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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

106–108

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Küster, Konrad

Titel/Untertitel:

Musik im Namen Luthers. Kulturtraditionen seit der Reformation.

Verlag:

Stuttgart: J. B. Metzler Verlag; Kassel: Bärenreiter 2016. 319 S. m. Abb. Geb. EUR 34,95. ISBN 978-3-476-02681-1 (Metzler); 978-3-7618-2381-1 (Bärenreiter).

Rezensent:

Ute Poetzsch

In diesem Buch entfaltet Konrad Küster, Professor für Musikgeschichte an der Universität in Freiburg (i. Br.), dessen Forschungsschwerpunkt ausgehend von Heinrich Schütz hauptsächlich in der Musikgeschichte des 17. Jh.s liegt und der auch Beiträge zur Bachforschung und -popularisierung vorgelegt hat, seine Sicht auf die musikgeschichtlichen Entwicklungen der Kirchen- und geistlichen Musik seit der lutherischen Reformation bis zum Ende des 18. Jh.s mit knappen Ausblicken auf die Traditionen des 19. und 20. Jh.s.
Im Vorwort wird gefragt, was »lutherische Musik« sei, wie sie sich auf Luthers Wirken und seine Ideen beziehen lässt, sowie nach eventuellen »Langzeitwirkungen« der lutherischen Musikauffassung. So wird in den ersten Kapiteln eine Grundlegung versucht, wobei K. die durch die Reformation geänderten liturgischen Möglichkeiten beleuchtet (ein wichtiger Beitrag zur Schaffung einer lutherischen Liturgie wurde in Dänemark geleistet), Luthers eigene Musikanschauung erwähnt und die für die Musikausübung Verantwortlichen (Musikdirektoren, Stadtpfeifer, Kantoren, unterstützende Laien, Organisten) nennt.
Ein Kapitel ist der Orgelkunst und der norddeutschen Orgelkultur, wozu auch ein kurzer Abriss der Orgelbaugeschichte ge­hört, gewidmet. Damit gerät der Organist in den Blick, der als gestaltungswilliger Künstler wahrgenommen und gegenüber dem Kantor, der als Lehrer für die Schaffung von musikalischen Grundlagen bei Laien (vor allem Schülern) zuständig war, profiliert wird. Bereits hier wird deutlich, dass K. aus seiner Sicht bisher zu wenig berücksichtigte Aspekte stärken möchte – nämlich die offensichtlich durch die Orgel geprägte Musikkultur in den lutherischen Regionen Nordwest- und Norddeutschlands, die als wichtige Region europäischen Kulturtransfers gezeigt wird.
Ein weiteres Kapitel befasst sich mit den an der Motettensammlung »Florilegium Portense« abzulesenden Bemühungen um die Schaffung eines originär lutherischen kirchenmusikalischen Kanons. Dabei zeigt sich, dass schon im 16. Jh. die konfessionelle Herkunft von Kompositionen eine untergeordnete Rolle spielte. Zusammenhänge von Religionspolitik und Kirchenmusik im 17. Jh. werden am Beispiel der Person und des Werkes von Heinrich Schütz abgehandelt, womit die großen Druckwerke von Schütz in einen direkten Zusammenhang mit dem politischen Handeln seiner sächsischen Dienstherrn gebracht und als von diesen sogar als erwünscht interpretiert werden.
Der Faktur von geistlicher und Kirchenmusik als Aria (etwa mit Texten von Johann Rist), Dialog und Kantate wenden sich weitere Kapitel zu. Dabei ist der Begriff der musikalischen Aria nicht identisch mit dem gleichlautenden literarischen Begriff, der im 17. Jh. auch Ode oder Lied bezeichnen konnte. Den »Erfolg« des neuen als »Aria« bezeichneten Liedes bringt K. mit der in Italien entwickelten Variationen-Aria zusammen, in der die Musik von Strophe zu Strophe wechseln kann und instrumentale Anteile eingeführt werden; möglicherweise liege hierin ein Schlüssel für das Verständnis des Phänomens Kirchenlied. Die Aria, in späterer Kombination »Concerto cum Aria« mit einem als Concerto vertonten Bibelspruch, und Dialog werden eingehend beschrieben, um sie als Quellen für die Genese der neuen Kirchenmusik des 18. Jh.s, die heute so genannte Kantate, in Anspruch zu nehmen.
Ein ganzes Kapitel ist Johann Sebastian Bach als Organisten und Kirchenmusikkomponisten gewidmet. Hier geht K. von einem traditionellen Bachbild aus, das durch die philologischen Forschungen und Erkenntnisse des 20. Jh.s erschüttert worden sei. In die Darstellung werden des Weiteren die oft diskutierten Arbeits- und Aufführungsbedingungen Bachs in Leipzig analysierend einbezogen und interpretiert.
Im Schlusskapitel werden die Entwicklungen des späten 18. Jh.s mit aufkommenden ästhetischen Fragestellungen in den Blick genommen. Nach 1800 gab es dann neue Strukturen und Berufsbilder für die Kirchenmusik, die sich im Laufe der sich anschließenden Jahrhunderte noch einmal wandelten.
Ergänzt wird die Darstellung durch verdeutlichende und illus­trierende Musikanalysen, was bei den eher unbekannten Kompo-sitionen instruktiv erscheint. Bei bekannten Kompositionen von
J. S. Bach (Actus tragicus, Matthäuspassion, Weihnachtsoratorium) belasten sie die Darstellung eher, auch wenn wichtige aufführungspraktische Aspekte einfließen. Ebenso entfernt sich die Diskussion über eine Bach zugeschriebene Tabulaturhandschrift, die im Haupttext und in den Anmerkungen geführt wird, vom Thema des Buches, womit K. auch hier weit in die spezialisierten Kontroversen der Bachforschung hineingeht.
Erklärte Intention K.s war es, die Geschichte der lutherischen Musik neu zu beschreiben, indem er bislang weniger oder ungenügend beleuchtete Themenfelder berücksichtigt. Daher fasst er aus seinen Forschungen resultierende Einzelerkenntnisse zusammen, die vor allem die hochstehende norddeutsche Orgelkultur in ihrem Austausch mit den angrenzenden Regionen (vor allem Dä­nemark) betreffen, die er der als dominierend empfundenen mitteldeutschen Kantorengeschichte gegenüberstellt, und hebt die musikgeschichtliche Bedeutung der Komponisten-Kapellmeis­ter des späten 17. Jh.s an norddeutschen Höfen hervor, wofür vor allem Johann Philipp Förtsch steht. Der Stärkung der historischen Be­deutung des Organistenberufs entspricht dann auch die aus Indizien abgeleitete Konstruktion des Orgelvirtuosen Heinrich Schütz.
Trotz aller Wissenschaftskritik und vielfältiger Differenzierung im Detail steht K. ganz auf dem Boden der aus dem 19. Jh. übernommenen und nicht erst in neuerer Zeit aus guten Gründen kritisierten Musikgeschichtsschreibung. In dieser Tradition werden geradlinige Entwicklungen konstruiert, die als Nebenströme in einen Hauptstrom münden, der in Richtung Bach fließt. In dieser Hinsicht stützen die neuen Informationen und Detailerkenntnisse das »traditionelle Geschichtsbild« (189) und legitimieren es dadurch noch einmal. Auch bei K. entwickelt sich die protestantische Kirchenmusik ausgehend von Luther, schließt die Orgelbau- und Orgelspielkunst des 16. und 17. Jh.s ein, manifestiert sich – das ist K.s wichtiger Beitrag – in diversen Kompositionen der zweiten Hälfte des 17. Jh.s, nachdem es einen ersten Höhepunkt in der Person des Hofkapellmeisters Heinrich Schütz gegeben hatte. Die zweite Gestalt, die historisch übermächtig erscheint, ist in diesem musikgeschichtlichen Modell dann folgerichtig (und unhinterfragt) Johann Sebastian Bach.
Im Vorwort weist K. darauf hin, dass auch eine »Sachdarstellung nie völlig objektiv sein kann«, da jeder »Zugang, erst recht jede Interpretation« subjektiv sei (11). Dies zeigt sich auch am Literaturverzeichnis, stellvertretend für Fehlendes sei auf die grundlegende und umsichtige Untersuchung von Irmgard Scheitler »Das geistliche Lied im deutschen Barock« und die Arbeiten von Patrice Veit verwiesen.
K. hat ein Lesebuch vorgelegt, das auf der Grundlage eines klassischen musikhistorischen Modells eine demgegenüber zwar mo­dernisierte, doch ebenso geschlossene Erzählung bereitstellt, die durchaus spannende Einzelheiten und Anregungen enthält.