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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

91–92

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bruhns, Hinnerk

Titel/Untertitel:

Max Weber und der Erste Weltkrieg.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. VIII, 221 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-152542-1.

Rezensent:

Konrad Hammann

Am 2. August 1914, einen Tag nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Russland, meldet sich der Leutnant der Reserve Max Weber beim Garnisonskommando Heidelberg zum Dienst. Doch zu seiner großen Enttäuschung wird er als untauglich für den Einsatz an der Front eingestuft und stattdessen mit der Leitung der Reservelazarette in Heidelberg beauftragt. Dies passiert ausgerechnet ihm, der den Krieg anfangs in Briefen wiederholt als »groß und wunderbar« bezeichnet. Doch derselbe Max Weber verweigert sich dem »Krieg der Geister«, dem viele seiner Kollegen sich verschreiben. Diese Ambivalenz und weitere Widersprüche in Webers Einstellungen und Verlautbarungen zum Ersten Weltkrieg bilden den Leitfaden, an dem Hinnerk Bruhns sich in seiner Darstellung orientiert. Dabei setzt B. nicht mit der Rekapitulation der Kriegsbegeisterung Webers in den ersten Kriegsmonaten ein, sondern mit der Rekonstruktion seiner öffentlich ab Ende 1915, hauptsächlich aber von 1916 an geäußerten Vorstellungen zum Frieden und zu einer europäischen Nachkriegsordnung. Er begründet diesen methodischen Zugang zu seinem Thema plausibel damit, dass auf diese Weise das auf »Krieg, Niederlage, Revolution und Neuordnung des Staates« ausgerichtete politische Denken des kritisch-analytisch vorgehenden Soziologen und Nationalökonomen allererst in den Blick gerate (199).
Das 1. Kapitel handelt von Webers politischen Diagnosen und Prognosen 1916–1919. Er lehnte eine Annexionspolitik des Deutschen Reiches ab, den verschärften U-Boot-Krieg ebenso, beides, weil es dem deutschen Machtstaat in seiner geopolitischen Lage zutiefst schade. Da Deutschland »seit langem von Feinden eingekreist« (30) sei – so das verbreitete Stereotyp –, müsse es zu einer politischen Kriegsführung gelangen, die »Ideen von 1914« – so das von dem Nationalökonomen Johann Plenge erfundene Schlagwort – als Konstrukt ignoranter Literaten entlarven und durch die nüchterne Wahrnehmung der kriegsbedingten politischen, ökonomischen und sozialen Verwerfungen ersetzen. In Webers Vorstellungen zur Zukunft der deutschen Nation nach dem Krieg bildeten »das gleiche Wahlrecht und die Parlamentarisierung Deutschlands« (53) wesentliche Elemente, dazu traten die Warnung vor einer weiteren Vorherrschaft Preußens im deutschen Nationalstaat und die Erwartung einer nicht von den Kriegsgewinnlern, sondern vom breiten Bürgertum getragenen neuen ökonomischen Ordnung. Der Gelehrte selbst aber schwankte, ob er zumal nach dem Kriegsende dauerhaft jene harten Bretter bohren wollte, die das politische Engagement für ihn bedeutet hätte.
Im 2. Kapitel befasst B. sich mit Webers wissenschaftlicher Ar­beit im Krieg. Zwischen 1915 und 1918 veröffentlichte der Sozialökonom im »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« seine Aufsätze zur »Wirtschaftsethik der Weltreligionen«, ohne dass er seine politischen Ambitionen ganz aufgegeben hätte. Die auch im »Archiv« vertretene These von gravierenden Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf das bestehende Wirtschaftssystem teilte er nicht. Seine eigene Deutung des Weltkrieges als Siegeszug der rationalen, bürokratischen Organisationsform aller Sozialstrukturen berührte sich mit Emil Lederers »Soziologie des Weltkrieges«. An einer Pflege internationaler wissenschaftlicher Beziehungen im Krieg zeigte Weber sich, wie er dem Wahlitaliener Robert Michels zu verstehen gab, nicht interessiert.
Im 3. Kapitel schließlich arbeitet B. luzide die Bedeutung zentraler Begriffe der Kriegspublizistik und Soziologie Webers wie Ehre, Schicksal und Geschichte heraus. In mehreren Kondolenzschreiben deutete Weber den Tod auf dem Schlachtfeld als einzig menschenwürdigen Tod, dessen Sinn darin bestehe, dass er für etwas, nämlich wie der Krieg für die Ehre, für den deutschen Nationalstaat geschehe. Im Übrigen bediente er sich einer Sprache, die der zeitgenössischen Kriegspropaganda sehr nahekam. Die Darstellung B.s mündet in eine Aporie. Diente Webers Engagement für die Demokratie primär »der Machtsteigerung des deutschen Nationalstaates« (so W. Mommsen, zit. 190)? Sah er sich selbst als Gelehrtenpolitiker, als engagierten Beobachter, als Unheilspropheten gleich denen des alten Israel oder – nach der Katastrophe – als Ge­setzgeber (vgl. 197 f.)? B. lässt die Frage offen und vermeidet es so, die Spannungen und Widersprüche in Webers politischen und soziologischen Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg, gewiss auch die Zerrissenheit in seiner Person, aufzulösen.
In seinem insgesamt instruktiven Buch profiliert B. mehrfach Positionen Webers in Abgrenzung zu Voten der evangelischen Theologen Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch. Dies mag im Einzelfall gerechtfertigt sein. Nur wird dies Verfahren den Stellungnahmen Harnacks und Troeltsch im und zum Ersten Weltkrieg ganz sicher nicht gerecht. Aber für die sie leitenden religiösen Motive hatte ja schon der Analytiker der »entzauberten Welt«, der sich in einer Gott entfremdeten, »prophetenlosen« Zeit wähnte, keinen Blick (180).