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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

78–80

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Carleton Paget, James, and Judith Lieu [Eds.]

Titel/Untertitel:

Christianity in the Second Century. Themes and Developments.

Verlag:

Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2017. XI, 354 S. Geb. £ 74,99. ISBN 978-1-107-16522-9.

Rezensent:

Katharina Greschat

Dieses Werk ist das Ergebnis einer Konferenz, die vom 14. bis 16. März 2013 in Cambridge über die wissenschaftliche Neuvermessung des 2. Jh.s nachgedacht hat. Jahrzehntelang bestimmte die allzu einfache Erzählung von der Jesusgruppe, die sich in der Welt etablierte und eine eigene Identität einerseits durch zunehmende Institutionalisierung, andererseits durch Abgrenzung gegenüber dem Judentum und der Häresie gewann, die Sichtweise auf diese Zeit. Doch die Faszination, die von nicht kanonisch gewordenen Texten ausgeht, die Entdeckung einer Vielfalt an frühen Christentümern und die Dynamik der Entwicklung innerhalb dieses Jahrhunderts führten zum Umdenken: »Elements of this debate about narrative, and the related issues of continuity and discontinuity, identity and history, are reflected in this volume, albeit in con-trasting ways« (9). In jeglicher Hinsicht hat sich der Band also Vielfalt verordnet. So möchten die Beiträgerinnen und Beiträger, die sich mit dem frühen Christentum, antiken Judentum, klassischer Philologie und alter Geschichte beschäftigen, Anregungen zur weiteren Erforschung von Texten, archäologischen Hinterlassenschaften und materiellen Dingen geben.
Vier Themenbereiche gliedern das Buch: In einem ersten unter der Überschrift »Contexts« (25–87) geht es um die Einbettung des Christentums in den Kontext des im Wandel befindlichen Römischen Reichs und zugleich um das komplexe Beziehungsgeflecht mit dem Judentum. Greg Woolf (London) lotet zunächst den Zu­sam­menhang von Imperien und dem Entstehen von Diasporasituationen aus: »Empires created diasporas through forced population transfers and the deployment of levies and slaves far from their homes, and they faciliated diasporic movements when they invested in transport infrastructure and common languages, currencies and security« (26 f.). Das führe gerade im städtischen Umfeld zu vielfältigen Formen von Religiosität und zu Konkurrenz auf dem Markt der Religionen. Tessa Rajak (Oxford) konzentriert sich auf die Diaspora der griechisch sprechenden jüdischen Gemeinden der Provinz Syria und versteht deren »translation culture«, die auch philosophische und Martyriumsvorstellungen einbezieht, als Brücke zum sich entwickelnden Christentum. Philip Alexander (Manchester) schlüsselt die verschiedenen jüdischen Identitäten auf und macht deutlich, dass das rabbinische Judentum wie auch das Christentum nach Orthodoxie strebten. William Horbury (Cambridge) bereichert dieses Bild durch den Hinweis auf apologetische Bemühungen beider Gruppierungen unter römischer Herrschaft.
Kaum zufällig entsteht so der Eindruck, dass sich das frühe Christentum nicht durchgehend von seiner Umwelt abgegrenzt habe. Explizit wird das im zweiten Teil: »Discerning Continuity and Discontinuity in Early Christianity« (90–168) diskutiert. James Carleton Paget (Cambridge) verweist darauf, dass Christen des 2. Jh.s ihre eigene Vergangenheit konstruieren, wobei – wie insbesondere bei Marcion – die neutestamentlichen Texte eine wichtige Rolle spielen. Lewis Ayres (Durham) möchte eine Protoorthodoxie im 2. Jh. aufspüren, die insofern mit dem Begriff der Hellenisierung zu beschreiben sei, als sie exegetische Praktiken hellenistischer Schulen verwendet habe. Karen L. King (Harvard) stellt klar, dass gnostischer Mythos und vorchristliche Gnosis moderne Konzeptionen sind. Sie plädiert dafür, die koptischen Texte jenseits der Trennlinie zwischen Häresie und Orthodoxie als Teil des vielfältigen Chris-tentums wahrzunehmen. Daran anknüpfend bemerkt Mark Edwards (Oxford): Wenn es überhaupt so etwas wie Gnostizismus gegeben hat, dann im Sinne eines spezifischen theologischen Diskurses, der Glauben als Mythos formuliert und auf allegorische Auslegung setzt. Um den theologischen Diskurs geht es auch Winrich Löhr (Heidelberg). Er lenkt den Blick auf die Vielfalt philosophischer Schuldiskurse der »Post-Hellenistic-Philosophy«, betont aber, dass etwa Justins beharrliche Behauptung, das Chris­tentum sei die einzig wahre Philosophie, unweigerlich zur Häresiologie führen musste.
Standen bislang Texte im Mittelpunkt, soll im dritten Teil »In­terpreting Texts and Engaging in Practice« (169–231) auch die rituelle Praxis betrachtet werden. Zunächst bleibt Rebecca Flemming (Cambridge) bei autoritativen Texten und stellt für Galen fest, dass dieser die besten Ansichten aus allen Schulen und Gruppen ohne ein Konzept von Orthodoxie auswählt. Joseph Verheyden (Leuven) unterscheidet vier Arten autoritativer Texte für die frühen Chris­ten: griechisch-römische Klassiker, jüdische Schriften sowie frühe (Paulusbriefe und Evangelien) und spätere christliche Texte. Mit Plutarch führt Teresa Morgan (Oxford) den Nachweis, dass Ritual und Glauben sehr eng zusammengehören und gelernt werden müssen. Laura S. Nasrallah (Harvard) zeigt auf, wie unterschiedlich und kontrovers mit dem Thema Schicksal in philosophisch-theologischer Theorie und Praxis umgegangen wurde.
Der letzte Teil »Modelling Identities« (233–308) beschäftigt sich mit der Ethnizität der frühen Christen. Erich S. Gruen (Berkeley) sichtet sämtliche Belege für die Kategorie des tertium genus und konstatiert: »If Christians, or anyone else in antiquity, set their identity on an ethnic basis, we will not find that in the concoted notion of a tertium genus« (249). Oskar Skarsaune (Oslo) unterscheidet zwischen der von Paulus, Barnabas und Justin geführten Debatte um das erwählte Gottesvolk und dem ganz anderen genos- Diskurs, der polemisch auf die richtige Art der Gottesverehrung zielt. Nach Ansicht von John A. North (London) spielt die Satire des Lukian von Samosata mit der Ähnlichkeit von Kynikern und Chris­ten, wobei für Letztere nicht klar ist, ob es sich um einen Menschenschlag, eine Lebensführung oder eine Art religiöser Verehrung handelt. Der Vorwurf des Atheismus gegenüber den Christen sei – so Tim Whitmarsh (Cambridge) – nicht historisch, sondern entstamme dem hellenistischen Judentum. Dessen »redefinition of atheism (›not believing in my god‹ rather than ›not believing in any god‹«; 292) werde dann aber auch von Christen zur Abgrenzung von Gegnern aus den eigenen Reihen aufgenommen.
Zum Abschluss ordnet Judith Lieu (Cambridge) das unterschiedlich akzentuierte Laboratoriumsmodell bzw. -metapher in die Forschungslandschaft ein und betont noch einmal, dass sich ganz neue Fragen stellen und ungewöhnliche Verbindungslinien ziehen lassen, wenn man das Christentum im Kontext des 2. Jh.s verortet.
Es handelt sich zweifellos um ein wichtiges Buch, das keine vollkommen neuen oder umstürzenden Thesen vorträgt – wer sich intensiv mit dieser Zeit beschäftigt, hat vieles bereits so oder ähnlich gelesen –, sondern die eigenen Messinstrumente und Methoden im interdisziplinären Diskurs hinterfragt und neu ausrichtet. Damit macht es zugleich Mut und Lust, neue Fragen in Angriff zu nehmen und unbekannte Forschungsfelder zu erschließen.