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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1281–1284

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Langner, Albrecht

Titel/Untertitel:

Katholische und evangelische Sozialethik im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge zu ideengeschichtlichen Entwicklungen im Spannungsfeld von Konfession, Politik und Ökumene.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1998. 778 S. gr.8. geb. DM 128,-. ISBN 3-506-75111-5.

Rezensent:

Martin Honecker

In einem voluminösen Band von fast 800 Seiten Umfang legt A. Langner 22 Beiträge vor, die Bilanz und Dokumentation eines Lebenswerkes sind. Der Schwerpunkt liegt auf der katholischen Soziallehre, vor allem ihrer Entwicklungsgeschichte, aber auch der Darstellung evangelischer Sozialethik aus der Sicht eines sensiblen und ökumenisch aufgeschlossenen Vertreters katholischer Soziallehre.

Der Terminus "ideengeschichtliche Entwicklungen" benennt die Arbeitsweise: Es geht L. um ideen- und kulturgeschichtliche Analysen in gesamtgesellschaftlichem Kontext von Konfession, Politik und Ökumene. Das Vorwort konstatiert eingangs ausdrücklich: "Im Bereich entwicklungsgeschichtlicher und zugleich epochenübergreifender Darstellungen der katholischen und evangelischen Sozialethik bestehen traditionell deutliche Defizite" (5). Behandelt werden im Band allerdings nur Autoren aus dem deutschsprachigen Bereich. Die Beurteilung orientiert sich dabei an den allgemein anerkannten "Sozialprinzipien" der katholischen Soziallehre: Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Die ältesten und frühesten Beiträge stammen aus dem Jahr 1964: "Demokratie und Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen" (430-438) und 1967 (z. B. 439-452: "Der Protestantismus vor der sozialethischen Aufgabe: In memoriam Friedrich Karrenberg"). Die letzten sehr umfangreichen Beiträge wurden erst 1997 abgeschlossen: "Konfession und sozialethische Prävalenz als Streitfrage zwischen katholischer Sozialethik und Kulturprotestantismus im Zeichen der neuscholastischen Wende" (202-268), sowie "Evangelische Sozialethik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges" (376-429). Dieser ausführliche Überblick über die evangelische Sozialethik geht davon aus, daß eine evangelische Sozialethik zwar erst sehr spät und zaghaft als selbständige theologische Disziplin etabliert wurde, aber heute ökumenisch relevant und verständnisbildend ist. Die Vorgeschichte der Sozialethik in der Auseinandersetzung mit der sozialen Frage (seit J. H. Wichern), die Diskussion auf dem evangelisch-sozialen Kongreß seit 1890 (u. a. mit Adolf Stöcker, Friedrich Naumann, Max Weber und Ernst Troeltsch) sowie der religiöse Sozialismus und die sozialkirchliche Arbeit der Spandauer Sozialschule in den 20er Jahren (z. B. Friedrich Brunstäd) bleiben freilich unbedacht.

L. selbst ist geprägt vom Aufbruch des Zweiten Vatikanums, insbesondere von der Pastoralkonstitution "Über die Kirche in der Welt von heute", Gaudium et spes. Er betont die Autonomie der irdischen Wirklichkeit. Vor allem zeichnet er sorgsam eine Konvergenz zwischen katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik seit 1945 nach, im Blick auf das Naturrecht, das Leitbild "Verantwortliche Gesellschaft", die Entwicklung zu einer Struktur- und Institutionenethik, eine empirisch-pragmatische Grundlegung sozialethischer Grundwerte und die Inan-spruchnahme praktischer Vernunft (vgl. z. B. 402 ff.), sowie die Übereinstimmung in Sozialprinzipien wie Solidarität und Subsidiarität; die "Sozialprinzipien" der katholischen Soziallehre werden freilich auf evangelischer Seite nicht Sozialprinzipien genannt, sondern uneinheitlich als Grundsätze, Leitbilder, Kriterien, Normen, Maßstäbe oder Regeln bezeichnet (415 f.). Dieser Beitrag zur evangelischen Sozialethik verdient gerade auch auf evangelischer Seite Aufmerksamkeit und Beachtung, da er eine Grundlage gemeinchristlicher Sozialethik theoretisch begründet und ins Blickfeld rückt. Für die Entwicklung katholischer Soziallehre wird eingehend die Entwicklung von einer organologisch argumentativen Kapitalismuskritik, einem Solidarismus, sogar von einem "christlichen Sozialismus" hin zur Bejahung der sozialen Marktwirtschaft, von einem ständestaatlichen Konzept hin zur Anerkennung der freiheitlichen Demokratie, von einem integralen Katholizismus zu einer weltoffenen Katholizität mit vielen, zum Teil kaum noch zugänglichen Belegen nachgezeichnet. L. schöpft dabei aus einem reichen Fundus an Nachweisen und Belegen, zum Teil sogar aus Tageszeitungen und Periodica, die ansonsten kaum zugänglich sind.

Zum Inhalt: Die 22 Beiträge sind in vier Teile gegliedert:

I. Teil: "Die christlich-konservative Konzeption einer konfessionsübergreifenden, konkret zeitbezogenen und zeitkritischen Sozialethik seit 1800":

1. Realsoziologische Kontexte am Beispiel der Konzeption Adam Müllers: Zur konservativen Position in der politisch-ökonomischen Entwicklung Deutschlands vor 1848 (21 ff.).

2. Die organische Gesellschaftslehre Adam Müllers - Grundlegung einer ersten in das Moderne gewendeten christlichen Sozialethik in Deutschland (80 ff.).

3. Grundlegung des sozialethischen Denkens bei Wilhelm Emmanuel von Ketteler - Ein Beitrag zum Verhältnis von Sozialethik und Staatswissenschaft im 19. Jahrhundert (154 ff.)

Für die Zeit vor 1870 gilt das ideengeschichtliche Interesse L.s der organischen Gesellschaftslehre. Besondere Aufmerksamkeit findet auch Heinrich Pesch (114 ff.) und sein Konzept des Solidarismus.

II. Teil: "Sozialethik im religiös-politischen Konfessionalismus seit 1871":

4. Konfession und Sozialethische Prävalenz als Streitfrage zwischen katholischer Sozialethik und Kulturprotestantismus im Zeichen der neuscholastischen Wende (202 ff.).

5. Konfession und Sozialethik des Nationalen: Katholizismus und nationaler Gedanke in Deutschland (269 ff.).

6. Konfession und Demokratie: Politischer Katholizismus im Urteil des Weimarer Protestantismus (301 ff.).

7. Konfession und kulturethische Dominanz: Weimarer Kulturkatholizismus und interkonfessionelle Probleme (335 ff.).

Die Zeit zwischen 1870 und 1933 steht für die katholische Soziallehre im Zeichen des Kulturkampfes. Fragen nach dem Verhältnis von Konfession und Kultur treten in den Vordergrund. Die zahlenmäßig meisten Beiträge finden sich sodann im

III. Teil: "Konfession und Sozialethik seit 1945":

8. Evangelische Sozialethik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (376 ff.).

9. Demokratie und Öffentlichkeitsanspruch der Kirche (430 ff.).

10. Der Protestantismus von der sozialethischen Aufgabe: In memoriam Friedrich Karrenberg (439 ff.).

11. Im Zeichen der sozialethischen und ökumenischen Neubeginns: Die Demokratie im Urteil neuerer evangelischer Ethik des Politischen (453 ff.).

12. Wirtschaftsethik im Kontext der Nachkriegszeit: Wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen im deutschen Katholizismus 1945-1963 (467 ff.).

13. Die politische Gemeinschaft in der Sozialverkündigung der Kirche von Leo XIII. bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (549 ff.).

14. Gesellschaftspolitische Konsequenzen der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (588 ff.).

15. Kirche und Staat. Zur Grundlegung der Verhältnisbestimmung in pluralistischer Gesellschaft und demokratischem Rechtsstaat seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (605 ff.).

16. Katholische Kirche und Kommunismus (645 ff.).

17. Katholischer Soziallehre im Urteil marxistischer Religionskritik (660 ff.).

18. Sozialtheologische Elemente der politischen Ethik im Sinne der Enzykliken Redemptor hominis Johannes Paul II. (1974) (674 ff.).

Die Fragestellung zentriert sich im 3. Teil auf die Stellung der Kirche zu Staat, Wirtschaft, politischen Bewegungen.

IV. Teil: "Christliche Sozialethik als Gegenstand ökumenischer Sozialethik auf der Weltkirchenkonferenzen der Nachkriegszeit":

19. Politische Ethik als Frage ökumenischer Sozialethik (690 ff.).

20. Grundfragen der ökumenischen Weltkirchenkonferenz von Uppsala 1968 (723 ff.).

21. Ökumenische Bewegung und Katholizismus nach der Weltkirchenkonferenz von Uppsala 1968 (734 ff.).

22. Gesellschaftliches Engagement und Kirchenbegriff der ökumenischen Bewegung (746 ff.).

Drei der Beiträge im Teil IV stammen aus dem Jahr 1968, dem Jahr der Weltkirchenkonferenz von Uppsala, der letzte aus dem Jahr 1971. Die neueren Diskussionen um die Sozialethik im ÖRK sind nicht mehr berücksichtigt, etwa um eine Theologie der Revolution, die Antirassismus- und Antimilitarismusdebatte, die Friedensdiskussion, die Forderung nach einem Friedenskonzil, die Stellung zu multinationalen Konzernen, die Diskussion um eine neue Weltwirtschaftsordnung. Hat diese Nichtberücksichtigung nur biographische, gleichsam "technische" Ursachen, oder könnte dies nicht auch Zeichen wachsender Distanz zwischen Rom und Genf sein?

Von den durchweg ausgewogenen Beiträgen besonders hervorzuheben ist der informative 12. Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaftsethik in der katholischen Soziallehre nach 1945. Insgesamt tragen die geistes- und ideengeschichtlichen Durchblicke viel zur Klärung von Argumentationen der Sozialethik bei. Auf katholischer Seite werden von L. die Politische Theologie (J. B. Metz), die Befreiungstheologie, die Neuansätze in der Soziallehre (z. B. F. Hengsbach) allerdings nicht in die Überlegungen einbezogen. Auf evangelischer Seite wird die radikale Gesellschafts- und Kirchenkritik mit Nichtachtung gestraft - H. Gollwitzer wird ebenso wie J. Moltmann nur einmal zitiert; Namen wie z. B. W. Kreck, U. Duchrow, Dorothee Sölle kommen im Register nicht vor. Die ostdeutschen und westdeutschen Anwälte einer "Kirche im Sozialismus" bleiben ebenfalls außen vor. Der konziliare Prozeß "Für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung" und der Diskussionsprozeß um das Gemeinsame Sozial- und Wirtschaftswort der Kirchen sind ebenfalls nicht mehr oder noch nicht im Blick der Ausarbeitung der ideengeschichtlichen Entwicklung der Soziallehre bei L. Sein magnus opus ist eine Fundgrube für die Kenntnis der Entstehung, die Veränderung und Entwicklungen katholischer und evangelischer Sozialethik in Deutschland vor allem nach 1945. Es bringt Ideen und Leitgedanken ans Licht und will nicht zuletzt zu ökumenischer Verständigung und zur Entdeckung und Wahrnehmung von konfessionsübergreifenden gemeinchristlichen Einsichten anleiten. Das Buch erweist sich darin als ein Standardwerk, das im Spannungsfeld von Konfession, Politik, Gesellschaft und Ökumene richtungsweisende Wegmarkierungen setzt.

Wegen der erneuten Veröffentlichung der meisten Beiträge ergeben sich freilich thematische Überschneidungen und Wiederholungen. Hilfreich wäre für den Benutzer zudem, wenn die Seitenzählung der Erstveröffentlichungen auch angegeben wäre. Der geschichtliche Rückblick wirft ein neues Licht auf die christliche Sozialethik in der Moderne, wenn die Intention einer konfessionsübergreifenden Sozialethik auf organologischer Grundlage, wie sie Adam Müller vertrat, in ihrer irenischen Grundhaltung gebrochen wird durch konfessionalistische Auseinandersetzungen zwischen neuscholastischer katholischer Sozialethik und Kulturprotestantismus. L.s Ziel ist es über die Praxis gemeinsamer Stellungnahmen der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland zu Fragen des öffentlichen Lebens die gemeinsame theoretische Basis in Sozialprinzipien und Leitmaximen strukturaler Gesellschaftsgestaltung herauszuarbeiten und sichtbar zu machen. Man sollte diese Zielsetzung wegen ihrer ökumenischen Bedeutung aufnehmen und die Möglichkeiten eines konstruktiven Dialogs in Fragen der Gesellschaftstheorie und Sozialtheologie produktiv (und kritisch) nutzen.