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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1402–1404

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Keller, Sonja

Titel/Untertitel:

Kirchengebäude in urbanen Gebieten. Wahrnehmung – Deutung – Umnutzung in praktisch-theologischer Perspektive.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XX, 308 S. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 19. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-11-045161-0.

Rezensent:

Christoph Sigrist

Der Kirchenraum mitten in der Stadt ist attraktiv geworden. Wer sich in der praktischen Arbeit mit Kirchengebäuden mitten in der Stadt oder im Quartier und Stadtteilen beschäftigt, weiß um die brennenden Fragen rund um und mitten in den Sakraltopographien der Stadt. Doch auch in der theologischen Reflexion der Praxis gewinnt das Kirchengebäude in hohem Maße an Interesse. Sonja Keller stellt in ihrer 2014 von der Universität Zürich angenommenen Dissertation einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte um Deutung, Erhalt, Nutzung und Umnutzung von Kirchengebäuden vor. Gerade für verantwortliche Personen in Kirchenleitungen und kirchlichen Ämtern stellen die als Ausgangspunkt der Forschung gesetzten Fragen alltägliche, komplexe Herausforderungen. »Was ist ein Kirchengebäude? Wie werden die Kirchengebäude wahrgenommen? Wie lässt sich die Räumlichkeit des Kirchenraumes verstehen? Wie wurden und werden Kirchengebäude genutzt?« (Einleitung, XVIII)
Die Studie entfaltet zum Ersten die Rahmenbedingungen für die praktisch-theologische Perspektive von Kirchengebäuden mit ihrem Deutungs- und Nutzungspotential, fokussiert auf die deutsche Nutzungsdebatte mit Lichtblicken zum (deutsch)schwei-zerischen Kontext. Aspekte von Denkmalpflege und kirchlichen Handreichungen geben Einblicke in die Herausforderungen des Kirchenraumes als öffentlichem Raum für kirchliche und städtepolitische Strategieprozesse. Klar wird, dass Kirchen nicht nur Versammlungsorte von Gottesdienstbesuchenden sind: »Kirchengebäude sind bereits weit mehr als einzig Orte der Verkündigung, wie etwa aus der Beschreibungen der Kirchengebäude als nichtkommerzielle Freiräume der Begegnung hervorgeht, wobei den Kirchen vielfach ein hohes integratives Potential attestiert wird.« (46)
Diese Vielfalt unterschiedlicher Deutungszuschreibungen von Kirchengebäuden werden durch die Resultate der empirischen Re­ligionsforschung erhärtet, die mittels Gesprächen in Tanz-, spirituellen Gruppen, im ehrenamtlichen Kreis, im Seniorenkreis sowie im Vorstand eines Quartiersvereins in Zürich, Basel und Berlin erhoben wurden. Das theologische Verständnis von Kirchen wird nicht hinterfragt. Im Gegenteil, angesichts der vielen auch konfligierenden Wahrnehmungen von Kirchen ist die theologisch-systematische Reflexion gerade mit Blick auf die Grenzen von Kirchennutzungen praxisrelevant und notwendig.
Die »theoretischen Vertiefungen« (97) nehmen dieses Anliegen in einer spannend geschriebenen und erhellenden Auseinandersetzung mit theologischen Ansätzen von Kirchengebäuden auf. Mit Blick auf den reformatorischen Ansatz weist K. auf die Angst hin, Ausdrücke und Bauten des Glaubens mit dem zu verwechseln, worauf sie hinweisen und gebaut sind, nämlich auf die kontingente Er­fahrung mit Gottes Welt und Raum schaffendem Wort. »Raum wird von Luther und Zwingli kaum relational, sondern eher von seiner Funktion aus, als Raum, in dem etwas stattfindet, gedacht.« (110) In der Entfaltung der theologisch-systematischen Entwürfe von Ulrich Beuttler, Elisabeth Jooß und Matthias Wüthrich wird deutlich, wie schwierig es ist, Raum theologisch zu fassen. Die Vielfalt der praktologischen Einblicke in den Kirchenraum nehmen die individuellen und kollektiven Raumerlebnisse auf und führen sie zur grundlegenden Frage der Praxis, was Kirchen auch außerhalb expliziter Liturgie, Homiletik, Pädagogik und Diakonie bezeugen und wie sie das tun. Es gibt keine reformatorische Theologie des Kirchenraumes. Der Raum hat zum Zweck, die Gemeinde zum Lobpreis Gottes und zur Feier von Abendmahl und Taufe zu versammeln. »Die Gültigkeit dieser theologischen Bestimmung des Kirchenraumes kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie für die Umnutzungsfrage nur bedingt eine Klärung zu leisten vermag, was, wie gezeigt, auf das raumtheoretische Vakuum, das die reformatorische Theologie hinterlassen hat, zurückgeführt werden kann.« (140)
Dieses raumtheoretische Vakuum reformatorischer Theologie wird einerseits durch die Darstellung des protestantischen Kirchenbaus vor allem im 19. Jh. mit den nachhaltig prägenden Traktaten wie »Dresdner Thesen« (1856), »Barmer Thesen« (1860) sowie dem »Eisenacher Regulativ« von 1861 durch die systematisch durchdachte Einwirkung von gottesdienstlich-liturgischem Ge­schehen in gesellschaftliches Leben und architektonisches Bauen kompensiert. Anderseits verhilft die Räumlichkeit des Kirchenraumes selber, ihn besser zu verstehen. K. gelingt es ausgezeichnet, die aktuellen Debatten von Spatial Turn, relationalem Raum, heiligem Raum sowie die Räumlichkeit des Menschen selber zielführend darzustellen. Zielführend deshalb, weil mit dieser Analyse die besondere, komplexe und vielfältige Wirkung des Kirchenraumes auf Menschen verständlicher wird. »In diesem Sinne ist auch der Kirchenraum als zusammengesetzte Kategorie zu denken, die sich aus verschiedenen Raumvorstellungen sowie dem menschlichen Bedürfnis, einen Sakralraum herzustellen speist.« (205)
Diese komplexe Struktur zusammengesetzter Kategorien, Raumkonzepte und Deutungszuschreibungen sind nach K. Ausgangspunkt des für den Protestantismus typischen Dilemmas: »Deutungen und Wahrnehmungen von Kirchengebäuden greifen selten auf dogmatische Bestimmungen von Kirchengebäuden zurück und lassen sich dennoch als Ausdruck protestantischer Religion und Kultur lesen, sofern sie sich durch einen elementaren Subjektbezug auszeichnen.« (218) Soll die Umnutzung des Kirchengebäudes nicht allein aufgrund fehlender finanzieller Mittel erfolgen, müssen sich – so der Schluss K.s – Verantwortliche in Kirchenleitungen und Pfarrämtern von ihren theologischen und ekklesiologischen Überzeugungen inmitten einer pluralen Gesellschaft leiten lassen, einer Gesellschaft, »die sich in den vielfältigen Deutungen der Kirchengebäude spiegelt« (218).
Die vorliegende Studie gehört auf den Tisch in Sitzungszimmern und Studierstuben von Stadtkirchen in der City und im Quartier. Sie stellt ein ausgezeichnetes Instrumentarium für Entscheide über zukünftige Nutzungsformen von Kirchengebäuden dar. K. gelingt es, neben den ökonomischen Sachzwängen die komplexe Deutungsstruktur von Kirchen einerseits einsichtig zu ma­chen, anderseits praktikable Wege in diesen aktuellen Herausforderungen aufzuzeigen, die mehr aufzeigen als: »Es ist halt schwierig.« Im Gegenteil, die Schwierigkeit heutiger interkultureller und interreligiöser Trends, die den Kirchenraum offensichtlich oder indirekt betreffen, erweisen sich als lustvolle »Mutanfälle« (Sölle), Kirchen als »religiöses Zeichen im öffentlichen Raum« (Erne) neu zugänglich zu machen.
Lustvoll ist es, den Mehrwert von Ethik und Ästhetik eines Kirchenraumes theologisch zu durchdringen. »Dabei muss die Anfrage erlaubt sein, ob der Kirchenraum, das von Bullinger beschriebene ›Gotteshaus‹, nicht tatsächlich erst im Gottesdienst Kirchenraum wird, weil es sich dabei erst zu einem solchen formiert.« (140) Mutig bleibt es, angesichts der Vielfalt von Deutungszuschreibungen den Kern reformierter Theologie zu proklamieren, »dass nicht der Raum verkündigt, sondern Gott im Kirchenraum verkündigt wird« (140). Tatsache bleibt jedoch, dass immer mehr Besuchende nicht mehr den Gottesdienst und die kirchlich organisierte Veranstaltung besuchen, sondern die Stille des Raumes selber aufsuchen, um zu hören und zu lauschen.