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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

65–66

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hays, Christopher M.

Titel/Untertitel:

Luke’s Wealth Ethics. A Study in Their Coherence and Character.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XV, 347 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 275. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-159269-9.

Rezensent:

Wolfgang Stegemann

Diese erweiterte Ausarbeitung einer Dissertation von Christopher M. Hays an der Universität Oxford bei Markus Bockmuehl greift ein Thema auf, das in der Lukasforschung seit langen Jahren auf großes Interesse gestoßen ist. Denn es scheint, dass Lukas’ zum Teil radikale sozialethische Forderungen widersprüchlich sind. Einerseits fordert Jesus z. B. einen vollständigen Besitzverzicht (von seinen Jüngern, Lk 14,33; und von einem reichen Ratsherrn, 18,22), in einem anderen Fall (beim reichen Oberzöllner Zachäus, Lk 19,8) scheint ihm die Hälfte zu genügen. In der Apostelgeschichte werden die Mitglieder der sogenannten Jerusalemer Urgemeinde dann auch nicht mehr aufgefordert, ihren Besitz den Armen zu geben, sondern ihn in eine Art Gütergemeinschaft zugunsten der ganzen Gemeinde einzubringen (Apg 2,44–46; 4,32–35). Diese ethische Inkohärenz ist in der jüngeren Forschungsgeschichte – seit Hans-Joachim Degenhardts Studie Lukas – Evangelist der Armen (1964) – unterschiedlich erklärt worden. Degenhardt sah sie in der Differenzierung zweier unterschiedlicher Adressatenkreise (einerseits die Jünger Jesu, andererseits das »Volk« [laos] der Christusglau-benden) begründet.
H. stellt vier Lösungsansätze der Exegesegeschichte kurz dar (Kapitel 1; 1–24), von denen ihn keiner wirklich überzeugt hat. Stattdessen will er seinerseits die Kohärenz der lukanischen Reich­tums-Ethik begründen und deren »Charakter« aus­führlich be­schreiben.
Die folgenden zwei Kapitel bieten jeweils einen Überblick zur Reichtums-Ethik im antiken Judentum (Kapitel 2: 25–49) und in der griechisch-römischen Kultur (Kapitel 3; 50–69). Während H. seinen Abschnitt zum Judentum als Darstellung des jüdischen Milieus versteht, in dem Jesus seine Botschaft verkündigt hat und aus dem das Material des Lukas stamme, dient ihm die griechisch-römische Reichtums-Ethik zur Vorbereitung darauf, wie Lukas Jesu essentiell jüdische Ethik für ein signifikant aus Nichtjuden bestehendes Publikum umgestaltet hat (50). Zwar kommen Er­kenntnisse aus der inzwischen umfangreichen Literatur sozialwissenschaftlicher und kulturanthropologischer Forschung zur antiken mediterranen Ethik und Kultur kaum zur Geltung, doch zeigt H. durchaus profunde Kenntnisse der griechisch-römischen und jüdischen Sozialethik und wichtige Unterschiede auf.
Die Kapitel 4 (»Coherence and Character of Lukan Wealth Ethics«; 70–188) und 5 (»Lukan Wealth Ethics in the Acts of Apos-tles«; 189–263), also seine eigene Deutung der Reichtums-Ethik des Lukas, stehen natürlich auch vom Umfang her im Mittelpunkt der Dissertation. H. beginnt sinnvollerweise mit einer kurzen Darlegung seiner Auffassungen von den Abfassungsverhältnissen des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte (70–79). Erfrischend ist, dass er sich in Bezug auf die Beziehungen des Lukasevange-liums zu den synoptischen Evangelien an die sogenannte »Zwei-Dokumenten-Hypothese« anschließt, die zuletzt ausführlich von Michael Goulder begründet worden ist. Sie führt die Gemeinsamkeiten des Lukas- und Matthäusevangeliums gegenüber Markus darauf zurück, dass Lukas nicht nur Markus, sondern auch das Matthäusevangelium kannte. Diese literarkritische Hypothese sollte eigentlich zu neuen Akzentuierungen der Bedeutung des von Lukas und Matthäus (über Markus hinaus) gemeinsamen Stoffs, speziell auch in Bezug auf die in dieser Studie relevanten Texte zur Reichtums-Ethik führen. Ich war darum gespannt darauf, wie H. zum Beispiel die Unterschiede zwischen Matthäus und Lukas in der für sein Thema herausragend wichtigen Seligpreisung der Armen einschätzt: »Selig die Armen (πτωχοί) im Geiste (ἐν πνεύματι), denn ihnen ist die Königsherrschaft Gottes« (Mt 5,3); »Selig die Armen (πτωχοί), denn euch (ύμετέρα) ist die Königsherrschaft Gottes« (Lk 6,20). Enttäuschenderweise geht H. gerade zu diesem wichtigen Text auf die markanten Unterschiede zwischen Matthäus und Lukas nicht ein.
Der für seine eigene Position der Kohärenz der lukanischen Reichtums-Ethik wichtigste Text ist Lk 14,33. Seine These zu diesem Vers: Die zahlreichen von Lukas beschriebenen ethischen Verhaltensweisen sind kontingenter Ausdruck eines einzigen, kohärenten Grundsatzes, nämlich dass niemand Jünger Jesu sein kann, wenn er nicht auf alle Besitztümer verzichtet. Dieses Prinzip könne sich allerdings in verschiedenen Verhaltensweisen manifestieren, je nach der jeweiligen Berufung und dem relativen Wohlstand des Jüngers (267). H. beruft sich dafür auch auf den griechischen Wortlaut des Verses. Danach könne sich das Verb ἀποτάσσομαι auf unterschiedliche Formen der Absage an den Reichtum beziehen, nämlich: »from categorical divestiture to an internal rejection« (267). Auch der Begriff πάντα, also dass man allem Besitz entsagen soll, ändere daran nichts. Denn die Jünger würden eben ihren Be-ruf aufgeben müssen und ihre Familien verlassen, das heißt im Grunde ihre totale ökonomische Grundlage drangeben. Der reiche ἄρχων, der im Markusevangelium ein reicher Jüngling ist, muss dagegen seinen ganzen Besitz zugunsten der Armen verkaufen (267).
H. verbindet damit zwei der von ihm auch besprochenen Lö­sungsansätze bezüglich der unterschiedlichen sozialethischen Forderungen des lukanischen Doppelwerks. Nämlich den, den er »bi-vocational« nennt (die genannte Differenzierung von Degenhardt), und jenen, der die heterogenen Forderungen mit Blick auf die persönliche Situation der Angesprochenen erklärt (er nennt diesen Ansatz »personalist«). Vollkommener Besitzverzicht im Zuge der Nachfolge Jesu als Jünger ist eben für Petrus etwas anderes als für den reichen Ratsherrn. Doch der wollte bekanntlich »nur« Anteil am ewigen Leben, und erst Jesus fordert ihn zur Nachfolge als Jünger auf, während Zachäus nur seinen halben Besitz den Armen gibt und seinem Haus trotzdem Heil zugesprochen wird. Hätte für den anderen Reichen nicht auch die Hälfte genügt?
Warum sollte der eine unbedingt mit Jesus nach Jerusalem wandern, während der andere dazu nicht aufgefordert wurde?
H. sieht durchaus richtig, dass der Verzicht auf den ganzen Be­sitz relative Größenordnungen an Besitz betreffen kann. Doch warum werden nur die einen zur unmittelbaren Nachfolge aufgefordert, andere nicht? Und wie lässt sich die historische Nachfolge Jesu als Jünger für die gegenwärtigen Leserinnen und Leser des lukanischen Doppelwerks umsetzen, für die ja doch Jesus nicht mehr auf der Erde, sondern im Himmel ist? Dass vielleicht Lukas diese vergangene Version der Jesusnachfolge auch als eine solche versteht, lehnt H. – er nennt sie »i nterims-solution« – strikt ab (6–10). Ebenso die von ihm so genannten »literary solutions« von G. Theißen, F. W. Horn und mir (10–16).
Im 5. Kapitel geht er umfassend die infrage kommenden Perikopen der Apostelgeschichte durch. Es wird dabei deutlich, dass die – modern gesprochen – sozialethische Thematik, die schon das Lu­kasevangelium prägte, auch in der Apostelgeschichte von großer Bedeutung ist. Auch hier bemüht er sich, die Kohärenz der lukanischen Reichtums-Ethik aufzuweisen. Ein zusammenfassendes Ka­pitel 6 (264–270) rundet die Dissertation ab und ermöglicht noch einmal, das Deutungskonzept H.s – jenseits der detaillierten Einzelexegesen – wahrzunehmen.