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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

74–76

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thiessen, Jacob

Titel/Untertitel:

Die umstrittenen Paulusbriefe – Abschriften oder Fälschungen? Intertextuelle, literarkritische und theologische Studien. Mit zwei Ergänzungen von R. Fuchs.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2016. 446 S. = Studien zu Theologie und Bibel, 19. Kart. EUR 64,90. ISBN 978-3-643-80239-2.

Rezensent:

Udo Schnelle

Die Frage, welche der 13 Paulus zugeschriebenen Briefe als authentisch gelten können, ist in der Forschung weiterhin umstritten. Hier gibt es markante Unterschiede zwischen der deutschsprachigen Exegese und Teilen der englischsprachigen Forschung. In der deutschsprachigen Forschung setzte im 19. Jh. ein Prozess der Verfasserkritik ein, der spätestens ab 1945 zu einem relativen Konsens führte, der bis heute gilt: Nur sieben Briefe können unbestritten als authentisch gelten (1Thess/1Kor/2Kor/Gal/Röm/Phil/Phlm). Demgegenüber kommt es in gewichtigen Teilen der englischen und amerikanischen Exegese zu ganz anderen Urteilen. Bekannte Paulusforscher halten beispielsweise den Kol und 2Thess für echt (J. D. G. Dunn), andere halten Kol, Eph, 2Thess und 2Tim (N. T. Wright), oder sogar 11 (M. J. Gorman) bzw. alle 13 Paulus zugeschriebenen Briefe (St. E. Porter) für authentisch. Dieser Position schließen sich im deutschsprachigen Bereich in unterschiedlicher Weise vor allem konservativ-evangelikale Exegeten an. Die dabei gefällten Urteile sind von erheblicher Bedeutung für die Theologiegeschichte des frühen Christentums, im Besonderen aber für die Architektur der paulinischen Theologie: Wenn Paulus auch den Kol, Eph und 2Thess oder sogar die Pastoralbriefe verfasst hat, dann müsste seine Theologie völlig anders dargestellt und bewertet werden.
Jacob Thiessen versucht das Problem neu zu klären und setzt dabei mit der Intertextualität ein. Darunter versteht er die Frage, ob und in welcher Weise Paulus Themen der unbestrittenen Briefe in den umstrittenen aufnahm oder ob Schüler durch Anlehnungen Authentizität vorzutäuschen versuchten. Wenn man die paulinische Verfasserschaft nicht von vornherein ablehnt, kann man hier nach Meinung T.s zu weiterführenden Ergebnissen kommen. Es gilt, Intertextualität mit literarkritischen und theologischen Un­tersuchungen zu verbinden und zu fragen, »ob die jeweiligen Un­terschiede und Gemeinsamkeiten nicht dadurch bedingt sein könnten, dass Paulus die verschiedenen Briefe in sehr unterschiedlichen Situationen und zu verschiedenen Zeiten geschrieben hat« (34).
Zunächst wird der 2Thessalonicherbrief analysiert. Dabei werden die sprachlichen und sachlichen Unterschiede zum 1Thess notiert und mit der unterschiedlichen historischen und seelsorgerlichen Situation erklärt. Der ›Mensch der Gesetzlosigkeit‹ in 2Thess 2,3 f. wird auf den Kaiserkult bezogen, und bezüglich der Eschatologie wird festgestellt, »dass es keine widersprüchlichen Aussagen in der Eschatologie der zwei Briefe gibt« (39). Dem stehen aber grundlegende Beobachtungen gegenüber, die hier in keiner Weise ausgeräumt werden: Sowohl die Verzögerungsproblematik (2 Thess 2,6.7) als auch das Auftreten eines eschatologischen Gegenspielers unterscheiden 2Thess 2,1–12 grundlegend von 1Thess 4,13–18; 5,1–11. Während 1Thess 5,1 Berechnungen im Hinblick auf die Parusie ausdrücklich ablehnt, findet sich in 2Thess 2,1–12 ein eschatologischer Fahrplan, der Beobachtungen und Berechnungen nicht nur zulässt, sondern fordert (vgl. V. 5!). Steht bei Paulus immer das Erscheinen des Auferstandenen im Mittelpunkt (vgl. 1Thess 4,16; 1Kor 15,23), so ist das Parusiegeschehen in 2Thess 2,8 auf die Vernichtung des Antichrist zugespitzt. Das sind nicht nur situationsbedingte Verschiebungen, sondern es liegt hier ein völlig anderes eschatologisches Programm vor! Hinzu kommen zahlreiche sprachliche und stilistische Eigenheiten des Briefes, die deutlich gegen Paulus als Verfasser des 2Thess sprechen (vgl. Christina M. Kreinecker, 2. Thessaloniker, PKNT 3, Göttingen 2010, 38–99,
de­ren minutiöser Nachweis nicht aufgenommen wurde.). Sehr um­­fangreich werden der Epheser- und Kolosserbrief behandelt.
T. wendet sich gegen die verbreitete Benutzungshypothese (Eph kannte und benutzte den Kol) und sieht beide als eigenständige paulinische Briefe in großer Nähe zum Phil (und Phlm). »Wir können daraus folgern, dass die Gefangenschaftsbriefe am Ende der ersten römischen Gefangenschaft des Paulus (60–62 n. Chr.) und somit wohl im Frühjahr (etwa im März) des Jahres 62 n. Chr. in Rom geschrieben wurden« (230). Ausführlich werden die Argumente gegen die Authentizität des Kol und Eph diskutiert. Hier ist T. darin zuzustimmen, dass sprachliche Eigenheiten den sekundären Charakter der Briefe nicht erweisen können, weil solche Eigenheiten auch in den unbestritten echten Briefen vorliegen. Zudem muss Paulus auf die je spezifische Situation der Gemeinden reagieren, und er kann seine Theologie weiterentwickeln. Es bestehen aber zumindest drei grundlegende theologische Unterschiede zwischen dem Kol (und damit auch dem Eph) und den unbestrittenen Paulusbriefen:
1) In Kol 2,12 f.; 3,1 wird im Gegensatz zu Röm 6,3 f. die Zeitform der Vergangenheit auch auf die Eschata übertragen (vgl. Kol 2,12; 3,1: συνηγέρθητε = »ihr seid mitauferweckt«). Für Paulus hingegen ist kennzeichnend, dass die neue Wirklichkeit im Geist (vgl. 2Kor 1,22; 5,5; Röm 8,23) präsent ist, umfassend und vollständig aber erst bei der Parusie offenbar wird (vgl. neben Röm 6,3–5 besonders 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; 1Kor 15,20–23.46). Paulus spricht deshalb nie von einer bereits – wie auch immer – vollzogenen Auferstehung (auch nicht im Glauben!) und kann unter seinen eigenen theolo-gischen Voraussetzungen auch nicht davon sprechen, so dass hier eine entscheidende Differenz zwischen der Eschatologie des Kol und der Eschatologie des Apostels gesehen werden muss. Beide bestimmen den Grad der Partizipation an der Auferstehungswirklichkeit grundlegend anders! Bei Paulus ist der Geist das An­geld (Röm 8,23), das Unterpfand (2Kor 1,22; 5,5) für das zukünftige Endgeschehen, im Kol wird von der Zukunft bereits in der Vergangenheitsform gesprochen. Deshalb ist die Behauptung schlicht falsch, »dass die ›Spannung‹ zwischen der bereits geschehenen Erlösung und der zukünftigen Erlösung im Kolosserbrief nicht grundsätzlich anders gesehen wird als z. B. im Römer- und Galaterbrief« (210). Hier markiert vielmehr das zweimalige Futur passiv in Röm 5,9.10 (»wir werden gerettet werden«) den entscheidenden Unterschied!
2) Während der Kol die gegenwärtige und dauerhafte Stabilität des Kosmos in Christus postuliert (Kol 1,15–20), erwartet Paulus die endzeitliche Unterwerfung des Kosmos erst bei der Parusie (1Kor 15,23–28). 3) Noch gravierender ist Kol 1,24, wo die Leiden des Paulus (als Apostel und Märtyrer) sogar die Drangsale Christi ergänzen/vollenden. Ein für Paulus völlig unmöglicher Gedanke, denn mit Kol 1,24 wird die für ihn konstitutive Unterscheidung zwischen den Leiden Christi und den Bedrängnissen seiner Nachfolger aufgehoben! Methodisch liegt hier der entscheidende Punkt: Wenn sich in einem Paulus zugeschriebenen Brief theologische Gedanken finden, die entweder im Gegensatz zu Aussagen in den unbestrittenen Briefen stehen oder die Paulus nie vertritt bzw. sogar ausdrücklich vermeidet, dann ist das ein entscheidendes Argument gegen seine Verfasserschaft! Im Hinblick auf die Pastoralbriefe gilt dies – neben zahlreichen Einzelpunkten – vor allem für das Amtsverständnis. 1Kor 12,28 zeigt zwar, dass es auch bei Paulus herausgehobene Tätigkeiten/Ämter gab, was aber in keiner Weise mit der Zentrierung auf das leitende Amt des Episkopen (1Tim 3,1–7; Tit 1, 7–9) zu vergleichen ist. Zudem nahmen bei Paulus Frauen selbstverständlich leitende Aufgaben/Ämter wahr (vgl. Apg 18,2 f.; 1Kor 16,19; Röm 16,1 f.3–5.7), völlig anders aber die Pastoralbriefe (vgl. 1Tim 2,11 f.).
Das Verdienst der Studie von T. liegt darin, alte Gewissheiten neu zu hinterfragen. Ich sehe aber keinen einzigen Grund, die alten Gewissheiten aufzugeben, denn entscheidend für den kritischen Konsens der sieben authentischen Paulusbriefe sind die inhaltlich-theologischen Gegensätze zu den Deuteropaulinen.