Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1404–1406

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kratzert, Anne Helene

Titel/Untertitel:

»… dass das ganze Leben Buße sei.« Fundamentaltheologische Überlegungen zu einer praktischen Theologie evangelischer Buße.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 352 S. = Arbeiten zur Systematischen Theologie, 7. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03910-4.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Das Buch stellt die geringfügig überarbeitete Fassung einer Dissertation dar, mit der Anne Helene Kratzert an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg promoviert wurde. Die Arbeit wurde gewissermaßen auf der Grenze zwischen Praktischer und Systematischer Theologie geschrieben, was sich darin widerspiegelt, dass die Praktische Theologin Ingrid Schoberth das Erstgutachten und der Systematiker Gregor Etzelmüller das Zweitgutachten verfassten. K. geht von der Beobachtung aus, dass die Zentralstellung, die die Buße in der reformatorischen, speziell der lutherischen Theologie besaß – und die damit verbundene Dynamik – im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr verloren gegangen sei. Die Gründe dafür sieht sie in einer Verwässerung, einer Vergesetzlichung und schließlich im völligen Verlust der Rede von der Buße (258). Die These, die der Untersuchung K.s zugrunde liegt, ist folgende: Buße ist und bleibt trotz dieser Verlustgeschichte das Proprium des evangelischen Kirchen- und Glaubensverständnisses. Dies belegt sie fundamentaltheologisch mit einer Rekonstruktion entsprechender Aussagen Luthers. Die ungebrochene Aktualität des Themas Buße versucht sie an Henning Luthers Praktischer Theologie zu verifizieren. In der Konsequenz plädiert sie für eine erneuerte Praktische Theologie der Buße.
Die Untersuchung besteht aus sechs Hauptkapiteln. In der Einleitung zeigt K. auf, wieso die Buße auch in einer spätmodernen Kirche und Gesellschaft es verdient, wiederentdeckt zu werden. Sie begibt sich dazu auf Spurensuche und zeigt auf, dass das Thema Schuld und Buße in verdeckter Weise und unter anderen Begriffen auch heute Menschen umtreibt. Moderne Formen der Buße findet sie etwa im Streben nach innerer Reinheit und dem Boom von Lebenshilfe- und Ratgeber-Angeboten wieder. Den entscheidenden Vorteil einer christlich verstandenen Buße gegenüber den ge­nannten modernen Bußformen sieht sie in der Chance, dadurch aus »autopoietischen Kreisläufen«, d. h. aus dem ewigen Kreislauf endloser Selbstbezüglichkeiten aussteigen zu können.
Im zweiten Kapitel wird anhand von ausgewählten Schriften Luthers dessen Verständnis von Reue als Ursprung der Buße rekonstruiert. Dabei stehen die 95 Thesen von 1517, der Sermo de poenitentia von 1518, die Leipziger Disputation von 1519, Der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi aus dem gleichen Jahr, die Predigt über Lk 5,1–11 von 1537 und Luthers Schrift Wider die Antinomer von 1539 im Vordergrund. K. zeigt, dass eine erneuerte Predigt von Gesetz und Evangelium die Voraussetzung für die Wiedergewinnung von Luthers Reue-Verständnis darstellt. Dabei entstehen echte Reue und Buße für sie sowohl aus der Liebe zu Gott, die durch die Verkündigung des Evangeliums geweckt wird, als auch durch die Predigt des Gesetzes. Sowohl die Predigt des Gesetzes als auch die des Evangeliums haben primär zum Ziel – so ihre Interpretation des Anliegens von Luther –, dass der Mensch sich selber zu spüren bekommt. Im Zusammenhang damit definiert sie wahre Reue als »aller-vitalstes Sich-Spüren« vor Gott.
Das dritte Kapitel bildet seitenmäßig und vom inhaltlichen Gewicht her das Zentrum der Untersuchung. K. entwickelt darin – vor allem in Aufnahme von Luthers Überlegungen, aber auch von neueren systematisch-theologischen Ansätzen – das innere Ge­schehen der Buße. Buße ist demnach ein Leben in der Heiligung, wobei sich der neue Gehorsam des Menschen im immer neuen Hören auf Gottes schöpferisches Wort vollzieht. Gelebte Buße erweist sich als ein Leben im Geist, bestimmt von der Trias Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Werke der Buße erfolgen aus innerer, pneumatischer Notwendigkeit und erweisen sich als »leicht wie ein Strohhalm« (unter Verweis auf Luther, WA 50, 648,7–14).
Im vierten Kapitel geht es um die Beichte als gestaltgewordene Buße. K. diskutiert hier die Frage nach dem sakramentalen Charakter der Buße. Sie versteht die Buße als »Metaebene für alle verschiedenen inneren und äußeren Gestaltungsformen der Kirche« (255). In Aufnahme von bestimmten Überzeugungen Luthers definiert sie die Buße tauftheologisch. Ein sakramentales Verständnis der Buße würde in ihren Augen ihren Charakter als Metaebene aller Heilsmittel schwächen.
Im fünften Kapitel versucht K. den Nachweis zu führen, dass sich ihre These, wonach Buße das Proprium evangelischen Kirchen- und Glaubensverständnisses darstellt, auch anhand der Überlegungen eines modernen praktisch-theologischen Ansatzes verifizieren lässt. Sie wählt dazu Henning Luther aus, den früh verstorbenen, eher dem links-liberalen Spektrum zuzuordnenden Praktischen Theologen aus Marburg, und fragt nach »Spuren der Buße in der Theologie Henning Luthers«. K. sieht eine große inhaltliche Nähe zwischen dem Begriff des Fragments bei Luther und dem Begriff der Buße. Von da aus findet sie in den Texten des Marburger Praktischen Theologen »Wege der Buße im modernen Ge­wand« (319). Schmerz und Sehnsucht stünden bei ihm – wie beim modernen Menschen allgemein – anstelle von Reue und fiducia, Kritik und Liebe anstelle von Gericht und Gnade, der »fiktive Andere« anstelle von Gott (vgl. 320).
Im letzten Kapitel, eine Art kurzes Resümee des Buches, werden »sieben Bausteine zu einer praktischen Theologie evangelischer Buße« vorgelegt. Es handelt sich dabei um sieben Ermutigungen: Mut zur Authentizität (in Aufnahme eines Begriffs, den Heinrich Bedford-Strohm in die theologische Diskussion eingebracht hat), zum personalen Gott, zur Theologia crucis, zum Fragment, zur Eschatologie, zur Beichte, zur Umkehr.
Zweifellos hat K. mit dem Thema Buße eine zentrale theologische Fragestellung der Reformation aufgegriffen, die zumindest in der jüngeren Vergangenheit in der Theologie eine gewisse Marginalisierung erfahren hat. Dafür gebührt ihr Dank und Anerkennung. Sie hat mit ihrer Arbeit deutlich gemacht, dass die reformatorische Rechtfertigungslehre weit mehr ist als eine bloße Freiheitslehre (so wichtig, ja unverzichtbar eine solche im politischen, auch im kirchlichen Kontext an sich sein mag).
Vielleicht die Hauptschwäche der Untersuchung besteht darin, dass K. zu viel will: Eine Dissertation, die die Buße als Zentrum der evangelischen Theologie reetablieren möchte, muss sich notwendigerweise übernehmen. Das zeigt sich deutlich im Abschlusskapitel, dessen »sieben Bausteine« viel zu knapp geraten sind und überdies nicht deutlich genau zum Gesamtthema der Arbeit in Bezug gesetzt werden. Wirklich tragfähige Bausteine sind das noch nicht – höchstens Ermutigungen auf dem Weg dahin. Zwei weitere Kritikpunkte: Es wirkt so, als ginge K. davon aus, dass die neuere evangelische Theologiegeschichte insgesamt eine Verfallsgeschichte der Buße war. Das stimmt so nicht. Während der Erweckungsbewegung im 19. Jh. – man denke nur an Johann Christoph Blumhardt und Wilhelm Löhe –, aber auch in der Bekennenden Kirche und in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Frage der Buße theologisch und liturgisch eine zentrale Rolle gespielt. Bei manchen Aussagen K.s drängte sich mir der Eindruck auf, als erschöpfe sich für sie die Buße in einer Interpretationsfrage. Zumindest für Luther ist die Buße jedoch immer auch mit Kampf und Anfechtung verbunden, beinhaltet also Züge eines Macht- und Befreiungskampfes.
Trotz der genannten Kritikpunkte: eine inspirierende Arbeit!