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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1416–1418

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Tolstaya, Katya [Ed.]

Titel/Untertitel:

Orthodox Paradoxes. Heterogeneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy.

Verlag:

Leiden u. a. Brill 2014. 406 S. = Brill’s Series in Church History and Religious Culture, 66. Geb. EUR 152,00. ISBN 978-90-04-26932-3.

Rezensent:

Barbara Hallensleben

Paradoxes, Heterogeneities, Complexities – all das sind Prädikate unserer kontingenten Welt, die uns im persönlichen Leben wie in geschichtlichen Entwicklungen ständig begleiten. Die Aufmerksamkeit wächst allerdings, wenn wir es zu tun haben mit der orthodoxen Kirche, die sich als »the most ›unchangeable‹ and normative Christian confession« darstellt (2). Wo paradoxe, heterogene und komplexe Gestalten hinter dem Anspruch auf eine ungebrochene »Tradition« auftauchen, entsteht der wissenschaftliche Ruf: »stop and think« (1). So lautet die Zielsetzung des »Institute for the Academic Study of Eastern Christianity« (INaSEC) an der Universität Amsterdam. Hier wurde 2011 eine interdisziplinäre Tagung zum Titel des hier vorgelegten Sammelbandes durchgeführt. Die 19 Beiträge, vorrangig auf die Russische Orthodoxe Kirche bezogen, s tammen von Forschern und Forscherinnen aus Russland, den Niederlanden, Albanien, Belgien, Estland, Rumänien, United Kingdom, USA und verbinden historische, kulturgeschichtliche, theologische, philosophische, slavistische, religionswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und politologische Methoden und Perspektiven.
Bibliographien am Ende jedes Artikels, ein Namensverzeichnis, eine Zahl von Abbildungen und russische Abstracts zu allen Artikeln stärken den Charakter des Sammelbandes als wissenschaftliches Arbeitsinstrument.
Katya Tolstaya, Assoziierte Professorin an der Theologischen Fakultät der Freien Universität Amsterdam und Direktorin des INaSEC, nennt in ihrer Einführung als zentrales Problem die Suche nach einem neuen methodologischen Zugang zum Phänomen der »Tradition« und stellt unter diesem Gesichtspunkt die Kernthesen der folgenden Beiträge vor. Sie tut dies unter Bezug auf die Kurzgeschichte »Aleph« des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges sowie mit einer Erläuterung der »Russell’schen Antinomie«. Beide Bezüge sind zu abstrakt und zu komplex, um für die zum Teil sehr konkreten analysierten Phänomene eine erschließende Kraft zu haben. Sie sind jedoch hilfreich, insofern sie aus dem mathema tischen und dem literarisch-philosophischen Bereich Analogien zum grundlegenden theologischen Paradox der Zusammengehörigkeit von Endlichem und Unendlichem darstellen.
Die Beiträge sind gruppiert in sechs Sektionen: I: Communicational Aspects; II: Contemporary Heterogeneities; III: Aspects of Social Work; IV: Theological Aspects; V: Tradition: Transformation or Invention?; VI: ROC and Ecumenical Dialogue. Grundsätzliche Überlegungen verbinden sich mit einer Reihe von exemplarischen Fallstudien, die ein Paradox nach dem anderen zutage fördern:
– Die Analyse eines Buches von 1999 mit polemischen Artikeln gegen die Einführung der russischen Sprache in der Liturgie nennt als ein Argument für die Beibehaltung des Kirchenslavischen die Abwehr des Nationalismus im multiethnischen Russland – zu­gleich wird bei der Berufung auf Kyrill und Method deren Grundsatz verkannt, von der Gleichwertigkeit der Völker und der Sprachen auszugehen.
– Fundamentalistische Kreise, die sich selbst als solche bezeichnen, verwerfen moderne Ideen, bedienen sich aber ganz bewusst modernster Kommunikationsmittel. Oft interessieren sie sich gar nicht für die Tradition und bemühen sich nicht um deren Erschließung, sondern nennen eklektisch »traditionell«, was sie selbst bevorzugen. Sie sind im heutigen Russland gerade nicht sektenhaft zurückgezogen, sondern wollen aktiv den Lebensstil der Gesellschaft verändern. So können sie eine interreligiöse Allianz mit Muslimen gegen den säkularisierten Westen befürworten.
– Neue Formen geistlicher Begleitung durch »Starzen« verkörpern einerseits das pneumatische und asketische Ideal der Tradition, doch zugleich tragen sie als »pastorales Modell« zur pluralisierenden Schaffung von Parallelstrukturen zur offiziellen Gemeindeordnung bei. Trotz der Kritik aus Kreisen der Hierarchie wirkten charismatische Gestalten entscheidend am Wiederaufbau nach der politischen Wende mit – während sich heute das Gewicht wiederum zugunsten institutioneller Strukturen und vertikaler Kontrollmechanismen verlagert.
– Die wachsende Aktivität der Russischen Orthodoxen Kirche und anderer orthodoxer Kirchen im Bereich der Soziallehre ist nicht unbedingt als Öffnung für den säkularen Raum zu deuten, sondern kann einhergehen mit dem Versuch, der Säkularisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken.
– In der Inthronisation von Patriarch Kyrill trafen byzantinische Prachtentfaltung und hochmoderne Medienarbeit zusammen. Die politische Gewalt war einerseits in Gestalt von Präsident Putin und Premierminister Medwedew präsent, wirkte durch die schlichten dunklen Anzüge und durch die Kameraführung, die von den Politikern zu den mitfeiernden Laien schwenkte, jedoch eher depotenziert. Die Stärkung traditioneller kirchlicher Macht ging durch die Fernsehübertragung der Inthronisation aus dem Altarraum einher mit der zeitweiligen Aufhebung der liturgischen Dualität von Kirchenraum und Altarraum.
Die allzu simple These, nach der Tradition immer Erfindung von Tradition ist (Eric Hobsbawm), wird durch phänomenologische Forschungen widerlegt: Es gibt z. B. gerade in dem neu erwachten Pilgerwesen eine echte Kontinuität über Brüche und Unterbrüche hinweg, erfahrbar als eine »Kette der Erinnerung«. Bedenkenswert, unabhängig von der Stichhaltigkeit jeder einzelnen Analyse, ist die Beobachtung einer markanten Verlagerung kirchlicher Kommunikation, anschaulich gemacht anhand von Patriarch Kyrill: Er ver tritt einen »Zivilisationsnationalismus«, der sich nicht über den Nationalstaat, sondern über das inklusivistische Modell einer durch Religion geprägten Zivilisation versteht und Bürger integriert, die weder ethnisch »Russen« noch kirchlich »orthodox« sind. Inmitten einer sich »traditionell« verstehenden Verkündigung geht der Patriarch das Wagnis ein, neue gesellschaftliche Gruppen zu motivieren: »Patriarch Kirill may have found the most effective way to change the inevitably conservative Church mainstream – not in ›re-educating‹ his existing flock, but by intentionally blurring the boundaries of his mainstream with appeals to friendly but different segments of the society« (82).
Ohne Zweifel: Die Kirche verändert nicht nur ihre Umgebung, sondern auch sich selbst. Die aufgewiesenen Paradoxe würden so­gar in ihrer Aufhebung neue Paradoxe und Inkonsistenzen er­zeugen. Soll man mit Hegel von der »List der Vernunft« sprechen, die einen Zweck verwirklicht, der sich menschlichen Intentionen entzieht? Oder doch von Gottes Vorsehung sprechen, die auf den krummen Wegen des Menschen zu schreiben vermag? Muss am Ende nicht an der Interpretationsbedürftigkeit aller Wirklichkeit festgehalten werden, die selbst in der kritischen Analyse der Paradoxe jedes abschließende Urteil suspendiert?
Die Lektüre des Buches weckt Verständnis für Auftraggeber von Rezensionen, wenn sie auf rasche Einreichung drängen: Drei Jahre nach Erscheinen des Buches und sechs Jahre nach der Tagung sieht vieles schon wieder anders aus. Das schmälert nicht den Wert der Beiträge – im Gegenteil: Der Einblick in eine komplexe Welt, die sich, kaum dokumentiert, schon wieder zu wandeln beginnt, ist lehrreich und anregend, damit die »Kette der Erinnerung« (chain of memory; 296) nicht reißt.