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Ausgabe:

Januar/2018

Spalte:

33–37

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bossu, Nicolas

Titel/Untertitel:

Une prophétie au fil de la tradition. L’oracle des ossements desséchés (Ez 37,1–14) et ses relectures chrétiennes, entre herméneutique et théologie.

Verlag:

Pendé: J. Gabalda et Cie. 2015. II, 445 S. = Études Bibliques. Nouvelle Série, 69. Kart. EUR 80,00. ISBN 978-2-85021-243-7.

Rezensent:

Karin Schöpflin

In der Einleitung (13–25) zu seiner Dissertation in Biblischer Theologie, angenommen 2014 von der Päpstlichen Universität St. Thomas v. Aquin in Rom und für den Druck überarbeitet, konstatiert Nicolas Bossu, dass zu Ezechiels Prophezeiung über die verdorrten Gebeine zwei in Spannung zueinander stehende Auslegungsansätze existieren: die historisch-kritische Lesart und das eschatolo-gische Verständnis der patristischen Tradition sowie der gläubigen Christen bzw. der Kirche. Es gelte, am Offenbarungscharakter von Ez 37,1–14 festzuhalten und die Bedeutung der (kirchlichen) Tra-dition bei der Wahrnehmung der Perikope wiederzuentdecken. Daher stehen die Auslegungen in Mt 27, Offb 11 und in Origenes’ Johannes-Kommentar im Mittelpunkt, und das gegenwärtige kirchliche Verständnis soll auch beleuchtet werden. B. erläutert den dreiteiligen Aufbau der Untersuchung und liefert Hinweise auf einige neuere Arbeiten zu den einzelnen Gebieten, die in der Studie eine Rolle spielen werden.
Teil I (27–135) befasst sich mit Ez 37,1–14 als dem grundlegenden Text der späteren Neu-Interpretationen sowie dem in Qumran aufgefundenen fragmentarischen sogenannten »Pseudo-Ezechiel«, der wegen seiner eschatologischen Ausrichtung interessant sei. B. informiert über die einschlägigen Qumran-Fragmente; er etabliert die griechische Handschrift P967 wegen der von MT abweichenden Kapitelreihenfolge im Bereich Ez 36–39 als Beleg dafür, dass die Stellung von Ez 37,1–14 innerhalb des Buches zunächst noch nicht völlig fixiert gewesen sei, so dass die hebräische und die griechische Tradition zu berücksichtigen seien. Mit der diachronen Untersuchung der Perikope (33–62) strebt B. keine Rekonstruktion eines Urtextes an. In den ältesten Handschriften zeige sich eine klare graphische Abgrenzung von Ez 37,1–14 vom Vorhergehenden und Nachfolgenden, eine graphische Trennung zwischen 37,10 und 37,11 gebe es nur in jüngeren Handschriften. Von daher postuliert B. die Einheitlichkeit des Abschnittes insofern, als er in dieser Gestalt den Rezipienten, beginnend mit Ps.-Ez, vorgelegen habe. Hebräische (MT) und griechische (LXX) Fassung werden verglichen (im Anhang bietet B. eine Synopse, die Abweichungen in den originalsprachlichen Texten hervorhebt, und jeweils eigene französische Übersetzungen).
Es zeigen sich einige als unerheblich eingestufte Unterschiede und solche mit theologischem Gewicht: die Frage nach dem Verständnis von חור (»Wind, Atem, Geist«) mit insgesamt zehn Vorkommen, der im Griechischen deutlichere Bezug auf Gen 2 sowie die Bedeutungsnuancen von ליח (»Heer«, »Versammlung«) in 37,10. B. nimmt nun einen älteren hebräischen Urtext an, den P967 widerspiegele, der kürzer gewesen und vor 50 v. Chr., ausgelöst durch eine Krise, erweitert worden sei. Er schließt sich damit der Ansicht an, dass die Veränderungen der Überlieferung nicht der Komposition geschuldet seien.
Die synchrone Betrachtung (63–101) beabsichtigt eine theologische Ergründung. Mit Hilfe des Formelgutes wird die Struktur erhoben, der Abschnitt wird der Gattung »prophetisches Heilsorakel« zugeordnet. Aufgrund des Vokabulars ergibt sich inhaltlich der Gegensatz von Tod und Leben als bestimmend mit Gott und dem Propheten als aktiv Handelnden. Das Bild der verdorrten Gebeine entstamme der allgemein-menschlichen Erfahrung der Antike, nämlich dem Trauma eines mit Leichen übersäten Schlachtfeldes. Für ein innerbiblisches Verständnis des Bildes nennt B. Beispiele aus der Weisheitsliteratur (Prov 17,22; Hi 33,19–22) sowie ausgehend von dem Fluch in Dtn 28,25–26, keine Bestattung zu erhalten, einige Stellen bei Jeremia nebst Thr 5 und 1Makk 7,17. In seiner literarischen Untersuchung hebt B. die komplexe Anlage der Schau in 37,1–10 hervor, sie werde durch die Prophezeiung in 37,11–14 zur Allegorie. Da die Bilder keine Logik beanspruchten, stehe das Öffnen der Gräber in 37,11–14 nicht im Widerspruch zu 37,1–10. Die theologische Botschaft sei eine Verheißung der Wiederherstellung des Volkes, illustriert durch die surreale
Vision des Übergangs vom Tod zum Leben unter dem Einfluss des Geistes. Was dieser schenke, sei in den zwei Textfassungen auch aufgrund der abweichenden Kapitelreihenfolge unterschiedlich: in der Kurzfassung (P967) führe der Geist das Volk nach der Niederlage der Feinde zu einem Leben in Fülle, das sich für den Kult am neuen Heiligtum öffne; in der hebräischen Langfassung (MT) werde die Bundestreue des Volkes in einer erneuerten politisch-sozialen Situation wiederhergestellt vor der Entscheidungsschlacht gegen die Feinde und dem Sieg Gottes. Durch Bezüge zu Gen 1–2 und Hi 10 erhalte die Fassung den Anstrich einer »Neuschöpfung« durch den Geist. Beide Fassungen hätten keine eschatologische Dimension.
Diese findet B in Ps.-Ez (103–131). Dort erfolge eine Relektüre von Ez 37,1–14 einige Jahrhunderte nach dem Ende des Exils, in einem Kontext, wo sich die Frage nach der Theodizee stelle. Auf der Basis von Dimants Textrekonstruktion benennt B. vier Modifizierungen von Ez 37,1–14: die Reduktion des Volkes auf die Gerechten, deren Belohnung als Gruppe (nicht als Einzelner), das Gotteslob am Schluss, das Fehlen einer Entsprechung zu Ez 37,11. Die Totenerweckung sei nun als eschatologische Intervention Gottes verstanden und weise eine apokalyptische Tendenz auf.
Teil II (137–279) beschäftigt sich mit Texten, die Ez 37 in ihrer jeweiligen gemeindlichen Situation zitieren und neu auslegen. Im ju­denchristlichen Milieu Kleinasiens kurz nach 70 entstehe Mt  27, 51–54 (139–179). B. betrachtet sehr detailliert die in 27,51b–53 genannten Phänomene – Zerreißen des Tempelvorhangs, Erdbeben, Öffnen der Gräber, Auferstehung der Heiligen –, die matthäisches Sondergut bilden. Dazu zieht er intertextuelle Bezüge innerhalb des Matthäus-Evangeliums und zum Alten Testament heran. Literarisch erkennt er das prophetische Motiv vom Tag JHWHs; die Zeichen, die dem Bekenntnis des römischen Hauptmanns (Mt 27,54) vorausgehen, signalisierten den Anbruch der Endzeit, den Übergang in eine neue Phase der Heilsgeschichte, die mit Jesu Tod beginne. B. interpretiert nicht nur das Öffnen der Gräber und die Auferstehung von Heiligen vor dem Hintergrund von Ez 37, sondern auch das Zerreißen des Tempelvorhangs wird mit Ez in Verbindung gebracht: Mt drücke damit die Gottverlassenheit aus entsprechend zu Ez 11,23, wo Gott den Tempel verlässt (166) – eine ebenso überraschende wie gewagte These. Insgesamt stelle Mt 27 Ez 37 in den Dienst des Ostergeheimnisses.
Offb 11,1–13 nehme Ez 37 als »Prophezeiung im Leben der Kirche« (181–224) auf; denn das prophetische Amt sei das zentrale Thema des Buches. Wieder erfolgt zunächst eine Analyse der Perikope, die in ein Erheben der Auslegungsprobleme mündet. B. widmet sich der Identifizierung der in 11,8–9 erwähnten großen Stadt sowie der zwei Zeugen (11,3), bevor er auf das Zitat von Ez 37,10 in Offb 11,11 eingeht. In Analogie zu Ez 37 interveniere Gott auch hier durch das Handeln des Geistes, hier zugunsten der zwei Zeugen, die die Kirche repräsentieren und als Märtyrer zu identifizieren seien. Die theologische Botschaft laute zusammengefasst: »Wie Gott durch die Gabe seines Geistes den Gebeinen in Ez 37 das Leben wiedergab, schenkt er heute den Geist den Märtyrern, die ihr Blut zum Zeugnis für das Lamm vergossen haben. Ihre Stellung zusammen mit Christus endet nicht mit der Passion, sondern schließt eine gewisse Vorwegnahme der Auferstehung ein. Dies prophetische Amt ist das der Kirche, die den Sieg des Lamms unter den Völkern vergegenwärtigt und deren Bekehrung erwirkt.« (221) Anhand von Offb zeige sich die gegenseitige Auslegung von Altem und Neuem Testament, wobei der Sinn von Ez 37 erst im Neuen Testament richtig enthüllt werde.
Unter der Überschrift »Die theologisierte Prophezeiung« wendet sich B. dem 10. Buch von Origenes’ Kommentar über das Johannesevangelium zu (225–273). Einführend geht er auf Origenes’ theologisches Denksystem, insbesondere dessen Ekklesiologie und Eschatologie, und auf den Johannes-Kommentar allgemein ein. Origenes zitiert Ez 37,1–4.11 aus der LXX, um das in Joh 2,19.22 angesprochene Geheimnis der Auferstehung zu erläutern. Er sei nicht am wörtlichen und am historischen Sinn interessiert, sondern lege Ez 37 allegorisch und typologisch aus, wobei er sich an den christuszentrierten Auslegungsprinzipien des Paulus orientiere: Allegorisch gese-hen gehe es in Ez 37 um die finale Auferstehung der Kirche, die im Anschluss an 1Kor 12 als Leib Christi verstanden werde. Die Liebe solle die Glieder miteinander verbinden; fehle sie, so sei der Leib der Kirche wie ein zerfallenes Skelett. Die Einheit werde wiederhergestellt bei der finalen Auferstehung der Kirche. Typologisch werde der physische Leib Christi mit der eschatologischen Versammlung der Er­wählten in Beziehung gesetzt nach dem dreiteiligen Schema Schatten – Bild – Wirklichkeit. Origenes projiziere seinen Glauben an die Kirche und deren Auferstehung auf Ez 37, einen inspirierten Text, der das Mysterium Christi enthülle. Origenes habe sich in seiner Homilie über das Buch Leviticus VII in demselben Tenor mit Ez 37 befasst. Die Kirchenväter der ersten vier nachchristlichen Jahrhunderte hätten Ez 37 einhellig eschatologisch gelesen.
Teil III (281–393) setzt mit einem Blick auf Schleiermachers »Hermeneutik des Lesers« ein und wendet dann Ricœurs für die Lektüre neutestamentlicher Gleichnisse entwickelten Ansatz auf Ez 37 an (285–331). Der erzählende Aspekt in Ez 37,1–10 erlaube den Vergleich z. B. mit Mt 13,3–9. Der inhärente metaphorische Prozess mache eine Interpretation notwendig, die den Text in die Leserwelt einführe. Ez 37,11 leiste dies, indem das Exil als interpretierte Realität der Metapher der Gebeine genannt werde. Spätere, die sich mit dem Gottesvolk identifizierten, führten den metaphorischen Prozess weiter. Schließlich gehöre ein extremer Aspekt, ein Skandalon dazu, welches in Ez 37 durch die Heils- und Hoffnungsperspektive entgegen allem äußeren Anschein zu finden sei. B. hält fest, die christlichen Autoren (wie bereits Ps.-Ez) hätten sich nicht um die intentio auctoris gekümmert, sondern Ez 37 als Orakel von dauerhafter Geltung, nicht als historisch eingebundenen Text gelesen. Alle vier betrachteten Aufnahmen von Ez 37 wollen ihre Lesergemeinschaft beeinflussen, auf Gottes Eingreifen in die Geschichte verweisen und ihre Existenz auf den Gottesglauben stützen. Alle vier ignorierten Ez 37,11–14 und nutzten nur die Metapher der Gebeine. Ricœurs Ansatz stoße an eine Grenze, da er den Offenbarungsaspekt nicht berücksichtige. Denn Mt 27 und Offb 11 seien inspirierte, für den christlichen Glauben grundlegende Texte, die zeigten, dass der christliche Glaube sich durch »Fehlinterpretation« alttestamentlicher Texte gebildet habe. Für die Relektüre von Ez 37 sei das Verhältnis zum Heilsgeschehen entscheidend.
Anschließend (333–361) führt B. einen Dialog mit der noch jungen bibelwissenschaftlichen Disziplin einer Wirkungsgeschichte. Als erstes Beispiel dient das Jonabuch, das die christliche Gemeinde im Lichte Jesu Christi neu gelesen habe (Mt 12,40; Lk 11,30). Eine Studie von Yvonne Sherwood unterzieht B. der Kritik; positiv bewertet er den Kommentar zum Matthäus-Evangelium von Ulrich Luz, da dieser die Interpretationsoffenheit biblischer Texte sowie die christliche Auslegungstradition berücksichtige.
Dann beleuchtet B. den gegenwärtigen kirchlichen (d. i. römisch-katholischen) Gebrauch (363–385): Ez 37 werde hier nicht für die christliche Auferstehungshoffnung reklamiert, sondern in erster Linie historisch gelesen, vermutlich aus Respekt vor der historisch arbeitenden Exegese.
Der letzte Teilabschnitt betont erneut, dass Mt 27 und Offb 11 inspirierte Texte seien; zuvor habe Ps.-Ez die Eschatologisierung von Ezechiels Prophezeiung vorgenommen, danach ziehe Origenes die theologischen Konsequenzen. Die Untersuchung gebe ein Beispiel für den Prozess der Entfaltung christlicher Offenbarung, deren zentrales Ereignis das Christus-Geschehen sei. Für diesen Aspekt greift B. auf Josef Ratzingers Dei verbum zurück.
Gesamtzusammenfassung (395–404), Bibliographie und mehrere Anhänge beschließen den Band: die o. g. Textsynopse mit eigenen Übersetzungen, ein Abdruck von 4Q385 Frg. 2 mit Puechs französischer Übersetzung sowie zitierte Übersetzungen der verhandelten Passagen.
Es ist B.s Verdienst, die Auslegungsgeschichte von Ez 37 an ausgewählten Beispielen zu verfolgen. Hier gibt es einige interessante Entdeckungen, wenngleich bisweilen gewagte Interpretationen von Details überraschen. Den Lesefluss beeinträchtigt neben gelegentlichen Redundanzen das häufige, ausgiebige Zitieren aus Forschungsbeiträgen, deren Positionen meist übernommen werden. Die Studie hebt eine spezifisch christliche Schwierigkeit ins Bewusstsein, die Spannung zwischen Wissenschaft und Glaube, und versucht, ihr zu begegnen. Dabei bleibt zu bedenken, dass B. selbst unter der Prämisse des Glaubens schreibt, was am deutlichs­ten in der vorausgesetzten Inspiriertheit von Mt 27 und Offb 11 und dem Offenbarungscharakter der behandelten Texte hervortritt.