Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

62–64

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gelardini, Gabriella

Titel/Untertitel:

Christus Militans. Studien zur politisch-militärischen Semantik im Markusevangelium vor dem Hintergrund des ersten jüdisch-römischen Krieges.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. 985 S. = Novum Testamentum. Supplements, 165. Geb. EUR 226,00. ISBN 978-90-04-28234-6.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Bei der hier zu besprechenden umfangreichen Monographie von knapp 1.000 Seiten handelt es sich um eine an der Universität Basel im Jahre 2013 angenommene Habilitationsschrift von Gabriella Gelardini. Die Arbeit zielt darauf, das Markusevangelium – im Sinne der These von »Reaktionsliteratur« – vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des ersten jüdisch-römischen Krieges und des Aufstiegs des flavischen Kaiserhauses zu interpretieren. Dabei geht es G. insbesondere darum, das vermeintlich politisch-militärische Po­tential hinter der markinischen Erzählwelt als eine Art Subtext zu erkennen zu geben. G. richtet ihr Augenmerk »auf die militärischen Zusammenhänge und die Kriegssemantik im engeren Sinne« (23) und arbeitet mit der These, dass »das Evangelium im Zusammenhang eines antiken politischen Herrschaftsdiskurses lesbar« sei (25).
G. beginnt mit einer konzentrierten Einführung in die Arbeiten aus der jüngsten Markusforschung, die zur zeitgeschichtlichen Kontextualisierung des Markusevangeliums in flavischer Zeit beitragen (1–22). Sie deutet in ihrer Auswertung des Forschungsdiskurses (22–27) bereits an, dass sie sich weder denjenigen Forschungspositionen anschließen will, die in der Evangelienschrift eine Herrscherkritik oder ein »herrschaftskritisches ›Gegenevangelium‹« (25) erkennen wollen, noch denjenigen, die das Markusevangelium zwar als eine antirömische Schrift verstehen, die allerdings »nicht an sich eine herrschaftskritische Botschaft verkünde« (ebd.). Dagegen schlägt G. vor, nicht nur die »politischen ›hidden transcripts‹ […], sondern auch die militärisch-kriegerischen zu erheben« (ebd.), so dass die Frage zu beantworten sei, »ob und in welcher Weise […] auch auf der Seite des Protagonisten, den dieses Evangelium Jesu Christi proklamiert, eine militärische Macht zur Durchsetzung vorhanden« sei (ebd.). Nach G. gibt es »keine markinische Szene, die sich nicht in einfacher bis hin zu mehrfacher Weise in den Kontext dieses ersten jüdisch-römischen Krieges einordnen lässt« (27).
Nach einer methodischen Hinführung, in der G. die Fragestellungen und Kriterien ihrer anschließenden Analyse des Markusevangeliums im Sinne einer ›entschleunigten Lektüre‹ (nach T. Söding: 26) darlegt (31–36), folgt der umfangreichste Teil der Monographie – nämlich die Textanalyse, die die gesamte Evangelienschrift von Mk 1,1–16,8 umfasst (37–456). In einem »systematischen Teil« wertet G. ihre Textanalysen dann einerseits narrativ und lexematisch aus (459–582) und versucht andererseits, eine »intertextuell-historische Verortung« in der Zeitgeschichte des 1. Jh.s n. Chr. vorzunehmen (583–883). »Erträge und Schlussfolgerungen« (884 ff.) sowie ein Literaturverzeichnis und Register (895–985) schließen den Band ab.
G. begründet ihre Analyse des Markusevangeliums (37 ff.) von einer narrativen Strukturierung her. Dementsprechend definiert sie »Szenen und Episoden« nach »literarisch-formalen und […] narrativ-inhaltlichen Kriterien« (31). Sie segmentiert die Evangelienschrift in insgesamt 84 fortlaufende Szenen, die chiastisch gegenübergestellten Episodenpaaren (A–E bzw. A‘–E‘) zugewiesen werden. Bei der inhaltlichen Interpretation der einzelnen Episoden und Szenen zielt G. darauf, den politisch-militärischen Inhalt der markinischen Textpassagen als eine Art verschlüsselten Subtext zu erheben – sie spricht von der »Erhebung zentraler identitätsrelevanter und damit auch politisch-militärische (sic!) Aspekte« (35). So wird jede markinische Szene kurz definiert und inhaltlich besonders im Blick auf die jeweiligen Akteure beschrieben und auf ebenjenes ›politisch-militärische Profil‹, das hinter jeder Szene erkennbar werden soll, hin interpretiert. Das genannte erkenntnisleitende Interesse, das der Textanalyse zugrunde liegt, ist gerade bei den Szenen, wo Jesus in Konflikt mit den Repräsentanten seiner Zeit gerät (z. B. Mk 2–3 oder 11), gewinnbringend und fördert instruktive Textbeobachtungen zutage. Bei der textinterpretierenden Arbeit wird letztlich das methodische und hermeneutische Vorhaben, das die Sicht auf Markus programmatisch leitet, deutlich: Die Suche nach der zeitgeschichtlichen, politischen und ideologischen Situierung und Kontextualisierung des Markusevangeliums als Erzähltext führt dazu, dass form- und literaturgeschichtliche Fragen zu den dahinterstehenden Einzelüberlieferungen gänzlich in den Hintergrund der Textinterpretation treten und – stattdessen – der narrative Subtext der Evangelienschrift ausgeleuchtet werden soll.
In der systematisierenden Auswertung der Textanalysen (459 ff.) stellt G. die »makrotextliche Struktur« (459) des Evangeliums so dar, dass die chiastische Zuordnung der Episoden (1,1–15 korrespondiert 14,32–16,8; 1,16–2,17 korrespondiert 13,1–14,31; 2,18–3,35 korrespondiert 11,1–12,44; 4,1–34 korrespondiert 9,30–10,52 und 4,35–8,9 korrespondiert 8,10–9,29) und das »politisch-militärische Metathema« (466) des Markusevangeliums erkennbar werden sollen: Der Narrator, so G., will zeigen, dass es »so wie für die Römer auch für die Juden zweier ›Feldzüge‹ bedarf, um unter dem Vorbehalt der strategischen Geheimhaltung den Sieg zu erreichen« (466). Ähnlich macht G. politisch-militärisch relevante Beobachtungen zu den Akteuren und zu »Raum und Zeit« der Erzählung und listet ein semantisches Inventar kriegsrelevanter Lexematik auf (503 ff.). Die exegetischen Erträge werden anschließend (583–883) mit der in den einschlägigen hellenistisch-römischen und -jüdischen Quellen dokumentierten Zeitgeschichte verknüpft, so dass das Markusevangelium als »hidden transcript« gleichsam dechiffriert und in seinem eigenen ideologischen Anspruch, den Tod Jesu im Er­gebnis als triumphales Ereignis darzustellen (892–894), erschlossen werden kann. G. will im Markusevangelium daher nicht nur eine theologia crucis, sondern auch eine theologia gloriae erkennen (z. B. 27 u. 884). Mit dieser theologischen Perspektivierung bricht G. lange vorherrschende Engführungen bei der Deutung der markinischen Passionserzählung wie der Evangelienschrift als Ganzer in instruktiver Weise auf.
In mancher Hinsicht erweisen sich die Stärken der – insgesamt gut lesbaren – Monographie zugleich auch als ihre Schwächen: Der ambitionierte Anspruch, eine Gesamtinterpretation des Markusevangeliums von 1,1–16,8 zu bieten, verknappt die Untersuchungen der einzelnen Textpassagen. Die Textmenge ist eben (zu) groß. An die Stelle exegetischer Detailarbeit tritt vielfach eine übergreifende Textinterpretation in ebendem Sinne der Erhebung der politisch-militärischen Vorstellungswelt als »hidden transcript« (vgl. auch 884) – auch hierin liegt eine Stärke wie eine Schwäche der Arbeit.
Zu fragen nämlich bleibt: Erzielt die vorgeschlagene Interpretation eine kohärente Deutung des Markusevangeliums auf Kosten von gepressten Textwahrnehmungen, und zwar besonders bei solchen Textpassagen, in denen ein politisch-ideologischer Diskurs nicht, zumindest nicht auf der Textoberfläche deutlich wird (z. B. Mk 12,38–44)? So beschreibt G. das ›politisch-militärische Profil‹ hinter Mk 12,41–44 wie folgt: »die Großzahl der Kriegsopfer (waren) Jerusalems Arme – und davon dürfte es auch in der Antike mehr Frauen als Männer gegeben haben – […], denen das Geld fehlte sich freizukaufen« (371). Wird diese Analyse dem Erzählinhalt und der Pragmatik dieser Perikope gerecht, mit der Markus das öffentliche Wirken Jesu in Jerusalem literarisch wie theologisch programmatisch abschließt? Führt also G.s Vorschlag, »zu jeder der vierundachtzig Szenen […] Bezüge […] zum jüdisch-römischen Krieg« herzustellen (885), in fruchtbarer Weise die imperiumskritische Forschung (zum Markusevangelium) fort, oder werden motivische Kontextualisierungen der Evangelienerzählung in flavischer Zeit letztlich in starre, form- wie sozialgeschichtlich wenig differenzierte Determinanten der Textinterpretation verkehrt?
In diesem Zusammenhang ist auch das im Hintergrund der Untersuchung stehende theoretische Konzept zu hinterfragen: Wie weit kann und darf Scotts Modell des »hidden transcript« (1 f.) texterschließend sein, und wo ist – gerade im Blick auf die Alterität antiker Texte und Textwelten – Kritik an einem Modell geboten, das sozial- und politikwissenschaftlich begründet ist? Die inflationär anmutende Anwendung Scotts in der neutestamentlichen Exegese allein kann die Plausibilität des Modells noch nicht stützen. Schließlich: Die konsequente, ja ausschließliche Zuordnung der Erzählung des Markusevangeliums zu den politisch-militärischen Ereignisfolgen des ersten jüdisch-römischen Krieges ist nicht nur hinsichtlich der Spannung von kohärentem oder determiniertem Lektüremodell (s. o.) zu hinterfragen, sondern wirft auch die Frage auf, wie weit G. die Evangelienschrift letztlich als rein innerjüdische Literatur begreift. So verstanden, würde Scotts Modell vom »hidden transcript«, das ja die Kommunikationsprozesse innerhalb einer »subordinate group« oder politische Diskurse, die »›offstage‹« (J. S. Scott, 1990, z. B. 4) stattfinden, beschreiben soll, allerdings kaum mehr greifen. Denn weder aus der Sicht der flavischen, triumphalistisch angelegten Kaiserideologie, die G. ja zu Recht am Schluss würdigt (886 ff.), noch aus der jüdischen Sicht (vgl. Josephus) ist das in den Krieg involvierte jüdische Volk als »subordinate group« zu sehen. Auch über das sozio-kulturelle und -religiöse setting des Markusevangeliums und die Anfänge des Christentums wäre daher weiter zu diskutieren. (G. hält sich auch im Blick auf die – zumeist mit der imperiumskritischen Lektüre verbundene – Lokalisierung des Markusevangeliums in Rom zurück [vgl. 9 u. 22]).
Die vorliegende Untersuchung ist auf die Dechiffrierung der markinischen Erzählwelt beschränkt. Sie stößt nicht zu der Frage nach der historischen Situation des/der Textproduzenten und der Leserschaft der Evangelienschrift vor und, indem sie weder religions- noch sozialgeschichtlich deren möglichen Sitz im Leben erhebt, wird das Markusevangelium im Ergebnis eher aus der Zeitgeschichte genommen als ihr konkret zugewiesen: »Raum und Zeit« (z. B. 34) der Erzählung sind de facto keine historischen, sondern (nur noch) narrative Kategorien.