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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1286–1288

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Mokrosch, Reinhold

Titel/Untertitel:

Gewissen und Adoleszenz. Gewissensbildung im Jugendalter.

Verlag:

Weinheim: Deutscher Studienverlag 1996. 468 S. DM 78,-. ISBN 3-89271-632-3.

Rezensent:

Helmut Hanisch

Die Studie, die Reinhold Mokrosch vorgelegt hat, wird in Zukunft zu den Standardwerken im Hinblick auf die Gewissenserziehung gehören. Und dies aus einem dreifachen Grund:

- Der Autor orientiert sich bei seiner Studie an empirischen Daten, die er selbst gewonnen hat. Weitere Untersuchungen dieser Art werden es sich zur Aufgabe machen müssen, eigene Daten mit den vorliegenden Ergebnissen zu vergleichen.

- In einem zweiten Teil geht er in einem historischen Abriß auf theologische, philosophische und psychologische Gewissenskonzeptionen ein. Dabei gelingt es ihm, didaktisch geschickt die wesentlichen Aspekte der jeweiligen Gewissenstheorie darzustellen. Dieser Teil des Buches stellt eine Fundgrube für alle dar, die sich begriffsgeschichtlich orientieren wollen.

- Schließlich bündelt er den Ertrag seiner Arbeit, indem er "Leitlinien einer christlich-reformatorischen Gewissensbildung" formuliert, die schlechthin als grundlegend zu betrachten sind. Kein Religionspädagoge und keine Religionspädagogin, die sich mit Fragen der Gewissensbildung aus christlicher Sicht beschäftigen, werden auf sie verzichten können.

Zu Beginn sei darauf aufmerksam gemacht, daß der Autor das Thema "Gewissen" von einer klar bestimmten theologischen Position her in Angriff nimmt, die er einleitend ausführlich begründet. Es ist das christlich-reformatorische Verständnis des Gewissens, das sowohl Ausgangspunkt als auch Zielpunkt seiner Untersuchung ist. Diese positionelle Festlegung führt aber keineswegs zu einer Einengung seiner Untersuchung, sondern trägt vor allem zu einer stringenten Gedankenführung bei, bei der "konkurrierende" Vorstellungen nicht ausgeblendet, sondern rückbezogen auf die eigene Position behandelt werden.

Was haben Leser bzw. Leserinnen im ersten Teil des Buches zu erwarten? Der Autor geht zunächst auf zwei von ihm durchgeführte Untersuchungen mit 1200 15- bis 19jährigen Jugendlichen ein, deren Ziel es war, das Wert-, Normen-, Lebensziel- und Gewissensbewußtsein Jugendlicher zu erforschen. Methodisch griff er dabei auf Fragebögen zurück. Die Ergebnisse stellt er ausführlich inhaltlich dar, wobei er nicht selten die Befragten selbst zu Wort kommen läßt. In Schaubildern werden die gewonnenen Einzelbefunde zusammengefaßt.

Inhaltlich lassen sich die Ergebnisse mit folgenden Stichworten bündeln: Den Urwertkonflikt, der sich u. a. in dem Konflikt zwischen Selbsterhaltung und Nächstenliebe, Selbstbehauptung und Solidarität ausdrückt, erfahren Jugendliche je nach Geschlecht, Bildung und Alter gänzlich verschieden. Mädchen z. B. erleben ihn intensiver und altruistischer als Jungen.

Auch der Urnormenkonflikt zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Rücksichtnahme und Durchsetzung von Interessen wird unterschiedlich erlebt. Entsprechend werden von den Jugendlichen auch gesellschaftliche, subkulturelle, private, interkulturelle und internationale Normen jeweils individuell zur Lösung eigener Konflikte in Anspruch genommen.

Gewissenskonflikte treten in jeweils verschiedenen Formen relativ selten auf. Besonders dann werden sie akut, wenn jemand feststellt, daß er sich fremdgesteuert fühlt und den Eindruck hat, nicht selbstbestimmt gehandelt oder geurteilt zu haben. Auch im subjektiven Erleben lassen sich Gewissenskonflikte identifizieren, dann nämlich, wenn jemand bemerkt, daß er sich anders verhält als er es von seiner Einstellung her wollte bzw. wenn erkannt wird, daß zwischen Einstellung und Verhalten, Wollen und Tun, Fremd- und Selbstbestimmung ein Bruch vorliegt.

Lebenszielkonflikte kommen besonders auf der Beziehungsebene zum Tragen. Das ist dann der Fall, wenn sich beispielsweise zwischen Freundeskreis und Familie, Freundeskreis und geliebtem Partner Widersprüchlichkeiten ergeben, die sich in Gegensatzpaaren von Bindung und Freiheit, Unabhängigkeit und Abhängigkeit, Anpassung und dem Wunsch nach Selbstverwirklichung artikulieren. Aber auch in gesellschaftlicher Hinsicht leiden viele junge Menschen an Lebenszielkonflikten, wenn sie sich z. B. für den Frieden einsetzen wollen und sich dabei als ohnmächtig erleben oder wenn sie in Harmonie mit der Natur leben wollen und dabei ihren eigenen Beitrag zur Zerstörung der Natur wahrnehmen. - Daneben haben viele Jugendliche mit Selbständigkeitskonflikten zu ringen. Sie ergeben sich vor allem aus der Diskrepanz zwischen erlebter Abhängigkeit und dem Streben nach Selbständigkeit. Im Vordergrund steht dabei der Wunsch nach materieller, geistiger und mündig-selbstbewußter Selbständigkeit.

Aufgrund dieser stichwortartigen Zusammenfassung ist deutlich geworden, daß der Autor die Gewissensproblematik empirisch nicht isoliert, sondern in dem größeren Zusammenhang von ethischen Orientierungen erhebt. Dieser Kontext erlaubt es, Gewissenskonflikten im engeren Sinn auf die Spur zu kommen. Sie konzentrieren sich bei den Jugendlichen vor allem auf Fragen der Identitätsfindung und des Strebens nach Autonomie.

Im zweiten Teil der Untersuchung werden einschlägige Gewissenstheorien mit dem Interesse referiert, sie für Fragen einer christlich-reformatorischen Gewissensbildung vor dem Hintergrund der eigenen empirischen Ergebnisse fruchtbar zu machen. Entsprechend werden die Gewissensvorstellungen von Apostel Paulus, Augustin, Abälard, Alexander von Hales, Bonaventura, Thomas von Aquin, Luther, Calvin, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Günther, Ritschl, Heidegger, Bonhoeffer, Ebeling, Freud, Jung, Fromm, Piaget und Kohlberg dargestellt.

Die lange Reihe der Autoren, die bei M. zu Wort kommen, legt den Verdacht nahe, daß dem Leser und der Leserin in diesem Teil des Buches auf enzyklopädische Weise Gewissenstheorien begriffsgeschichtlich präsentiert werden. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Mit systematischer Klarheit werden sie in dem oben angedeuteten Kontext dargestellt, wobei der Verfasser auf die jeweilig einschlägigen Originaltexte zurückgreift. Daß es ihm bei dieser Darstellung besonders auch um ein praktisches Anliegen geht, verdeutlichen die erzieherischen Konsequenzen, die er aus den jeweiligen Gewissenskonzepten ableitet. Nicht zuletzt an dieser Stelle wird deutlich, worum es ihm methodisch in seinem Werk geht. Sein Anliegen ist es nicht, empirische, theologische, pädagogische, psychologische und philosophische Aspekte der Gewissensforschung aneinanderzureihen, sondern sie so miteinander zu verschränken, daß sie im Hinblick auf religionspädagogische Fragestellungen fruchtbar werden können.

Die Verbindung von Theorie und Praxis, Gewissenskonzepten und Gewissenspraxis kommt nicht zuletzt in dem dritten Teil seines Buches in überzeugender Weise zum Tragen. In ihm "bündelt" er gleichsam die vorausgegangenen Einsichten und gelangt zu "Leitlinien einer christlich-reformatorischen Gewissensbildung". Leiten läßt sich der Autor dabei von einem "Begriffsnetz" (398), in dem er die für ihn wesentlichen Elemente des "Gewissens" zusammenfaßt. Es besteht zunächst aus einer "vorempirischen" Gestalt des Gewissens, unter dem man eine allgemeine Sollens- oder Seinsforderung zu verstehen hat. Von ihr zu unterscheiden ist die "empirische" Gestalt des Gewissens, die näher als "religiöse und moralische Bewußtseinsinstanz" beschrieben wird. Aus ihr ergeben sich der religiös-transmoralische und der ethisch-moralische Gebrauch des Gewissens. Während der Mensch in dem transmoralischen Gebrauch des Gewissens sich Gott gegenüber zu verantworten hat, ist das Referenzobjekt des ethisch-moralischen Gewissens "die Welt". In ihr hat der Mensch normen- oder wertorientiert zu entscheiden und zu handeln. Beide Aspekte des Gewissens sind der Entwicklung unterworfen und sollten in die christliche Gewissensfreiheit bzw. die moralische Gewissensfreiheit einmünden.

Dieses "Begriffsnetz" des Gewissens ist für M. der Theorierahmen, der ihn in die Lage versetzt, praktische Konsequenzen für eine Gewissenserziehung zu ziehen, die sowohl der Entwicklung des religiös-transmoralischen als auch des ethisch-moralischen Gewissens dienen. Im Rückgriff auf die von ihm gewonnenen empirischen Ergebnisse ist er nun in der Lage, im einzelnen zu zeigen, welche Akzente erzieherisch zu setzen sind, um dem jungen Menschen zu einer Weiterentwicklung des transzendenten bzw. des immanenten Gewissens zu verhelfen. Von "Weiterentwicklung" kann deshalb zu Recht gesprochen werden, weil es dem Verfasser darauf ankommt, jeweils die Anknüpfungspunkte zu benennen, von denen beim jungen Menschen im erzieherischen Kontext ausgegangen werden kann. So gesehen schweben seine praktischen Vorschläge nicht in "luftiger Höhe", sondern sind auf die jeweiligen Voraussetzungen der Jugendlichen bezogen. Hier erweisen sich die vielen Zitate der Befragten, die der Verfasser im Zusammenhang mit seiner empirischen Untersuchung im ersten Teil seines Buches wiedergibt, als eine reiche Quelle adressatenbezogener Vermittlungshilfe. Zugleich erhalten die religionspädagogischen Leitlinien dadurch überzeugende Transparenz.

Das Buch von M. ist, was die Lektüre anbelangt, keine leichte Kost. Die vielen differenziert vorgestellten empirischen Befunde im ersten Teil des Buches verlangsamen gleichsam das Lesen, um so reicher wird man jedoch im zweiten und dritten Teil des Buches belohnt. Nicht zuletzt im Schlußkapitel wird deutlich, wie notwendig das sensible Wahrnehmen der befragten Jugendlichen ist, um zu überzeugenden erzieherischen Schlußfolgerungen zu gelangen.