnahme, Angebot und Aufklärung. 7. Transzendentalität und Religiosität von Musik sind christlich-theologisch zu erhellen. 8. Religionsunterricht versteht sich als uneigennütziger Dienst an der Humanität des Menschen auch in Sachen Musik. 9. Die Autonomie von Musik und Religion sind gegenseitig zu respektieren. 10. Musiklehrkräfte benötigen eine religiöse Grundbildung, Religionslehrkräfte eine musikalische.

Die Studie bietet wohl mehr als ihr Ziel einer Propädeutik. Hier werden nicht nur wesentliche Eckdaten einer religionspädagogischen Theorie der Musik historisch abgeleitet und systematisiert; sie bietet aus ihrer Perspektive auch eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Religionspädagogik, einen erfreulichen interdisziplinären Ansatz gegen die Entfremdung der Geschwister Musik und Religion (37), die Aufnahme der in allerjüngster Zeit neu aktuell gewordenen Diskussion um das Verhältnis von Musik und Religion (13) auch im Rahmen einer Wiederentdeckung der Ästhetik in der Theologie (14) und der Entdeckung der Popkultur sowie ein Ernstnehmen der Lebenswelten von Schülern (13 f.).

Der Bereich von Popmusik wird zwar aufgenommen (Teil A), die historische Forschungsperspektive, der Abschluß der Arbeit im Herbst 1996 und der Verzicht auf weitere Überarbeitung verhinderten aber eine intensivere Diskussion, die mittlerweile breit geführt wird, z. B. durch die Arbeiten von P. Bubmann, R. Siedler, H. Treml, B. Schwarze u. a. (vgl. dazu die Sammelrezension von Gerd Buschmann in ThLZ 124, 1999, 224-228).

Auch hier wäre die Arbeit fortzusetzen: Wie steht es etwa um die Wahrnehmung von Techno als jugendkultureller Instrumentalmusik (vgl. 34 These 2) in der Religionspädagogik? Reicht die Interdisziplinarität von Musik und Religion angesichts der zunehmend audiovisuellen Jugendkulturen und -musiken aus oder wäre sie nicht dringend um den Bereich der Bildkunst zu erweitern? - Wir werden also wohl über den Meilenstein dieser Studie eines Tages hinaus, aber sicherlich nicht hinter ihn zurückgehen können.