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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

45–47

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wischmeyer, Oda [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart. Hrsg. in Gemeinschaft m. E.-M. Becker, H.-P. Großhans, M. W. Elliott, L. Hell, K. Pollmann, Th. Prügl, M. Schröter, A. Schubert. Red.: M. Durst.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XI, 1015 S. = De Gruyter Handbook. Geb. EUR 189,95. ISBN 978-3-11-032999-5.

Rezensent:

Manfred Oeming

Das hier knapp anzuzeigende monumentale Werk, das sich selbst mit der Abkürzung HBH versieht, ist seiner Natur nach ganz ungewöhnlich. Als eine Art Literaturlexikon der Bibelauslegung schließt das HBH eine Lücke der Forschung und bietet eine »historisch orientierte Einführung in die wichtigsten Texte der Bibelhermeneutik« (6). Dabei wird eine ganz neue Fülle der Gedanken und der Modelle deutlich. Nach Wischmeyers Konzept wird weniger eine philosophisch-systematische Beschreibung des Inhaltes der Klassiker der Bibelhermeneutik angestrebt als vielmehr eine verlässliche Darstellung der geschichtlichen Kontexte ihrer Entstehung. So ist eine beeindruckende Einleitung in die Klassiker der Schriftauslegung entstanden, die aus der Feder von 59 renommierten Experten unter der Leitung von neun Herausgebern 70 Artikel, davon 53 deutschsprachige, 14 englische und drei französische Beiträge umfasst – alle mit ca. 15 Druckseiten ungefähr gleich lang bzw. knapp. Der rückseitige Klappentext verheißt 90 Artikel; wohl ein Druckfehler.
Das HBH will ganz bewusst zur »Überwindung der sprachlichen, konfessionellen und nationalen Traditionsgrenzen« (3) beitragen. Das bewundernswert reichhaltige Werk, das so manchen Schatz hebt, den man sonst gar nicht kennte, ist ganz außerordentlich breit aufgestellt. Dabei muss man diesen üppigen Bestand des HBH noch im Zusammenhang mit zwei weiteren voluminösen Wer­ken sehen, mit denen dieser Band eine »hermeneutikgeschichtliche Trilogie« bildet: 1. E.-M. Becker/S. Scholz (Hrsg.), Ka­non in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Ein Handbuch, Berlin/Boston 2012 (756 S., 169,95 EUR), bietet eine Art »Vor­geschichte«, indem es aufzeigt, wie »eminente« religiöse und literarische Texte in der Antike kanonisiert wurden.
Hier werden u. a. die Kanonisierungsprozesse von Homer und Vergil, der Septuaginta und der Qumrantexte sowie des Neuen Testaments miteinander verglichen. Zweitens muss das ebenfalls von O. Wischmeyer herausgegebene »Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte« (De Gruyter Stu-dium), Berlin/Boston 2009, abgekürzt LBH, hinzugezogen werden, welches Grundbegriffe, Methoden und Konzeptionen biblischer Verstehenslehren nach Stichworten stärker systematisch geordnet im Kontext allgemeiner Hermeneutik erarbeitet und religionswissenschaftliche Bezüge zu Judaistik und Islamwissenschaft herstellt.
Das hier anzuzeigende Werk ist streng chronologisch aufgebaut; es reicht von Origenes bis zu den aktuellen Trends der Hermeneutik (die in einem Überblicksartikel von Arie Zwiep skizziert werden) und ist in acht Epochen untergliedert: 1. Alte Kirche, 2. Mittelalter, 3. Reformation, 4. katholische Bibelhermeneutiken (16.–20. Jh.), 5. allgemeine Hermeneutik und Bibelhermeneutik in Aufklärung und Pietismus, 6. Early Modern Protestant Hermeneutics, 7. protestantische Bibelhermeneutiken im 19. Jh., 8. das 20. Jh. aus protestantischer hermeneutischer Perspektive. Zum Einstieg und zur Orientierung über die jeweils vorherrschenden Fragestellungen und Problemlösungen bietet es sich an, die 5- bis 15-seitigen Einführungen in die jeweilige Epoche zu lesen. Die einzelnen Beiträge sind mit ausgezeichneten Bibliographien versehen, so dass ein intensives Weiterarbeiten stets möglich ist. Im Folgenden werden die Autoren und die Titel aufgeführt, vorab steht die Seite, auf welcher der Artikel beginnt:
1 Oda Wischmeyer, Vorwort und Einführung – Bibelhermeneutiken in der Alten Kirche: 9 Karla Pollmann, Alte Kirche: Einführung – 13 Anna Tzvetkova-Glaser, Origenes. De principiis – 23 Karla Pollmann, Tyconimus. Liber Regularum as a Synecdochic Hermeneutics – 35 John Behr, Diodore of Tarsus and his Exegesis – 47 Jochen Schultheiß, Augustinus. De doctrina christiana – 63 Charlotte Kempf, Eucherius von Lyon. Formulae spiritalis intellegentiae und Instructiones – 73 Richard Flower, Adrian. Introduction to the Divine Scriptures – 83 Thomas E. Hunt, Junillus Africanus. Instituta Regularia Divinae Legis – 97 Jochen Schultheiß, Cassiodor. Institutiones divinarum et saecularium litterarum — 111 Katharina Greschat, Gregor der Große. Die epistula dedicatoria und die praefatio zu den Moralia in Job – Bibelhermeneutiken im Mittelalter: 125 Thomas Prügl, Mittelalter: Einführung – 135 Franklin T. Harkins, Hugh of St. Victor. Didascalicon on the Study of Reading – 149 Gilbert Dahan, Thomas de Chobham. Le prologue de la Summa de arte praedicandi – 161 Thomas Prügl, Summa Halensis. Tractatus introductorius, qu. 1: De doctrina theologiae – 177 Marianne Schlosser, Bonaventura. Breviloquium, Prolog – 191 Thomas Prügl, Thomas von Aquin. Summa theologiae, I, 1, 9–10 – 207 Gilbert Dahan, Henri de Gand, L’Introductio generalis ad sacram Scripturam – 221 Johannes Karl Schlageter, Petrus Johannis Olivi. Hermeneutik der Heiligen Schrift – 239 Ian Christopher Levy, Nicholas of Lyra. The Biblical Prologues – 255 Ian Christopher Levy, John Wyclif. The Hermeneutics –Bibelhermeneutiken in Humanismus und Reformation: 273 Anselm Schubert, Humanismus und Reformation: Einführung – 277 Christoph Schönau, Jacques Lefèvre d’Etaples. Quincuplex Psalterium (1509) – 285 Silvana Seidel Menchi, Desiderius Erasmus von Rotterdam. Bibelhermeneutik – 297 Martin Keßler, Andreas Bodenstein von Karlstadt. De canonicis scripturis libellus (1520) – 313 Thomas Kaufmann, Luthers Bibelhermeneutik anhand seiner Vorrede auf das Neue Testament und De servo arbitrio — 323 Alejandro Zorzin, Hans Hut. Christliche Unterrichtung – 331 Nicole Grochowina, Bernhard Rothmann. Von der Verborgenheit der Schrift (1535) – 347 Arne Dembek, William Tyndale. A Pathway into The Holy Scripture (1531?) – 363 Chris­toph Strohm, Johannes Calvin. Institutio Christianae Religionis, Buch I, Kap. 6–9 – 371 Anselm Schubert, Sebastian Franck. Das verbüthschiert Buch – 381 Hans-Peter Großhans, Matthias Flacius lllyricus. Clavis Scripturae Sacrae (1597)– Early Modern Protestant Hermeneutics: 391 Mark W. Elliott, Early Modern Protestant Hermeneutics: Introduction — 395 Torrance Kirby, Richard Hooker as Biblical Interpreter – 409 Mark W. Elliott, Johannes Cocceius – 423 Kęstutis Daugirdas, Philipp van Limborch. Theologia christiana (1686) – 433 Charles K. Telfer, Campegius Vitringa, Sr. »Praefatio ad lectorem,« in: Commentarius in librum prophetiarum Jesaiae (1716) and »De interpretatione prophetiarum,« in: Typus doctrinae propheticae, in quo de prophetis et prophetiis agitur, hujusque scientiae praecepta traduntur (1708) – 449 Maria-Cristina Pitassi, John Locke – 463 Mark W. Elliott, Jean Leclerc – 475 Michael C. Legaspi, Robert Lowth. Preliminary Dissertation. Isaiah. A New Translation (1778) – Katholische Bibelhermeneutiken (16.–20. Jahrhundert): 491 Leonhard Hell: Einführung — 499 Fernando Domínguez Reboiras, Sante Pagnini. Isagoga ad sacras literas, eiusdem Isagoga ad mysticos sacrae Scipturae sensus (1536) – 507 Peter Walter, Melchor Cano. De locis theologicis (1563) – 519 Fernando Domínguez Reboiras, Martín Martínez de Cantalapiedra. Libri decem hypotyposeon theologicarum sive regularum ad intelligendum scripturas divinas (1565) – 529 Helmut Zedelmaier, Sixtus Senensis. Bibliotheca sancta (1566)– 537 Thomas Dietrich, Robert Bellarmin. De verbi Dei interpretatione (1586) – 547 Marius Reiser, Richard Simon. Histoire critique du Vieux Testament (1678/ 1685)– 559 Franz-Josef Niemann, Pierre-Daniel Huet. Demonstratio Evangelica (1679) – 569 Bernhard Lang, Augustin Calmet. Dissertations. Prolégomènes de lʼÉcriture sainte (1720) – 583 Klaus Unterburger, Papst Leo XIII. Enzyklika Providentissimus Deus (1893) – 593 Claus Arnold, Alfred Loisy. Études bibliques (1903) – 603 Bernard Montagnes, Marie-Joseph Lagrange. La Méthode historique (1903/ 1904)– 613 Klaus Unterburger, Papst Pius XII. Enzyklica Divino afflante Spiritu (1943) – 623 Leonhard Hell/Karim Schelkens, Vaticanum II. Dei Verbum (1965) – Allgemeine Hermeneutik und Bibelhermeneutiken in Aufklärung und Pietismus: 635 Marianne Schröter, Aufklärung und Pietismus: Einführung – 639 Marianne Schröter, Siegmund Jacob Baumgarten. Unterricht von Auslegung der heiligen Schrift (1742) – 651 Constantin Plaul, Johann August Ernesti. Institutio Interpretis Novi Testamenti (1761) – 663 Constantin Plaul, August Hermann Francke. Manuductio ad lectionem Scripturae Sacrae (1693) und Praelectiones hermeneuticae (1717) – 677 Christian Senkel, Johann Georg Hamann. Aesthe­tica. in.nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose (1762) – 691 Chris­tian Senkel, Johann Gottfried Herder. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774/1776) – 703 Dirk Effertz, Georg Friedrich Meier. Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) – 713 Marianne Schröter, Johann Jakob Rambach. Institutiones Hermeneuticae Sacrae (1723) – 729 Marianne Schröter, Johann Salomo Semler. Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik (1760) – 743 Marianne Schröter, Johann Salomo Semler. Neuer Versuch, die gemeinnützige Auslegung und Anwendung des neuen Testaments zu befördern (1786) – 755 Dirk Effertz, Christian Wolff. Deutsche und lateinische Logik (1712 und 1728) – Protestantische Bibelhermeneutiken im 19. Jahrhundert: 767 Eve-Maria Becker/Hans-Peter Großhans, 19. Jahrhundert: Einführung – 771 Dietz Lange, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Über den Begriff der Hermeneutik (1829)— 785 Alf Chris­tophersen, Friedrich Lücke. Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik und ihrer Geschichte (1817) – Ideen zu einem »Prinzip der christlichen Philologie« – 803 Werner Zager, David Friedrich Strauß. Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835) – 819 Mogens Müller, Henrik Nikolai Clausen. Hermeneutik des Neuen Testaments (1840) – 831 Uwe Swarat, Johann Christian Konrad (von) Hofmann. Biblische Hermeneutik (1880) und andere hermeneutische Schriften– 847 Andreas Urs Sommer, Franz Overbeck. Ueber Entstehung und Recht einer rein historischen Betrachtung der Neutestamentlichen Schriften in der Theologie (1871) – Das 20. Jahrhundert aus protestantischer hermeneutischer Perspektive: 863 Eve-Marie Becker/Hans-Peter Großhans, 20. Jahrhundert: Einführung – 867 Donald Wood, Karl Barth. Der Römerbrief (1919 und 1922) – 879 Hans-Christoph Askani, Franz Rosenzweig. Die Schrift und Luther (1926) – 893 Mogens Müller, Frederik Torm. Hermeneutik des Neuen Testaments (1930)– 905 Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Neues Testament und Mythologie (1941) – 921 Pierre Bühler, Gerhard Ebeling. Evangelische Evangelienauslegung (1942) – 933 Arie W. Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present: Trends and Developments – 1009 Liste der Herausgeberinnen und Herausgeber – 1011 Liste der Autorinnen und Autoren.
Das Werk hat für die heute im Spannungsfeld von Philosophie, Psychologie, Literaturwissenschaft und Geschichte notwendige hermeneutische Theoriebildung der Bibelwissenschaft viel Potential. Problematisch erscheint mir – wenn man überhaupt etwas kritisieren möchte – die völlig gleiche Länge aller Artikel, was die völ-lig gleiche Bedeutung aller Autoren und Werke suggeriert, was schwerlich der Fall ist. Augustin – Martin Luther – Rudolf Bultmann bilden eine andere Liga als Diodoros von Tarsos – Hans Hut– Frederik Torms, was wiederum dazu führt, dass andere wichtige Werke nicht berücksichtigt wurden (etwa die Mystik einer Hildegard von Bingen, Kierkegaard, Dilthey, Drewermann oder Childs oder zeitgenössische Zugänge, vgl. z. B. S. Luther/R. Zimmermann [Hrsg.], Studienbuch Hermeneutik, Gütersloh 2014 [mit CD der Quellentexte], oder M. Oeming, Biblische Hermeneutik, Darmstadt 42013, wo 17 aktuelle Zugänge skizziert sind). Die systematische Durchdringung angesichts der überwältigenden Modell-Flut kommt mir etwas zu kurz, trotz der zum Teil hervorragenden Einleitungen, z. B. der von Thomas Prügl ins Mittelalter (125–133). Die Fülle wirkt als beängstigende Sinnflut. Aber das liegt nicht an Oda Wischmeiers sehr verdienstvoller Sammlung, sondern eben an der Fülle der Zugänge zur Bibel. Im Grunde aber macht die Fülle der Gedanken und Perspektiven zur angemessenen Deutung der Bibel stolz. Die Bibel hat eine beglückende Erfolgsgeschichte, deren un­terschiedliche Stationen in diesem Werk in herausragender Weise dokumentiert werden.