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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

37–39

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dušek, Jan, and Jan Roskovec [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Process of Authority. The Dynamics in Transmission and Reception of Canonical Texts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 364 S. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 27. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-037694-4.

Rezensent:

Predrag Dragutinovi

Wer die Prozesse erforschen will, die zur Autorisierung der Schriften der Bibel führten, der muss sich in eine Kette von Rezeptions- und Interpretationsprozessen hineinbegeben. Gerade dies tun die 19 Beiträge des hier zu besprechenden Sammelbandes. Ausgehend von der grundsätzlichen hermeneutischen Frage nach dem Verhältnis von Stabilisierung und Veränderlichkeit im Prozess der Autoritätswerdung der biblischen Texte versuchen die Autoren an­hand ausgewählter Texte die Komplexität dieses Prozesses an­schaulich zu machen. Zugleich sind die Punkte hervorgehoben, die klar machen, dass Stabilität und Gültigkeit der Autorität nur aufrecht erhalten werden können, indem man sie immer wieder der Interpretation, Modifikation, Neuformulierung, Innovation und Adaptation unterzieht. Das ist etwas der Geschichtlichkeit der Texte und Interpreten Inhärentes.
Diese dynamische Seite der Autoritätswerdung der Bibel, die auf die Interpretationsvorgänge und ihre Notwendigkeit in jedem Akt des Verstehens aufmerksam macht, wird in drei Themenblöcken dargestellt. Zuerst werden vier Beiträge (J. Dušek/J. Mynárová, M. Prudk, D. Hamidovi´c, P. Kitzler) unter dem Titel »Entstehung der Autorität« dem Problem der Entstehungssituationen der autoritativ werdenden Texte in Bezug auf ihre Variabilität gewidmet. Re­präsentativ ist hier z. B. der Fall der Doppelüberlieferung des Sabbatgebotes (M. Prudký, 41–60), der zeigt, dass »the authority of the ›Sabbath Commandment‹ is derived from its function, not from its unchanging form or unvarying formulation« (59). Die Funktionalität eines Textes innerhalb der lesenden und verstehenden Gemeinde wird ein wesentliches Kriterium auf seinem Weg zur Autorität. Im zweiten Teil unter dem Titel »Aufrechterhaltung der Autorität« werden in sechs Beiträgen ( H. Debel, P. Chalupa, J. A. Dus, R. Fialová, Z. Vítková, W. B. Orter) an einigen Beispielen die Wege der Autoritätswerdung der biblischen Schriften erörtert. Hier spielen viele Dinge eine Rolle: vom Respekt gegenüber autoritativen Figuren, wie bei Daniel, wo »once independent tales were applied to Daniel, and revelatory visions atributed to him« (Debel, 127–138, 131), bis zur Form (genre) eines Textes, wie im Falle des apokryphen Jakobusbriefes [NHC I/2] (W. B. Oerter, 197–207). Im letzten Fall kann festgestellt werden, dass »the imitative character of the letter« bewusst auf die Herstellung der Autorität zielt (204).
Im letzten und ausführlichsten Teil »Übermittlung der Autorität« werden die zwei wichtigsten Prozesse der Überlieferung der Texte beispielhaft untersucht: die Transmission der Texte durch Abschreiben (handschriftliche Tradition) und durch Übersetzung. Vier Beiträge beschäftigen sich zuerst mit der handschriftlichen Überlieferung von Texten (J. Roskovec, D. Opatrný, L. Tichý, J. Plátová). Hier wird gezeigt, dass Textvarianten durchaus interpretative Funktion haben können: Was wir heute Abschreiben nennen, »was in fact rewriting – that is never just and simply a mechanical activity« (Roskovec, 226). Das Abschreiben natürlich »involved faithful reproducing of the Vorlage, but was not limited to it« (226). Ein interessanter Fall zeigt sich in der Verwendung von Mk 10,29–30 bei Clemens von Alexandria in seiner Schrift Quis dives salvetur (Plátová, 253–269), einem guten Beispiel für die Relevanz patristischer Zeugnisse für die Textkritik. Der Markustext bei Clemens unterscheidet sich erheblich von der sonstigen handschriftlichen Tradition. Im Unterschied zu früheren Untersuchungen, die im Falle von Clemens eher eine allgemeine Neigung der patristischen Autoren erkennen, den Text der Bibel ad hoc zum Zweck der Argumentation zugunsten einer bereits entwickelten theologischen Idee zu adaptieren, sieht die Autorin im von Clemens zitierten Text ein frühes Zeugnis einer sonst marginalen und verlorenen Variante von Mk 10,29–30 (266). Dies wäre ein Beispiel für respektvollen Umgang mit der Schrift bei einem frühen altkirchlichen Autor, das zeigt, dass der Text nicht einfach nach Lust und Laune für die theologische Argumentation adaptiert wurde.
Die Übersetzungen wiederum zeigen von ganz früher Zeit an, dass »authority is closely related to comprehensibility and rele-vance« (5). Fünf Beiträge gehen dieser Thematik nach (G. I. Vlková, J. Brož, H.-G. Bethge, V. Hušek, J. Barton). Übersetzen heißt immer interpretieren. Übersetzung bewahrt die Autorität des übersetzten Textes, indem sie den Text in einer anderen Sprache kommunikationsfähig und relevant für die Lesenden macht. Das ist sehr gut anschaulich am Beispiel von Jes 52, besonders V. 12 (Vlková, 273–287) und an der syrischen Übersetzung von Joh 4,4–42 (Brož, 289–299). Dass man mit dem Problem der Varianten in biblischen Schriften in der patristischen Zeit unterschiedlich umgehen konnte, lässt sich schön an Beispielen bei Ambrosius, Hieronymus und Ambrosiaster beobachten (Hu šek, 219–234). Während Ambrosius und Ambrosiaster eher harmonisieren und die Varianten bevorzugen, die mit der traditionellen Glaubenslehre übereinstimmen, be­müht sich Hieronymus um eine philologische Analyse. Die kommunikative Situation, in der der Text verwendet wird, bestimmt wesentlich den Umgang mit Lesarten. Hier wird die Autorität des Textes als Frucht einer Entscheidung der Interpreten in einer konkreten Kommunikationssituation (Predigt, Polemik) vor Augen geführt. Der fünfte Beitrag dieses Teiles beschäftigt sich mit den tschechischen Übersetzungen der Bibel, bzw. mit der Geschichte der tschechischen Übersetzungen ( translation tradition). Der Autor zeigt, wie die Treue zu den älteren Übersetzungen aus der Vergangenheit dazu geführt hat, dass immer wieder dieselben Fehlübersetzungen tradiert werden (Barton, 338–347). Das ist der einzige Beitrag, der mehr mit der Treue, Stabilisierung und Konservierung im Prozess der Autoritätswerdung der Bibel arbeitet, um zu zeigen, dass es ohne eine kreative und kritische Haltung gegenüber den autoritativen Texten keine adäquate Weitergabe ihrer Autorität in der Geschichte geben kann.
Das ist zugleich ein wichtiger Ertrag dieses Sammelbandes. Obwohl nicht alle Beiträge auf der gleichen wissenschaftlichen Ebene stehen, kann das Projekt dieses Bandes als gelungen gelten. Wieder einmal werden die Rezeptions- und Interpretationsprozesse der Bibel ins Visier genommen. Sie werden als hermeneutisch und epistemologisch unentbehrlich betrachtet: Hinter der Auto-ritätswerdung der biblischen Texte stand und steht immer ein menschliches, situationsbezogenes und kontextuelles Bemühen, sie vermittelbar, verständlich und zugänglich für konkrete Zeiten und Kulturen zu machen.