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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1356–1359

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas

Titel/Untertitel:

Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag 2016 (4. Aufl. 2017). 512 S. m. Abb. u. Ktn. Geb. EUR 26,95. ISBN 978-3-406-69607-7.

Rezensent:

Andreas Holzem

Thomas Kaufmann gehört zu denen, die mit teils harten Bandagen für ein anderes Reformationsjubiläum kämpften. Er sieht die 500-Jahr-Feiern als im Inneren entwertet und entleert an, weil in ihnen das eigentliche theologische Anliegen der Reformatoren, Luther allen voran, eigentlich gar keine Rolle gespielt habe. Die in Schlagworte gepresste Gegenwartsbedeutung und Zukunftsfähigkeit des Protestantismus, das warf K. den Organisatoren und Propagan-distinnen der Reformationsdekade beharrlich vor, sei erkauft worden durch Geschichtsvergessenheit und Luther-Populismus (vgl. z. B. Reinhard Bingener, Theologie der Wut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.3.2017). Wo, wenn nicht in diesem Buch, würde man besichtigen können, was K. unter einem dem Reformationsjubiläum zuzumutenden Geschichtsbewusstsein genau versteht? Un­v ersehens ist also ein historisches Buch durchaus auch als ein kirchliches Politikum zu betrachten; wahrscheinlich ist es, zu-mindest auch, als ein solches erarbeitet worden. K. hatte in seiner um­fänglichen und hoch informativen »Geschichte der Reforma-tion«, die 2009 im Verlag der Weltreligionen erschien und jüngst mit einem Nachwort zur Reformationsdekade neu herausgegeben wurde, eine sehr deutsche Sicht auf die Reformation geschrieben. Diesem Buch geht es darum, die Perspektive europäisch zu weiten.
In diesem Sinn ist das Buch ein großer Wurf: Es beschreibt einführend die Ausgangslage der europäischen Christenheit um 1500, schildert dann ausführlich die frühe Reformation im Reich bis 1530 und skizziert in jeweils knappen, handbuchartigen Länder- und Regionenkapiteln die europäischen Reformationen bis um 1600, den Wandel des Katholizismus eingeschlossen. Das alles ohne Verkürzungen, bei denen einem unwohl würde, auf 350 Seiten zu rekonstruieren, macht den Band wertvoll. Besonders hervorzuheben sind die nachfolgenden Kapitel zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte: K. versucht nun explizit, die Reformation als Beitrag zur Entstehung der europäischen Neuzeit zu beschreiben und zu bewerten, und schließt daran eine Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschichte an, die von den frühen Reformationsjubiläen bis zu den aktuellen wissenschaftlichen Herausforderungen führt. Man wird diesen Band Studierenden der Theologie und Geschichtswissenschaft und allen historisch Interessierten sehr gern und mit Überzeugung als modernes Standardwerk zur Einführung in die Geschichte der Reformation empfehlen. Das Buch ist gut geschrieben: informativ verdichtet und gleichzeitig flüssig und verständlich.
Was sind nun die Untertöne, die mit der situativ-politischen Bedeutung des Buches zu tun haben? Erstens stellt K. gleich eingangs und im Verlaufe des Bandes immer wieder die europäische Dimension der Wirkung Luthers heraus. Nicht nur die Reforma-tion als solche, so die These, sondern ihre Galionsfigur Luther ist ein europäisches Ereignis. Jeder Versuch, Luther zu provinzialisieren und das Luthertum als ein zunächst wesentlich mittel- und norddeutsches und dann skandinavisches Ereignis zu umgrenzen u nd die weltweite Expansionsgeschichte eher dem Reformiertentum zuzugestehen, wird als »unzutreffend, ja irreführend« (11) zurückgewiesen. Da wird der erste Hieb gegen das zentrale EKD-Papier »Rechtfertigung und Freiheit« (2014) gesetzt. Diese betonte Herausstellung Luthers soll dessen ältere Monumentalisierungen ge­rade nicht wiederholen, sondern soll Luther bewusst »historisieren« (17). Diese Historisierung aber hat bei K. einen spezifischen Akzent: nämlich »Luthers Auseinandersetzung mit der Papstkirche« (17). Gegen das Monumentale wird gerade das Bedrohte der Reformation hervorgehoben: »Luther schrieb um sein Leben« (17). Klare Tendenzen also: Luther hat Priorität gegenüber allen anderen Reformatoren, und zwar wegen einer theologischen Publizistik, die gegen das übermächtige Papsttum kämpfte. Luther ist Träger einer »analogielosen Autorität« als Lebender wie Toter. Luther ist » die Schlüsselfigur der Reformation« (87); auch der Diskussion um die Veröffentlichung der Ablassthesen wird wenn nicht viel Raum, dann doch ein gewisses Gewicht gegeben (112). Symbolisches ist nur schmerzlich zu historisieren.
Ein Zweites: Eine Forschungsrichtung, die die Reformation aus spätmittelalterlichen Reformimpulsen herleitet, wird ebenfalls in neuer Deutlichkeit verurteilt: »Keine der europäischen Reformationen ist mithin primär aus einer spätmittelalterlichen Reformdynamik heraus zu erklären […].« (18) Bei diesem Hieb gegen die von Berndt Hamm und Volker Leppin geprägte Reformationsdeutung verstärkt sich die Tendenz, Reformation vor allem als Kampf gegen das Papsttum zu verstehen, weniger als Entwicklung einer neuen Theologie und Frömmigkeit. Denn hier, bei der Analyse von Theologie und Frömmigkeit, liegt das ökumenische Potential historischer Forschung: hinter den Kämpfen um die Institutionalisierungen und Ausdrucksformen jene tiefe gemeinsame Verunsicherung zu erkennen, die sich um »Erlösung und Verdammnis« dreht. Wer also wie der Rezensent, im Konsens mit K., konsequent historisieren will, wird gleichzeitig bedauern, dass eine eindringliche Ana-lyse reformatorischer Theologie, die weniger die polemischen als vielmehr die geistlich-tröstenden Aspekte und deren kritische wie konstruktive Bezüge zum Spätmittelalter betont, leider fehlt, ebenso wie eine Beschreibung früher reformatorischer Frömmigkeitspraxis. Diese Art des Fragens nach »Heilsmedialität« hat für K. kein vorrangiges Interesse; dass »die Reformation plausible Hilfen für die Sorge der Menschen am Ende der Zeiten anzubieten hatte« (353), wird gesagt, aber nicht erklärt. Es gibt keinerlei Grund, eine solche Herangehensweise von wissenschaftlichen Kriterien her zu kritisieren; im Raum der gegenwärtigen Debatten gilt es lediglich, das Positionelle daran zu markieren (vgl. auch 83).
Ein Drittes: Gleichzeitig bekommen wir kein Plakat, sondern eine kluge »Kritik« im Sinne des Kritik-Begriffs der Aufklärung: Kritik ist nicht Negativität, sondern detaillierte Unterscheidung. Punktuell fehlt es keineswegs an angemessener und teilweise sogar wertschätzender Beschreibung dessen, was aus der (spät-)mittelalterlichen Kirche an geistlichen und auch strukturellen Ressourcen zur Verfügung stand. Luther als Person wird in allen seinen Am-bivalenzen nicht (kaum) in Schutz genommen. In Europa wird Luther zunächst als geistlicher Schriftsteller im Sinne der devotio moderna und des Humanismus rezipiert. Die reformatorischen Spaltungen schaffen ein schweres Glaubwürdigkeitsproblem ad intra wie ad extra. Und es gibt ein klares Bewusstsein dafür, dass keineswegs allein die reformatorische Botschaft, sondern auch die politischen Strukturen und die medialen Öffentlichkeiten den relativen Erfolg der Reformation – zunächst ihr Überleben, dann ihre teils tonangebende Rolle in den modernen Öffentlichkeiten – garantierten (138.193). Gegenüber der Emanzipationsphase wurde die Verstaatlichung der Reformation restaurativ; »bald dominierte die Ordnung« (355). Gleichwohl wird für die Internationalisierung der Reformation das Konzept der Stadtreformation in An­spruch ge­nommen (225), damit nicht Stadt- und Fürstenreformation ge­geneinander ausgespielt, sondern in ihrem unlösbaren Zusam­menhang von Interessengleichheiten und -unterschieden wahrgenommen werden.
Ein Viertes: K. markiert die spätmittelalterliche Kirche und den nachreformatorischen Katholizismus durchgängig als »Papstkirche« oder als »kirchliches Ancien régime« (143). Für Luther ist jede Art von Polemik legitim, die Polemik eines Johannes Cochläus ist aber »sinister« und »von tiefer Feindschaft angetrieben« (349). Hier dominiert das Bestreben, einen Gegner zu vereindeutigen und mit Begriffen, die der Geschichte der Französischen Revolution ent stammen, implizit zu qualifizieren. Auf der Strecke bleiben alle altgläubigen Bemühungen, die Kircheneinheit papstkritisch und vermittlungstheologisch zu wahren. Es finden sich im Abschnitt »Konfessionskulturen und die Rolle der Laien« Sätze wie dieser: »Die [reformatorische] Partizipation machte aus Menschen, die vorher bloße Objekte sakramentaler Pastorisation gewesen waren, religiöse Subjekte.« (357) K. muss wissen, dass das Unsinn ist, und zwar sowohl im Hinblick auf die Laienaktivitäten in der spätmittelalterlichen Kirche als auch im Hinblick auf den nachtridentinischen Konfessionskatholizismus.
Ein Fünftes: Nimmt man das alles zusammen, dann bekommt man eine Reformationsgeschichte, die das »Grundstürzende« be­tont. Das »Grundstürzende« aber ist keine simple Erfolgsgeschichte der »definitive[n] Trennung von der Papstkirche«, sondern auch eine Geschichte der innerreformatorischen Spaltungen (86.171). Bei der Frage, welche »Impulse für die westliche Moderne« die Reformation gegeben habe, wird es dann sehr eindeutig: »Das heutige religionskulturelle Bild des lateinischen Europa, dessen Säkularität sich im globalen Vergleich als Sonderfall darstellt, ist auch das Er­gebnis der durch die Reformation in Gang gesetzten Langzeitentwicklungen auf diesem Kontinent.« (359) Ich kenne keinen historisch informierten Menschen, der dem vernünftigerweise widersprechen würde. Die Art, wie dieser Beitrag der Reformation zur Moderne dann rekonstruiert wird, hängt aber doch sehr an den Resten dessen, was von der Modernisierungstheorie noch übriggeblieben ist. Sehr separat wird, ohne Anwendungsbezug, das Paradigma der »Konfessionalisierung« forschungsgeschichtlich neutralisiert (421).
Ein Sechstes: Das Buch hat, hinter allem soliden und gut ge­schriebenen Informationswert, etwas Flirrendes: Es dekonstruiert permanent und hellsichtig alle Verwertungen Luthers und der Reformation für ideologische Zwecke, seien es die der Aufklärung, des deutschen Nationalismus, der liberalen Fortschrittsgewissheit, der Verkirchlichung oder des ein Jahrzehnt lang organisierten Reformations-Jubiläums. Aber es konstruiert gleichzeitig einen »Zauber des Anfangs«: Mit dem Tod Luthers wird die Idee der Analogielosigkeit Luthers wiederholt: »Nur aufgrund der heroisierenden Wertschätzung, die dem jungen, bahnbrechenden Exegeten und revolutionären Kirchenreformator der frühen 1520er Jahre zuteil geworden war, versagte man sich gegenüber dem verbitterten alten Haudegen Einsprüche.« (288) Luther ist ein »Heiliger«; die durch seinen Tod gerissene Lücke kann »durch nichts und niemand ausgefüllt werden« (288). Und schließlich: »Die verschiedenen theologischen Richtungen des Protestantismus entdeckten seit dem 18. Jh. in der frühen Reformation jeweils das, was dem Bedürfnis ihrer eigenen Zeit in je besonderer Weise entsprach. Nur die Neokonfessionellen, die Reaktionäre, die Ewiggestrigen zeigten ein größeres Interesse an der späteren Reformationsgeschichte und am alten Luther.« (425)
Ich wäre also geneigt, die Grundbotschaft dieses Buches vor allem so zu interpretieren: Die Reformation ist in ihrer Frühphase ein Grundereignis der Unterscheidung – Kampf gegen die Papstkirche. Die späte Phase als Prozess der institutionellen Verstaatlichung und theologisch verketzernden Vereindeutigung ist davon deutlich abzugrenzen. Diese frühreformatorische Unterscheidung summiert K.s Epilog als »Zauber des Anfangs«. Letztlich will er seinen kämpferisch-ambivalenten Heroen Luther – den jungen Luther – in zwei Richtungen verteidigen: einerseits gegen einen Ökumenismus, der das Unterscheidende bewahrt, aber als nicht mehr kirchentrennend beschreibt, andererseits gegen eine innerprotestantische Verwässerung, die den Grundimpuls der Reformation konfessionell in Anspruch nimmt, aber gleichzeitig als an jeweilig zeitgenössische Werthorizonte beliebig adaptierbar er­klärt.
Wenn alles das strittig ist: Wer eigentlich sind – titelgebend – die Erlösten und die Verdammten?