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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

96–98

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gollnau, Jeremias

Titel/Untertitel:

Abwendung von der Gottesgemeinschaft. Luthers Sündenbegriff in der Großen Genesisvorlesung (1535–1545).

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XI, 355 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 177. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-049456-3.

Rezensent:

Anne Käfer

Eine umfangreiche Abhandlung zu Luthers Sündenbegriff in dessen »Großer Genesisvorlesung« hat Jeremias Gollnau als Dissertationsschrift in Tübingen vorgelegt. Bereits im Titel seiner Veröffentlichung ist die These genannt, die verifiziert werden soll: »Sünde wird bei Luther nicht primär als Verstoß gegen eine göttliche Ordnung begriffen, als bloßer Ungehorsam des Menschen gegenüber dem ihm auferlegten Gesetz, sondern vielmehr als Abwendung von der Gottesgemeinschaft.« (1) Sünde sei nach Luther Abwendung von Gottes Zuwendung, die von prinzipieller und durchgängiger Gemeinschaftsabsicht gegenüber den menschlichen Geschöpfen bestimmt sei.
In fünf Kapiteln geht G. seiner These nach. Seine Ausführungen beginnt er mit einem hinführenden Referat einiger Positionen der Lutherforschung zu Luthers Hamartiologie und Schöpfungslehre. Auch grundlegende Annahmen zu Luthers Schriftverständnis legt G. einleitend dar, da er Luthers Sündenverständnis anhand von Luthers Schriftauslegung oder genauer anhand von dessen Auslegung entsprechender Texte der Genesis gewinnen will. Für G. ist entscheidend, dass nach Luther »die Schrift nur einen einzigen Sinn [hat], nämlich […] den buchstäblich (!), wörtlichen« (22). Demgemäß zeige sich nach Luther das Wesen der Sünde »im Text selbst« (25). Das für Luther angenommene Schriftverständnis beabsichtigt G. bei seiner Interpretation, auf Luthers eigenen Text, auf Luthers Genesisvorlesung hin anzuwenden. »Nicht hinter, sondern in Lu­thers Erzählung des biblischen Sündenbegriffs soll versucht werden, seine Hamartiologie zu greifen und zu beschrieben [!]. Die Erarbeitung von Luthers Sündenbegriff in der Vorlesung zum Buch der Genesis ist also nicht in einer gesondert zu suchenden Tiefe von Luthers Text, sondern an dessen ›Oberfläche‹ vorzunehmen.« (26)
Im ersten Kapitel handelt G. von der Zuwendung Gottes zu dessen Geschöpf, die auf Gemeinschaft ziele. Durch Schöpfung, Versöhnung und Vollendung, die als einheitliches Handeln Gottes herausgestellt werden, solle die erstrebte Gemeinschaft wirklich werden. Dabei hebt G. hervor, dass nach Luther die durch Gottes Wort gewirkte Schöpfung von guter Beschaffenheit sei. Im Urstand dieser Schöpfung befinde sich das menschliche Geschöpf zu Gott hingewendet, weil die menschliche voluntas unversehrt sei. Allerdings halte Luther »die Unfreiheit des Willens schon im Blick auf den urständlichen Menschen« fest (71).
In Kapitel 2 stellt G. Luthers Auslegung der »Sündenfallerzählung« dar (123). Die in Gen 3 beschriebene Sünde vollziehe sich als »Abwendung vom Wort« (125), welche durch den Satan motiviert sei, dessen Verführungsmacht zu Verblendung und Sündenblindheit führe (130). Im Blick auf die theologische Bedeutung des Sündenfalls sei für Luther ausgemacht, dass der Fall Adams der Fall aller einzelnen Menschen sei; es sei »jeder Einzelne im Fall Adams schon präsent« (137). So sei ein jeder Einzelne immer zugleich selbst schuldig an seiner Sünde und doch auch dadurch der Sünde ausgeliefert, dass er als Erbe Adams geboren werde und so unter der Macht der Sünde lebe. Entsprechend stellt G. eine »Spannung« fest »zwischen der Beschreibung der Sünde als eigener Tat des Menschen einerseits und als einer ›von außen‹ ihn gefangen nehmenden Macht andererseits« (133).
Nicht allein allerdings in der »uranfänglichen Abwendung von Gottes Wort«, für die der Fall Adams stehe, zeige sich nach Luther das Wesen der Sünde, sondern vor allem in der Abwendung von der versöhnenden Zuwendung Gottes zum Sünder (165). G. hält fest: »Gerade als Abwendung von Gott als dem Versöhner kommt Luthers Sündenbegriff in besonderer Pointiertheit ans Licht.« (165)
Sünde geschehe gerade auch dann, wenn das dem Gesetz verbundene Evangelium zwar vernommen sei, jedoch nicht angenommen, sondern vielmehr mit Hybris abgewiesen werde, oder wenn mit Furcht auf die Gesetzesforderungen Gottes reagiert werde. Die Abwendung von der im Evangelium angebotenen Gottesgemeinschaft vollzieht sich nach G.s Interpretation entweder aufgrund einer ausschließlichen Fokussierung auf das Gesetz. Die dadurch bedingte Verzweiflung führe zur »Flucht vor Gott« (167); hiervon handelt G. in Kapitel 3. Die Abwendung könne aber ebenso dadurch verursacht sein, dass das Gesetz nicht beachtet werde und sich ein Mensch in hochmütiger Weise und sündiger Selbstliebe selbst vergotte (Kapitel 4).
Im fünften Kapitel befasst sich G. mit den Auswirkungen der Sünde auf das Zusammenleben des Sünders mit seinen Mitmenschen und der Welt insgesamt. Die »Tatsünden«, die dieses Zusammenleben prägten, würden »ausschließlich dann adäquat erfasst, wenn sie unmittelbar eingebunden in den Unglauben als die den Menschen im gesamten Vollzug seiner Existenz miteinbeziehende Lebensbewegung begriffen werden« (277). Die Gottesbeziehung werde nämlich dadurch verletzt, dass ein Mensch seine Mitmenschen und die Welt nicht als Gottes Gaben und in ihrer Güte wahrnehme.
Die von G. durchgeführten Unterscheidungen zum Verständnis von Luthers hamartiologischen Ausführungen sind hilfreich für deren Nachvollzug. Sie gehen einher mit der festgestellten Spannung zwischen der Beschreibung von Sünde als eigener Tat und fremder Macht. Gleichwohl bezeichnet G. Sünde durchgehend und im Titel seiner Arbeit als »Abwendung« des Menschen. Es ist ihm daran gelegen, Sünde als Bewegung von Gott weg darzustellen. Seine Interpretation ist geprägt vom Verständnis der Sünde als der Bewegung des Menschen, die sich in einer durch Furcht bedingten Flucht vor Gott oder in einer von Hochmut bestimmten Abkehr von Gott vollziehe.
Jedoch weist G. auch darauf hin, dass Sünde als gefangennehmende Macht wirksam sei, die einen Verblendungszustand bedinge, in dem ein Mensch wie in einem circulus vitiosus gehalten werde. Hierzu führt G. Belegstellen an, die vom Einfluss Satans handeln, welcher über einen Menschen mächtig sei, wenn Gott der Heilige Geist diesen Menschen verlassen habe. Wissenswert wäre nun gewesen, wie Luther die Abwesenheit des Heiligen Geistes als Ursache der Sünde im Zusammenhang seiner Theologie begreift. Dazu hätte Luthers Verständnis der Allmacht Gottes, das für seine Hamartiologie entscheidend ist, thematisiert werden können. Klarheit darüber, wie Luther Gottes Allmacht fasst und welche Macht er für den Menschen annimmt, könnte eine tiefere Einsicht in Luthers Sündenlehre eröffnen. Dabei könnte sich die Rückfrage ergeben, ob ein Mensch, dem Gottes versöhnende und erlösende Zuwendung offenbar geworden ist, so dass der unfreie Wille dieses Menschen von Gott dominiert wird, sich von seinem Schöpfer tatsächlich noch abwenden kann oder will.
Sehr zu würdigen ist G.s Aufweis, dass nach Luther der Dreieinige in ewigtreuer Identität mit sich selbst an seinen menschlichen Geschöpfen handele. So müsse Gottes Zorn über den Sünder stets als von der »unvergleichbar viel größeren Gnade und Güte« Gottes umfasst gedacht werden (154). Denn für Luther sei ausgemacht, dass Gottes »Wille zur Gemeinschaft mit seinem Geschöpf die Anlage zur Überwindung der Verletzung jener Gemeinschaft durch die destruktive Kraft der Sünde immer schon in sich trägt« (320). Dass in Luthers Theologie die Treue und der Gemeinschaftswille Gottes dessen Beziehung zum Menschen ungebrochen bestimmen, ist ein Forschungsergebnis, das es zu rezipieren gilt.