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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

100–103

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rieger, Klaus-Dieter

Titel/Untertitel:

Heiliger Geist und Wirklichkeit. Erich Schaeders Pneumatologie und die Kritik Karl Barths.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. X, 399 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 176. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-047483-1.

Rezensent:

Christian Danz

Der Pneumatologie des in Königsberg, Göttingen, Kiel und Breslau Systematische Theologie lehrenden Erich Schaeder, der heute weitgehend vergessen ist, widmet sich die hier anzuzeigende Studie von Klaus-Dieter Rieger. Bei der Untersuchung handelt es sich um eine an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Sommersemester 2015 angenommene Dissertation, die von Eberhard Jüngel angeregt und in der Schlussphase von Christoph Schwöbel betreut wurde.
Schaeder, dessen theologische Wurzeln in der modernen bib­lisch-positiven Theologie Hermann Cremers, Martin Kählers und Adolf Schlatters liegen, legte mit seiner Theozentrischen Theologie, deren erster Band 1909 und der zweite fünf Jahre später erschien, einen in den zeitgenössischen Debatten breit diskutierten Entwurf vor. Die systematische Grundlage dieser theozentrischen Theologie, die sich von vermögenstheoretischen Religionsbegriffen ab­setzt und den Vollzug des Glaubens theologisch be­schreibt, stellt die Pneumatologie dar. Die theozentrische Fassung des Glaubensbegriffs trifft sich mit Intentionen der dialektischen Theologie Karl Barths und Friedrich Gogartens, die jedoch Schaeders Theologie ihrerseits der Kritik unterzogen. Vor diesem theologiegeschichtlichen Hintergrund rückt R. die Geistlehre Schaeders in den Fokus seiner Untersuchung und deutet diese als »Antwort auf die Grundlagenkrise der Theologie nach dem Ersten Weltkrieg« (V). Der Gottesgeist wird bei Schaeder zum Ausgangspunkt der theologischen Reflexion und im Unterschied zur dialektischen Theologie Barths als Einheit und Differenz von Gott und Mensch gefasst, so dass »Gottes absolute Majestät« sowie »dessen unüberbietbare Nähe gewahrt bleibt« (4). In dem der Pneumatologie zugeschriebenen grundlegenden Status liege die »hohe Aktualität und Relevanz« (4) von dessen Konzeption auch für die gegenwärtigen Debatten über den Gottesgeist. R. verbindet in seiner Untersuchung ein theologiegeschichtliches mit einem systematischen Interesse.
Untergliedert ist die Studie in vier Hauptteile. Der erste Teil Heiliger Geist und Lebenswirklichkeit Erich Schaeders (7–96) bietet einen Überblick über die intellektuelle Biographie Schaeders. Darauf folgt zweitens eine Rekonstruktion der systematischen Grundlagen von dessen Pneumatologie (Heiliger Geist und Wirklichkeit, 99–308). Teil 3 diskutiert Karl Barths Kritik an Schaeders Entwurf (311–342), und der abschließende vierte Teil diskutiert in Thesen Die Bedeutung der Pneumatologie Erich Schaeders (345–356).
Der erste Teil der Studie bietet einen zusammenfassenden Überblick über den Werdegang Schaeders. Motiviert ist der Abschnitt dadurch, dass der Theologe dem theologiegeschichtlichen Be­wusstsein nicht mehr präsent ist. R. zieht für seine Darstellung des Lebenswegs des 1861 geborenen und 1936 gestorbenen Schaeder Archivmaterialien heran und verortet ihn in den zeitgenössischen theologischen Kontroversen. Dem Leser werden viele Details geboten, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden können. Die biographischen Ausführungen werden zwar auf das Geistthema zugespitzt und dessen Entwicklung in den Schriften nachgezeichnet, aber eine systematische und problemgeschichtliche Perspektive auf die Pneumatologie in der Theologie der zweiten Hälfte des 19. Jh.s tritt in der Darstellung dann doch zurück.
Der umfangreiche zweite Hauptteil der Untersuchung rekonstruiert die systematischen Grundlagen der Geistlehre Schaeders, wobei dieser selbst ausführlich durch zum Teil sehr lange Zitate zu Wort kommt. Gegliedert ist die Darstellung in zwei Kapitel. Zu­nächst werden die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theologie Schaeders vorgeführt (Erkenntnistheoretische Grundlegung und Begriffsklärung, 99–170), und sodann wird vor diesem Hintergrund die Pneumatologie dargelegt (Heiliger Geist und Wirklichkeit Gottes, 171–308). Schaeder nimmt in seine Glaubenstheologie, die von einem theologisch beschriebenen Glaubensvollzug ausgeht und diesen Vollzug als Offenbarung bzw. als Selbstmitteilung Gottes versteht, die Erkenntniskritik Kants auf (100–123). Der menschlichen Vernunft ist Gott unerkennbar. Gotteserkenntnis, die also keine theoretische Erkenntnis ist, ist nur im und als Vollzug des Glaubens möglich, in dem »die für den menschlichen Erkenntnisakt grundlegende Subjekt-Objekt-Relation im Sinne einer Umkehr oder Inversion grundlegend neu konstituiert wird« (101). Damit ist die Konsequenz verbunden, dass Theologie keine Wissenschaft ist (101–105), aber da sie mit dem Glauben die Wirklichkeit Gottes thematisiert, ist sie für die Wissenschaften notwendig (vgl. 105). Die theozentrische Fassung des Glaubens impliziert eine Kritik an Schleiermachers Konzeption (123–156). Zwar teilt Schaeder mit dem Berliner Theologen den Ansatz beim religiösen Subjekt, aber dessen Gottesbegriff erreiche nicht die Wirklichkeit Gottes, da diese lediglich im Rückschluss aus dem frommen Bewusstsein gewonnen werde und nicht als Selbstmitteilung Gottes, die der Glaube ist, in den Blick kommt.
Die an die erkenntnistheoretischen Erörterungen anknüpfenden Ausführungen zur Pneumatologie sind in drei Abschnitte untergliedert. R. setzt mit dem Glaubensbegriff Schaeders ein (Der Glaube als direktes Wirklichkeitsverhältnis, 171–234), dessen Aufbauelemente ausführlich diskutiert werden. Der Vollzug des Glaubens, der als an das Wort Gottes gebundene Selbstvergegenwär­tigung Gottes (173) verstanden wird und deshalb nicht aus anthropologischen Voraussetzungen ableitbar ist, ist die wahre Kons- titution des Menschen. Der Glaube ist einerseits unableitbar und andererseits an seinen Vollzug gebunden und nur als solcher wirklich (177). Diese Struktur fasst Schaeder als Einheit und Differenz von Gott und Mensch im Glaubensakt, und sie stellt zugleich die Grundlage seines »pneumatische[n] Theozentrismus« (156) dar. Schaeder bindet die Gotteserkenntnis nicht nur an den Vollzug des Glaubens, er konstruiert dessen soteriologische Dimension auch in einer kosmologischen Dimension (198–201), woraus eine Kritik an soteriologischen Engführungen der Religion resultiert (vgl. 255 f.).
Das »Wesen« des Heiligen Geistes erörtert der zweite Unterabschnitt (235–286), und der abschließende dritte thematisiert die Trinitätstheologie (Heiliger Geist, Jesus Christus und Gott – Trinitätstheologische Überlegungen, 286–308). Mit der Erörterung des Glaubensbegriffs und seiner Struktur sind die Grundlagen der Pneumatologie bereits dargelegt, so dass Glaube und Geist sich entsprechen. Das »›Wesen‹ des Heiligen Geistes« wird von »der Glaubenserfahrung und damit von der Wirksamkeit des Heiligen
Geis­tes her« expliziert (236). Mit dem Heiligen Geist thematisiert Schaeder die geschichtliche Realisierung der theozentrisch als Glaube gedeuteten Religion (295–298). Sie ist nicht nur an das Wort Gottes gebunden, Christus als »Urform« des Wortes Gottes normiert zugleich den Glauben (243). Die Grundstruktur des Geistes, Einheit und Differenz, Nähe und Ferne Gottes im Vollzug des Glaubens zu sein, die stets durch die Urform des Wortes Gottes, also durch die Christologie bestimmt ist, wird von R. anhand von
Schae­ders Verständnis des Wortes Gottes, der Heiligen Schrift, der Sakramente und schließlich der Kirche weiter ausgeführt. Die Trinitätslehre, die R. im dritten Unterabschnitt dieses Kapitels darstellt, fasst die Struktur des Glaubensbegriffs zusammen (286 f.). Gegenüber der ökonomischen Trinität tritt die immanente zurück. Der Geist verwirklicht Christus – der selbst als Träger des Geistes konstruiert wird und auf diese Weise als geschichtliche Verwirklichung des theozentrischen Glaubens fungiert – in der Geschichte. »Der Heilige Geist repräsentiert als Gesandter den abwesend Sendenden. Als Abwesender ist Jesus Christus durch den Heiligen Geist anwesend.« (297)
Die Kritik Barths an der theozentrischen Theologie Schaeders ist das Thema des dritten Hauptabschnitts. R. fokussiert diese Auseinandersetzung auf die Frage, ob Barths Kritik, bei Schaeders Theologie handle sich um Neuprotestantismus, berechtigt sei. Eine Entkräftung der Kritik würde, so die Hoffnung R.s, »auch einen Beitrag zur theologischen Rehabilitierung Schaeders leisten« (311). Zwei Aspekte werden unter dem Stichwort ›Neuprotestantismus‹ be­handelt, nämlich die mit diesem verbundene »Aufhebung der ›Subjektivität Gottes‹« sowie der »›Gottesbeweis des Cartesius‹« (315). Im Ergebnis aber werden beide Kritikpunkte Barths Schaeder nicht gerecht (341). In Form von 19 Thesen fasst schließlich der vierte Hauptteil die Untersuchung zusammen und benennt die Bedeutung der theozentrischen Pneumatologie Schaeders für die gegenwärtige Theologie.
Insgesamt hat R. eine detaillierte und materialreiche Untersuchung zur Geistlehre Schaeders vorgelegt, die den Versuch unternimmt, dessen Theologie dem Vergessen zu entreißen. In der Rekonstruktion der theozentrischen Pneumatologie tritt jedoch der problemgeschichtliche Hintergrund der theologischen Debatten um 1900 zurück. Das führt dazu, wie insbesondere das Kapitel über die Kontroverse zwischen Schaeder und Barth deutlich macht, dass alte Grabenkämpfe noch einmal neu aufgelegt werden. Weiterführend wäre eine stärker argumentationsanalytische Rekonstruktion von Schaeders theozentrischer Pneumatologie gewesen, die deren systematische Konstruktion des an seinen unableitbaren Vollzug gebundenen Glaubens in seiner Bindung an die Geschichte durchsichtig macht.