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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

59–62

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Elliott, John H.

Titel/Untertitel:

Beware the Evil Eye. The Evil Eye in the Bible and the Ancient World. Vol.1: Introduction, Mesopotamia, and Egypt.

Verlag:

Eugene: Wipf & Stock (Cascade Books) 2015. XXII, 209 S. Kart. US$ 27,00. ISBN 978-1-62032147-8.

Rezensent:

Wolfgang Stegemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Elliott, John H.: Beware the Evil Eye. The Evil Eye in the Bible and the Ancient World. Vol. 2: Greece and Rome. Eugene: Wipf & Stock (Cascade Books) 2016. XIX, 334 S. Kart. US$ 43,00. ISBN 978-1-49820499-6.
Elliott, John H.: Beware the Evil Eye. The Evil Eye in the Bible and the Ancient World. Vol. 3: The Bible and Related Sources. Eugene: Wipf & Stock (Cascade Books) 2016. XXX, 348 S. Kart. US$ 42,00. ISBN 978-1-49820500-9.
Elliott, John H.: Beware the Evil Eye. The Evil Eye in the Bible and the Ancient World. Vol. 4: Postbiblical Israel and Early Chris-tianity through Late Antiquity. Eugene: Wipf & Stock (Cascade Books) 2017. XXV, 216 S. Kart. US$ 29,00. ISBN 978-1-49823072-8.


Dieses mehr als 1100 Seiten umfassende opus magnum des international renommierten amerikanischen Neutestamentlers John H. Elliott sucht seinesgleichen. E. ist emeritierter Professor für Theol-ogy and Religious Studies der University of San Francisco und einer der Mitbegründer der sozialwissenschaftlichen Bibelexegese, die sich etwa zeitgleich in den 1970er Jahren zumal in den USA und Deutschland, dann weit darüber hinaus etabliert hat. Zusammen mit Bruce J. Malina hat er insbesondere auch eine spezielle Ausrichtung der sozialwissenschaftlichen Exegese, die Erkenntnisse und Methoden der Kulturanthropologie ( cultural anthropology) aufnimmt, in die Bibelauslegung eingeführt. In diesen vier Bänden verbindet er kulturanthropologische und sozialwissenschaftliche Methoden. Die Thematik des »bösen Blicks« hat ihn seit Langem fasziniert. E. weiß alles darüber, was man wissen kann. Seine Emeritierung versetzte ihn in die komfortable Lage, seine ausgedehnten Forschungen zu vertiefen und dieses gigantische Werk zu vollbringen.
Die Aufteilung der vier Bände folgt im Prinzip historischen und geographischen Kriterien. Die historisch-geographische Ordnung der vier Bände scheint mir auch darum sehr gelungen zu sein, weil sie deren Lektüre erleichtern und steuern kann. So versteht es sich von selbst, mit der Einleitung (Bd. 1, 1–76) zu beginnen, um die Leserinnen und Leser überhaupt erst einmal mit diesem Phänomen, das im Deutschen »böser Blick« genannt wird, etwas vertrauter zu machen. Zugleich behandelt dieser Band die ältesten Vorkommen des Phänomens in der mediterranen Welt, nämlich in Mesopotamien und Ägypten (Bd. 1, 77–156).
Der zweite Band geht auf das Phänomen in der antiken griechisch-römischen Kultur ein, u. a. auf die Terminologie, auf herausragende Aspekte dieses Glaubens/belief bzw. der mit ihm verbundenen (Abwehr-)Praktiken. E. schlägt auch den Bogen zu mo­dernen Ausprägungen und notiert markante Unterschiede. Ebenso geht er auf die komplizierten Zusammenhänge mit den für die antiken Kulturen wichtigen Phänomenen des Neids (envy), der Eifersucht (jealousy) und des Eifers (zeal) ein. Im dritten Band stehen biblische Texte der Hebräischen Bibel, ihrer griechischen Übersetzung (LXX) – mit Seitenblicken auf die Vulgata – und das Neue Testament im Mittelpunkt. Der vierte Band behandelt u. a. auch materielle (etwa Amulette zur Abwehr des bösen Blicks) und vor allem literarische Belege für die weitergehende Bedeutung
des Phänomens in der postbiblischen Ära Israels und im frühen Christentum der Spätantike. Er vermittelt zudem einen kurzen Eindruck von dessen Fortleben im Islam.
Was ist das eigentlich, der »böse Blick«? E. sagt, es ist ein »Volksglaube« mit dazu gehörenden »Praktiken«: »a widespread folk be­lief complex and one of the most widespread behaviorally influential beliefs in the ancient world« (Bd. 1, 3). Er stellt dessen Ge­schichte, seine enorme Ausbreitung in den antiken mediterranen Kulturen und deren intensive Erforschung dar. Besonders gelungen scheint mir auch seine Einordnung dieses »Volksglaubens« in die gesellschaftlichen Zusammenhänge (Bd. 1, 41–44), d. h. in die vorherrschenden ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen. Dazu geht er immer wieder auf den Um­gang damit, zumal auch in Bezug auf die biblischen Beispiele etwa in der Chris­tentumsgeschichte, ein; er verweist auch auf moderne Adaptionen und Anspielungen in den verschiedensten kulturellen Bereichen – auch außerhalb der mediterranen Welt – von der Popkultur bis zum Sport (vgl. zu seinem »Programm« Bd. 1, 2). Dass dieser »Glaube« noch heute zumal in der mediterranen Welt, aber auch in Südamerika verbreitet ist, kommt immer wieder zur Geltung.
Ein Zitat einer Frau aus Palermo (aus einer Sendung des Deutschlandfunks zum Thema) kann auf die Ambivalenz im Um­gang mit diesem Phänomen hinweisen: »Non è vero, ma ci credo« – »Es ist nicht wahr, aber dennoch glaube ich daran«. Der Glaube an den bzw. die Furcht vor dem bösen Blick (italienisch: »malocchio«) scheint noch heutzutage stärker zu sein als die von der Vernunft bestimmte Unterscheidung von wirklich und irreal, von richtig und falsch. Er ist offenbar – mit einem Buchtitel von Gernot und Hartmut Böhme zu sprechen – ein Beispiel für »Das Andere der Vernunft«. Diese Einordnung ist, so meine ich, ganz im Sinne von E.s Verständnis des Phänomens. Denn er sagt ja gerade nicht, es sei ein »Aberglaube«, noch erhebt er sich über die vermeintliche »Irrationalität« dieses »Glaubens«. Er akzeptiert und achtet vielmehr dessen reale Existenz und bezeichnet ihn mit dem Wort Glauben ( belief), also mit dem Begriff für ein Konzept, das die Erfahrungen in dieser Welt nicht auf pure Rationalität gründet, sondern auch auf das »Andere« der Vernunft, zu dem Gefühle, Ängste, Ahnungen, Faszinationen und Spekulationen gehören. In Aufnahme des Zitats: Es mag zwar im Sinne der kritischen Vernunft nicht wahr sein, aber ich glaube daran, denn es ist ein Teil meiner Lebenserfahrung.
Woran glaubt denn dieser Glaube? E. sagt: »Dieser Glaube rechnet damit, dass bestimmte Individuen (Menschen, Götter, Dämonen, Tiere und mythologische Figuren) ein Auge besitzen, dessen machtvoller Blick jedem Objekt […] schaden oder es zerstören kann« – zumal die Gesundheit und das Leben, ja selbst kulturelle Werte wie die Familienehre. Besonders gefährdet sind stillende Mütter, deren Milch der böse Blick verderben kann, aber auch fruchttragende Bäume, milchgebende Tiere und der männliche Samen. Besonders verletzlich sind Kinder und die Schönen und Erfolgreichen. Je schöner und erfolgreicher desto gefährdeter. Um­gekehrt: Grundsätzlich können alle Personen und Kreaturen den bösen Blick besitzen, besonders solche mit ungewöhnlichen Augen oder physischen Deformationen, Menschen mit antisozialem Verhalten, Fremde usw. Gefährdet ist man in der Situation der Geburt, Hochzeit und der Begegnung mit Fremden. Die Schädigung, so stellt man sich vor, geschieht durch die Aussendung gefährlicher Energie-Partikel aus den Augen (Zitate sind Übersetzungen aus Bd. 1, 3). Großen Wert legt E. auf die Differenzierung der Begrifflichkeit (hebräisch, griechisch, lateinisch) und deren Wiedergabe in den jeweiligen Übersetzungen in verschiedene moderne Sprachen.
Es geht in diesem vierbändigen Werk also um die Phänomenologie des »bösen Blicks«, seine kulturelle und gesellschaftliche Einbettung und seine antike Geschichte von den Sumerern bis in die Spätantike. Ob bei griechischen und römischen Schriftstellern, in der hebräischen Bibel und dem Neuen Testament, den Kirchenvätern, der schützenden Hand Miriams oder der islamischen Fatima, den vielen Amuletten zur Abwehr des bösen Blicks, immer wieder auch mit Ausblicken auf die Gegenwart. Sein Interesse an dem Umgang mit dem bösen Blick reicht von Aristoteles über Francis Bacon, Shakespeare bis zu Edgar Allan Poe und selbst politischen Gestalten der Gegenwart (etwa Manuel Noriega). Er untersucht die Terminologie in verschiedenen Sprachen und bietet eine detaillierte Beschreibung der wichtigen Aspekte dieses »Volksglaubens« und der ihn betreffenden (Abwehr-)Praktiken.
Wenn man sich in dieses uns so fremde Phänomen etwas eingelesen hat, kann man – je nach fachspezifischen Interessen (etwa hinsichtlich der griechisch-römischen Welt, der biblischen Texte, der jüdischen und christlichen post-biblischen Texte, als Bibelwissenschaftler, Althistoriker oder Kirchenhistoriker etc.) – eine Fülle von Anregungen finden, dieses (jedenfalls außerhalb der mediterranen Kulturen) weithin unbekannte Phänomen kennenzulernen. Ja, ich habe bei der Lektüre gelernt, wenigstens ansatzweise die Faszination zu verstehen, die es auf seinen Erforscher Elliott ausgeübt hat. Ein bisschen davon gibt er in jedem der vier Bände an seine Leserinnen und Leser weiter.
Aus der Hebräischen Bibel wie ihrer griechischen Übersetzung (LXX) benennt E. eine beträchtliche Anzahl von Belegstellen (etwa 5Mose 15,9; 28,54.56), zumal auch aus der Weisheitsliteratur (Spr 23,6; 28,22) bzw. aus der LXX, insbesondere Sir 14. Mithilfe der Lektüre deutscher Übersetzungen wird man nicht immer auf die Idee kommen, dass es um den bösen, schädigenden Blick geht; denn in den meisten Übersetzungen wird das – wie E.s Untersuchungen zeigen – nur in der Ursprungssprache erkennbare Phänomen (vgl. etwa 5Mose 15,9) gewissermaßen modernisiert und moralisiert (zu Geiz, Eifersucht u. Ä.). Vergleichbares gilt für das Neue Testament, das nach E. fünf explizite Verweise auf das Phänomen enthält (Mt 6,22 f.; 20,15; Lk 11,33–36; Mk 7,22 und Gal 3,1). Am aussagekräftigsten ist sicher der Paulustext aus dem Galaterbrief, dessen Übersetzung durch E. ich zitiere: »O uncomprehending Galatians, who has injured you with an envious Evil Eye ( ἐβάσκανεν), you before whose very eyes Jesus Christ was publicly portrayed as crucified.« (Bd. 3, 218)
Wenn ich das richtig sehe, so geht es E. in dieser und allen anderen Interpretationen biblischer Texte darum, die kulturelle Semantik zu beachten und diese in der Übersetzung herauszuarbeiten. Etwas allgemein gesagt: Die Übersetzung soll gerade nicht den Sinnzusammenhang der Wörter des fremden Textes »akkulturieren«, in unsere kulturelle Welt und ihre Werte »übersetzen«, sondern die fremde Kultur, die sich in ihnen formuliert, in Begriffen unserer Sprache ausdrücken.
Bemerkenswert finde ich auch eine Erkenntnis der Forschungen E.s, wonach weder in den biblischen noch in den postbiblischen Belegen für den »Glauben« an den bösen Blick dieser mit einem religiösen Tabu belegt wird. Etwa derart: Dieser »Aberglaube« steht im Widerspruch zu Israels Verehrung des einen Gottes, oder – im Blick auf die christusglaubenden Gemeinschaften – des Vaters Jesu Christi. E. kann vielmehr zeigen, wie »im Fall der rabbinischen Weisen auch die christlichen Kommentatoren in Bezug auf den bösen Blick den größten Teil des (traditionellen) Konzepts im Zusammenhang mit dem Glauben an den bösen Blick« übernommen haben (Übersetzung einer Formulierung aus Bd. 4, 48). Freilich hat es in der frühchristlichen Rezeption eine signifikante Entwicklung insofern gegeben, als das Konzept mit dem Bösen, d. h. mit Satan, dem Fürsten der Dämonen, verbunden worden ist (Bd. 4, 48 f.). Auch in den materiellen Abwehrinstrumenten (Amuletten z. B.) ist eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den griechisch-römischen, den jüdischen und den christlichen Objekten zu erkennen, von denen einige jedoch – etwa durch das Christusmonogramm – als typisch christlich oder andere auch als typisch jüdisch identifizierbar sind.
Wer die Fremdheit der kulturellen Welt, in der auch die biblischen Texte des Alten und des Neuen Testaments entstanden sind, an einem wichtigen Beispiel kennenlernen will, für den ist das vierbändige Werk E.s geradezu eine Fundgrube. Und es ist nicht nur die Kultur der Bibel, von Abraham über Mose bis Jesus und Paulus, sondern auch die Kultur von Platon über Aristoteles bis Cicero und Seneca, die sich der Magie des bösen Blicks nicht rationalisierend entzogen hat. Viele Fragmente dieser Kultur haben Jahrhunderte überlebt – ja sie sind immer noch Gegenwart. Insbesondere auch die Amulette, mit denen der böse Blick ferngehalten werden soll. Sie finden sich nicht nur in der mediterranen Welt, sondern sind auch aus ihr importiert worden, etwa – wie man hört – von Prinz Charles und Bill Clinton.