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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

88–90

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Bendel, Rainer, u. Josef Nolte [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Befreite Erinnerung. 2 Teilbde. Teilbd. 1: Region – Religion – Identität: Schlesische Prägungen.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2017. 252 S. = Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 26. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-13126-3. Teilbd. 2: Region – Religion – Identität: Tübinger Wege. Münster u. a.: LIT Verlag 2017. 272 S. = Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 28. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-13311-3.

Rezensent:

Manfred Richter

Dieser Doppelband in einer Studien zum Schicksal, zur Mentalität und zur kirchlichen Integration von in der Nachkriegszeit aus dem ehemals deutschsprachigen Schlesien Vertriebenen gewidmeten Reihe würdigt einen ihrer Herausgeber, der sich hier durch hellsichtige Detailstudien und ausgreifende Kontext-Analysen Verdienste erworben hat. Darüber gibt das eine frühere Aufstellung von 2000 ergänzende und bis 2016 fortgeführte Werkverzeichnis Auskunft. Während der eine Teil der Beiträge seiner eigenen schlesischen Herkunft gedenkt, umkreist der andere seine späteren »Tübinger Wege«, die er, zusammen mit den Freunden, als Inhaber des kirchengeschichtlichen, mit dem Auftrag für Regionalgeschichte verbundenen Lehrstuhls seines verehrten Lehrers Karl August Fink beging, vom Persönlichen, Örtlichen, Regionalen aus den Blick in die Weite eröffnend.
Diesen hatte er soeben geehrt durch die Herausgabe seiner Studien zum Konstanzer Konzil, welche dessen jahrhundertelange (Fehl-)Bewertung korrigieren, pünktlich zur 600-Jahrfeier (vgl. ThLZ 142 [2017] 5, 576). Nun gestalteten dem Octogenarius Freundinnen und Freunde das hier dokumentierte Symposion in einem europäischer Nachdenklichkeit gewidmeten Tagungszentrum in Bad Niedernau im August 2016. Passend verweist der Titel im Zu­sammenhang mit »Religion« auf deren Konkretionen und Variationen in der »Region« und wiederum deren Beitrag zur alten, verlorenen oder neu zu erwerbenden Identität, sei es schon immer Ansässiger, aus »Heimaten« Vertriebener oder Neu-Ansässiger – heute erneut als gesellschaftspolitisch brisantes Problem erkannt.
Sinnvollerweise kreisen die Beiträge um das dem Geschichtsforscher aufgetragene Thema der, eine Formulierung des Geehrten aufnehmend, »befreiten Erinnerung«. Es wird im letzten der Beiträge eine abrupte Zuspitzung finden.
In dem auf Schlesien bezogenen Band würdigt der Kollege, heutiger polnischer Bischof von Gliwice/Gleiwitz, Jan Kopiec Köhlers Verdienste um die Erforschung der Geschichte der einstigen Breslauer Diözese, die er mit seiner Dissertation »Das Ringen um die tridentinische Erneuerung im Bistum Breslau« 1973 begann und seither in Verbindung mit der Herausgabe des »Archivs für schlesische Kirchengeschichte« immer weiter vorantrieb. Nur ein Beispiel: seine Beiträge zur Rehabilitierung des 1926 amtskirchlich in Un­gnade gefallenen Priester-Autors Joseph Wittig, hier von Karl-Josef Kuschel aufgegriffen.
Biographische Erinnerungen (Monika Taubitz, zu Köhler selbst durch Bruni Adler, Alois Irmler und Matthias Spranger) werden ergänzt durch kulturgeschichtliche Hinweise zur Heiligenverehrung (Edyta Gorząd-Biskup), zu Biographien von Künstlern (Helmut Scheunchen: »Geduppelt« = Doppelbegabungen), Gelehrten (Małgorzata Ruchniewicz: Franz Volkmer, 1846–1930) und Politikern (Norbert Conrads: zum Breslauer Domherrn Nikolaus von Troilo, 1582–1640), auch mit der Würdigung des »Cherubinischen Wandersmanns« Angelus Silesius (Anna Manko-Matysiak). Und ist der oberschlesische Sankt Annaberg noch immer ein Ort »pulsierender geschichtlicher Wunden« (Monika Czock), so wurde in der niederschlesischen Metropole Wrocław ge­meinsames Denken zurück wie nach vorne möglich, wie die ökumenische Initiative zum Mahnmal für einen evangelischen deutschen Märtyrer in seiner Geburtsstadt zeigt: »Dla Dietricha Bonhoeffera/Für Dietrich Bonhoeffer«, nahe Sv. Elzbiety (Manfred Richter).
In das Umfeld Schlesiens weisen die Beiträge von Franz Machilek zum einstigen Groß-Mährischen Reich, von Philip Steiner zum Josephinismus, von Maik & Robert Pech zur deutschen Südost-Forschung (Fritz Valjavec) und, gegenwartsbezogen, von Heinrich Pachner zur Integrationsproblematik.
In den »Tübinger Wegen« bezeugen Beiträge zur Kirchengeschichtsforschung »die Hoffnung, dass die in den 60er und 70er Jahren in Tübingen stark aufgegriffenen Anstöße zu einer christlich bestimmten Kirche [sic!] nicht als Episode veröden sollen« – ein Memento anlässlich zugleich des Gedenkens der bemerkenswerten Tübinger Zweitgründung einer Katholisch-Theologischen Fakultät vor 200 Jahren. Der Bogen spannt sich hier von Lokalstudien wie von Dieter Stievermann zu Konfessionskonflikten im nahen Am­mertal, von Ulrike Altherr zu dörflichen Marianischen Kongregationen und von Abraham P. Kustermann zu »Schwäbischer Kulturkatholizismus auf Abwegen« hin zu Dietrich Mieths, dem langjährigen Vorsitzenden der Meister Eckhart-Gesellschaft, Kommentar zur Würdigung Eckharts durch Joseph Bernhart, die er sich durch kirchenamtliche Vorgaben zugunsten der Mystik Bernhards von Clairvaux quasi selber verbot.
Von systematischer Bedeutung sind die exegetisch fundierte Studie von Lydia Brendel-Maidl zu dem – auch von Angelus Sile-sius aufgenommenen – Jesuslogion Mk 8,34b und seiner Rezeption »Christliche Identität in der Spur jesuanischer Gotteserfahrung« sowie Hermann Härings Anfragen, im Gefolge von Ethel L. Behrendt, an die Traditionslinie Paulus-Augustinus-Luther »Rechtfertigung – ohne die Forderung der Thora nach Gerechtigkeit?«. Und wenn Helmut Feld, nebenbei neuere Theorien zur Texturheberschaft infrage stellend, Benedikts Klosterregel be­schreibt als Versuch, die Gottesherrschaft zu leben abseits »der« »Welt«, die Begründung einer eineinhalb Jahrtausende währenden Vorzugsstellung der monastischen Kultur, so mag man sich bei dem Erich-Fromm-Forscher Rainer Funk erkundigen über die »Psychologie von Projektionen im religiösen Kontext«.
Bernd Jochen Hilberath fordert ekklesiologische Konsequenzen ein aus den Einsichten der wohl nicht nur feministischen Dritte-Welt-Christologie »Vom Rand, der die Mitte ist« (Brigitte Strahm, 1997) – ganz im Sinne der steten Aufmerksamkeit Jochen Köhlers auf das, was »unten« und schon daher »am Rand« zu sein scheint. Und Gotthold Hasenhüttl, »der innerkatholisch ohne Not skandalisierte Dogmatiker« (Bd. 2, 11), stellt in einer Albert Schweitzer aufnehmenden, über seine Forderung nach der »Ehrfurcht vor dem Leben« noch hinausweisenden Erwägung dem in der Natur unausweichlichen Gesetz des »Leben frisst Leben« das die Evolutionsgesetzlichkeit einzig überschreitende (An)Gebot entgegen: die Entscheidung für die in der Selbstbegrenzung durch Liebe bestehende Menschenwürde.
Sind hier weiterführende Perspektiven enthalten, die die historische Forschung auf systematische Konsequenzen hin auszieht – Theologiegeschichte wird gar einmal als »Königsdisziplin von Theologie« bezeichnet –, stellt der oben angedeutete letzte Beitrag, Josef Noltes Interpretation der Sinnes-Wege eines anderen Tübingers: Hölderlins, die Frage nach der »transzendentalen Letztbestimmtheit des Christlichen überhaupt«. Er sieht sie – indem er Hölderlins Wendung, dass Gott, der »abendliche«, den »Mantel« zum Fußdienst beim Abendmahl ablegend (Christus), Mnemosyne die Locken öffne, aufgreift – in der »vorbehaltlosen Affirmation der Ge­schichtlichkeit« als dem »bewusstseinsgeschichtlichen Zugewinn, der durch das christliche Weltalter erreicht wurde« (Bd. 2, 222).
Befreite Erinnerung müsste so in Befreiung von Erinnerung umschlagen – wohlverstanden ein gewichtiger, wenngleich leicht missdeutbarer Gedanke.