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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1414–1416

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Sanders, Wilm

Titel/Untertitel:

Rom und die Ostkirchen. 35 Schritte auf dem Weg ökumenischer Annäherung.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2017. 120 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-7867-4009-4.

Rezensent:

Martin Illert

Wilm Sanders, langjähriger Ökumenereferent des Erzbistums Ham-burg und Leiter des »Philoxenia«-Freundeskreises orthodoxer, ka­tholischer und evangelischer Christen, vertritt die Ansicht, die mittelalterliche Spaltung zwischen Ost- und Westkirche sei vor allem durch Entscheidungen und Handlungen der Westkirche entstanden. Auch in den Jahrhunderten nach der Kirchenspaltung habe primär der Westen die Entfremdung zwischen den Kirchen verstärkt. Die römisch-katholische Kirche sei deshalb gegenüber ihrer östlichen Schwesterkirche zum Umdenken verpflichtet. S.’35 »Bausteine für eine neue Gemeinschaft der Solidarität und der Liebe« zeigen nicht allein, welche Schritte der Wiederannäherung zwischen Katholizismus und Orthodoxie bereits gegangen worden sind. Sie wollen darüber hinaus verdeutlichen, in welchem Geist eine Wiederannäherung von orthodoxer Ostkirche und römisch-katholischer Westkirche erfolgen kann.
S.´ ökumenische Zielvorstellung ist zwar die Wiederherstellung der vollen Kirchengemeinschaft zwischen Orthodoxen und Katholiken. Diese sei jedoch, so hebt der Autor mehrfach hervor, nicht primär juristisch zu verstehen, sondern als Gemeinschaft der Liebe und des geistlichen Lebens. In diesem Sinne habe schon der Kirchenvater Ignatius von Antiochia den römischen »Primat der Liebe« im Präskript seines Römerbriefes verstanden. Mit dieser Schwerpunktsetzung, die neben den durchaus auch erwähnten dogmatischen und kirchenrechtlichen Annäherungen vor allem Fragen der Frömmigkeit, des geistlichen Lebens in den Mittelpunkt und des »healing of memories« stellt, schlägt S. die Brücke zur Arbeit des vor einem halben Jahrhundert nach dem Vorbild des englischen »Fellowship of St. Alban and St. Sergius« gegründeten ökumenischen Freundeskreises »Philoxenia«. Auch das ökumenische Engagement von Papst Franziskus begreift S. in diesem Sinne.
Als Schlüssel-Szene der interkonfessionellen Versöhnung zwischen Ost und West versteht S. die Begegnung von Papst Paul mit Patriarch Athenagoras von Konstantinopel im Jahr 1964 und die damals vollzogene Aufhebung der 1054 ausgesprochenen, gegenseitigen Exkommunikationen. Weitere sinnfällige Gesten der Versöhnung sind für den Autor u. a. die Restitutionen von Reliquien, die von den Kreuzfahrern des vierten Kreuzzuges 1204 in Konstantinopel entwendet wurden, die liturgische Pflege der konstanti-nopolitanischen Andreastradition in den römisch-katholischen Frömmigkeitskontexten oder die ikonographische Vergegenwärtigung der Versöhnung durch die zur Begegnung von 1964 eigens angefertigte Andreas/Petrus-Ikone. Ökumene besteht im Verständnis des Autors deshalb vor allem in der innerkirchlichen Re­zeption der von den Repräsentanten der Kirchen vollzogenen symbolischen Annäherungen und Heilungen der Erinnerung. Ihren wichtigsten Ausdruck soll die so verstandene Ökumene im interkonfessionell verbindenden geistlichen Leben finden.
Die Stärke von S.´ Ansatz besteht in der wertschätzenden und im besten Sinne des Wortes versöhnlichen Art des Umganges mit un­terschiedlichen kulturellen Erfahrungen, historischen Verletzungen und eigenständigen Mentalitäten. An vielen Stellen des Buches wird deutlich, wie eng in dieser Perspektive Ökumene und »heal-ing of memories« in Europa miteinander verknüpft sind, ohne doch identisch zu sein. Anders als der Ansatz der protestantischen Orthodoxiearbeit seit den 1950er Jahren, dem zufolge die kirchliche Spaltung im Kontext des politischen Ost-West-Konfliktes zu be­greifen sei, weshalb der Nachkriegsprotestantismus zuerst den Kontakt mit dem Moskauer Patriarchat und nicht vordringlich mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel suchte, konzentriert sich S. auf das Gegenüber des Ökumenischen Patriarchats.
Dies mag auch darin begründet liegen, dass sich der Autor mehrfach auf ein spezifisches kirchenrechtliches Ordnungsschema, nämlich die spätantike Pentarchie der Patriarchate, bezieht. Auf östlicher Seite hat diese Ordnung freilich inzwischen einer Gemeinschaft von vierzehn Lokalkirchen Platz gemacht. Obwohl S. bekräftigt, dass es ihm nicht zuerst um die juristische Einheit, sondern vielmehr um die spirituelle Gemeinschaft geht, verlagert er durch den Rekurs auf kirchenrechtliche Ordnungsvorstellungen, die aus der Sicht der orthodoxen Lokalkirchen anachronistisch scheinen müssen, das Schwergewicht seiner ökumenischen Vision doch wieder auf die Klärung rechtlicher Verhältnisse.
In der Diskussion des orthodoxen und des katholischen Kirchenverständnisses befürwortet S. eine »pneumatische Ekklesiologie«. Eine ökumenische Anschlussfähigkeit dieses Ansatzes über den Kontext der bilateralen römisch-katholischen Kontakte mit der Orthodoxie hinaus findet S. im Rahmen der trilateralen lutherisch-katholisch-orthodoxen ökumenischen Gespräche auf Weltebene über das geistliche Amt. Der Evangelischen Kirche in Deutschland wirft S. in diesem Zusammenhang die Abkehr von der von lutherischer Seite auf Weltebene entfalteten Ekklesiologie vor. Dieser Seitenhieb eines ansonsten auf ökumenischen Ausgleich abzielenden, erhellenden und im Dialog äußerst förderlichen Bu­ches erscheint dem Rezensenten wenig angemessen, da zum einen die orthodoxe Bewertung der evangelischen Theologie den orthodoxen Theologen überlassen bleiben sollte und zum anderen an dieser Stelle nicht berücksichtigt wird, dass die Evangelische Kirche in Deutschland eben nicht allein ein Bund lutherischer Kirchen mit einer entsprechenden Ekklesiologie und einem entsprechenden Amtsverständnis ist, sondern eben auch unierte und reformierte Kirchen in sich vereint.