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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

69–72

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Richardson, Christopher A.

Titel/Untertitel:

Pioneer and Perfecter of Faith. Jesus’ Faith as the Climax of Israel’s History in the Epistle to the Hebrews.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XI, 280 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 338. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-150397-9.

Rezensent:

Hermut Löhr

In einer in der frühchristlichen Literatur singulären Wendung wird Jesus, der Sohn Gottes, in Hebr 12,2 als »Anführer und Vollender des Glaubens« (εἰς τὸν τῆς πίστεως ἀρχηγὸν καὶ τελειωτήν) bezeichnet. Die vorliegende Untersuchung von Christopher A. Richardson, ursprünglich eine der Universität Aberdeen vorgelegte PhD-Dissertation aus dem Jahr 2009, nimmt dies zum Anstoß, die Rede vom Glauben (»faith« oder »faithfulness«) Jesu im Hebräerbrief zu untersuchen und als ein Zentralmotiv (»arguably, the most important doctrine in the epistle«; 15) der Christologie des Textes herauszuarbeiten.
Ist die Diskussion um das rechte Verständnis der paulinischen πίστις Χριστοῦ so geläufig wie kontrovers (zu Recht weist der Vf. S. 225, Anm. 2, darauf hin, dass sich die Diskussion, ob Paulus vom Glauben oder der Treue Jesu spricht, nicht allein auf das einschlägige Syntagma konzentrieren darf, sondern auch Passagen wie Röm 5,18 f. und Phil 2,7 f. zu berücksichtigen hat), so ist das Motiv in der Exegese des Hebr natürlich wahrgenommen, aber noch nicht um­fassender untersucht worden. Und es finden sich auch, darunter durchaus prominente, Stimmen, die – wohl eher aus dogmatischen denn aus guten exegetischen Gründen – die Vorstellung vom gläubigen Jesus ganz von dem frühchristlichen Text fernhalten wollen.
Natürlich hängt manches davon ab, wie man πίστις, πιστός »faithfulness«, »belief« etc. versteht. Der Vf. spricht von »steadfast confidence« und »active obedience« (5) und trifft damit m. E. das vom Hebr Gemeinte gut. Gleichzeitig macht eine solche Definition jedoch deutlich, dass der so bestimmte Glaubensbegriff des Briefes semantisch nur einen Teil dessen abdeckt, was die theologische Tradition unter Glaube verstand und versteht.
Das einleitende erste Kapitel (1–14) bietet eine angenehm knappe Einführung in den Forschungsstand (den, sehe ich recht, der Vf. insgesamt gut überblickt, wenn auch die Literaturbenutzung, vor allem in Hinsicht auf Beiträge in deutscher Sprache, etwas zu eklektisch ist) sowie orientierende Hinweise zum weiteren Vorgehen: Neben den ausdrücklichen Bezugnahmen auf den Glauben bzw. die Treue Jesu werden auch solche Passagen untersucht, die nicht terminologisch, wohl aber semantisch zum behandelten Motiv gehören, das in 12,2 seinen klimaktischen Ausdruck findet. Kapitel 11 des Hebr, das lange Kapitel mit den Beispielen des Glaubens aus der Geschichte Israels, wird in diesen Rahmen eingepasst und typologisch-christologisch gelesen. Wird man dem Vf. unbedingt zustimmen, dass eine rhetorische Analyse von 11,1 bis 12,3 ebenso wichtig ist wie eine traditionsgeschichtliche, so leuchtet es mir nicht ein, darin schon einen »culturally integrated approach to christology« (so die Überschrift, 13) zu sehen.
Kapitel 2 (»Jesus and Faith«; 15–107) untersucht dann nacheinander Hebr 2,13; 2,17; 3,1–6; 4,15; 5,7–8, 10,5–7 und 12,2. Die vorgelegten Exegesen, im fairen Gespräch mit der Forschung, sind im Wesentlichen textsynchron und kontextsensibel angelegt; darüber hinaus wird den intertextuellen Verweisen des Textes auf die biblischen Schriften sorgsam nachgegangen.
Auch falls man der Einschätzung des Vf. in Hinsicht auf die intendierten Adressaten des Hebr (»most likely Jewish Christians«, 1) nicht folgt, überzeugt der Versuch, zur Interpretation von 2,13 auch den biblischen Kontext des zitierten Schriftwortes Jes 8,17 fruchtbar zu machen. Von daher gewinnt die Vermutung an Plausibilität, dass die Worte Jesu in 2,12 f. nicht vom Prä- oder Postexistenten in der Sphäre der Transzendenz gesprochen sein wollen, sondern auf Erden, gewissermaßen im status exinanitionis.
In Kongruenz dazu will der Vf. auch 2,17 nicht auf den Dienst des Hohenpriesters beziehen. Die finale Infinitivkonstruktion lasse den Schluss auf ein gegenwärtig andauerndes Handeln nicht zu, vielmehr gebe 2,14 deutlich zu erkennen, worauf die Aussage ziele: auf den Tod Christi am Kreuz. Mit anderen Worten: 2,17 sage im soteriologischen Kern nichts anderes als später 7,27 und zuvor schon 1,3. Unbeschadet dessen gehöre die formelle Akklamation zum ewigen Hohenpriester in die Phase der Erhöhung zu Gott (32, Anm. 73), mit anderen Worten: Auch der vorgelegte, plausible Vorschlag löst das bekannte chronologische Problem der Hohepriester-Christologie des Hebr nicht vollständig.
Die Passage 3,1–6 wird in Hinsicht auf ihre Analogisierungen von Mose und Jesus ausgeleuchtet: Nicht nur die Vorstellung vom »Gesandten« und vom Hohenpriester, sondern auch diejenige, wenn auch implizit, vom Propheten gemäß Dtn 18,15–19 seien christologisch relevante Verweise. Schön wär’s ja, doch um zu dieser letztgenannten Deutung zu gelangen, muss die Phrase εἰς μαρτύριον τῶν λαληθησομένων (3,5b) doch erheblich belastet werden.
In Hinsicht auf 4,15 betont die Auslegung zu Recht die Bedeutung der Wendung κατὰ πάντα, und sie gibt der christologisch notwendigen Abgrenzung χωρὶς ἁμαρτίας dadurch einen präzisen Sinn, dass diese auf das Motiv des Glaubens bezogen wird. Insofern Sünde und Ungehorsam ausweislich Hebr 3 f. zusammengehen, ist Sündenfreiheit auch als Gehorsam zu verstehen.
Die Ausführungen zu dem viel diskutierten Stück 5,7 f. vertreten und begründen die These, die Passage nehme sehr wohl auf eine Episode aus der Geschichte des irdischen Jesus Bezug, aber nicht, wie vielfach angenommen, auf den Gebetskampf in Gethsemane, sondern auf die Kreuzigung selbst. Den angeführten, m. E. nicht durchweg zwingenden intra- und intertextuellen Argumenten steht aber nach wie vor entgegen, dass der Text explizit offenbar nicht auf ein einmaliges Geschehen verweisen will, sondern auf »die Tage seiner fleischlichen Existenz« (5,7).
Dass auch die Passage 10,5–7 in den Kontext des Motivs von der Glaubenstreue Jesu gehört, kann der folgende Abschnitt dadurch plausibel machen, dass er wiederum den Kontext des Bezugstextes, hier Ps 40(39),7–9, abhorcht; eigens betont werden könnte noch, dass Teil der klimaktischen Konstruktion die Streichung des Verweises auf das »Gesetz« bzw. die »Weisung« Gottes in Hebr sein dürfte.
Das Kapitel schließt mit der Interpretation von Hebr 12,2 im Rahmen der Verse 1 bis 3 als »conclusion and unique representation of the christology in Hebrews« (95). Die Alternative, ob πίστις in V. 2 sich auf unseren Glauben oder den Glauben Jesu bezieht, wird zu Recht als eine falsche abgewiesen, und dies wird durch knappe, auf den biblischen Befund beschränkte semantische Untersuchungen zu ἀρχηγός sowie τελειωτής, das nicht in der Septuaginta und nur hier im Neuen Testament begegnet (stammgleiche Lexeme bleiben unberücksichtigt), fundiert. 12,2 ist dadurch ausgezeichnet, dass dieser Vers zum einzigen Mal in Hebr das Kreuz Jesu explizit erwähnt, was den zuvor vorgeschla- genen kreuzestheologisch akzentuierten Interpretationen der Soteriologie des Textes zusätzliches Gewicht verleiht.
Das dritte Kapitel, »Hebrews 11: (1) Literary Context and Form« (109–166), wendet sich Hebr 11 zu und arbeitet mit der These, auch die »Wolke der Zeugen« diene primär als Beitrag zum besseren Verstehen des »Glaubens Jesu«. Dazu wird in einem ersten Schritt gezeigt, in welcher Weise sich das Kapitel in seinen literarischen Kontext einfügt. U. a. widmet sich die Darstellung ausführlich der Definition des Glaubens in 11,1 und entscheidet sich mit zahlreichen anderen Interpreten und m. E. zu Recht für ein »subjektives Verständnis«; wie in 3,14 (und anders als in 1,3) sei ὑπόστασις als »steadfast confidence« (123) zu verstehen, während ἔλεγχος, das semantisch nahe an πληροφορία gerückt wird (127), mit »conviction« zu übersetzen sei. Etwas überspitzt scheint mir die abschließend formulierte Alternative: »Hebrews is not to praise famous men, but rather one man in particular« (137). Der kommemorativ-versichernde Aspekt der »Wolke der Zeugen« scheint mir hier pragmatisch etwas unterschätzt.
Wie einige Untersuchungen zuvor fragt auch das vorliegende Buch im folgenden Abschnitt nach literarischen Parallelen zu Kapitel 11. Der Vf. favorisiert die Kategorie des Enkomiums (freilich nicht so sehr des Glaubens, sondern vielmehr Jesu als des Glaubenden) und versteht daher die Reihe der Glaubenszeugen als amplificatio. Wie schon die Übersicht auf S. 160 erkennen lässt, ist eine Anwendung der Struktur des Enkomiums, wie sie sich aus den rhetorischen Handbüchern ergibt, auf Kapitel 11 und seinen Kontext nur mit Mühe möglich, so dass der Vf. noch auf derselben Seite einräumen muss: »[…] we should not be surprised that exact parallels with extant encomia are absent from Heb. 11.1–12.3«, vielmehr trage der Text enkomiastischen Charakter. Damit aber ist die gattungskritische und rhetorische Bestimmung zurückgenommen zugunsten der Benennung stilistischer Elemente; für das übergreifende Argumentationsziel, dass nämlich Hebr 11 dem Herausstellen des Glaubens Jesu diene, ist nicht viel gewonnen.
Notwendig, aber auch überzeugender und mehr Gewinn bringend ist daher der Versuch des 4. Kapitels, »Hebrews 11: (2) Typological Anticipations of Christ« (167–224), die in Kapitel 11 genannten Beispiele des Glaubens daraufhin zu befragen, inwieweit sie als »implicit christological typologies« (167) verstanden werden können. Der Abschnitt wird also nicht primär als Beispiel der Wirkungsgeschichte der biblischen Erzählungen neben anderen gelesen, sondern in Hinsicht auf die hier statthabende christologische Auslegung der einschlägigen biblischen Passagen einschließlich ihrer Kontexte. Die schon zuvor gewonnene Einsicht, dass die Schriftauslegung des Hebr sehr wohl kontextbewusst arbeitet – und der Autor also nicht bloß ein Zitator, sondern ein Kenner der jüdischen Heiligen Schrift ist –, bestätigt sich hier, ebenso wie der Ansatz, die Bezugnahme auf die biblische Tradition im Hebr im Wesentlichen als typologisch zu bestimmen. Gelegentlich scheinen mir die geschlagenen Brücken etwas schwach (vgl. zu Rahab, 215–217), doch insgesamt ist aus den Ausführungen viel für eine kontextuelle, und d. h. notwendig chris­tologische, Deutung des Kapitels zu lernen. So gelingt es, auch den summarischen Ausführungen in 11,32–38 dadurch christologischen Sinn abzugewinnen, dass sie den Motiven des Christus Victor und der passio Christi zugeordnet werden.
Eine knappe Zusammenfassung des Argumentationsgangs (Ka­pitel 5: »Conclusion«; 225–228), ein – entgegen zunehmender Unsitte hilfreich gegliedertes – Literaturverzeichnis (229–246) so­wie ein im Sachindex etwas zu knappes Register (247–280) beschließen den Band, der sorgsam ediert ist.
Die vorgelegte Untersuchung arbeitet einen wichtigen Aspekt der Christologie des Hebr insgesamt überzeugend und konzentriert heraus und vermittelt wichtige Einsichten in den Gesamtduktus des Schreibens ebenso wie in die in ihm zur Anwendung kommende Kunst der Schriftauslegung. Sie macht damit einen sinnvollen und erhellenden, freilich nicht den allein vertretbaren Lektürevorschlag für den Hebr, zumal die Frage nach der Pragmatik des Textes eher in den Hintergrund tritt. Das Resultat stellt die weitere, nicht mehr behandelte spannende Frage, ob die Betonung der Glaubenstreue des Messias eine frühchristliche Erfindung ist, oder ob die frühe Christologie sich hier gut in den weiteren Rahmen jüdischer Messianologie der Zeit einpasst.