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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1398–1400

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Detje, Malte

Titel/Untertitel:

Servant Leadership. Ansätze zur Führung und Leitung in der Kirchengemeinde im 21. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 384 S. m. 18 Abb. = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, 23. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-3005-5.

Rezensent:

Eberhard Hauschildt

»Servant Leadership« – der Buchtitel der Greifswalder Promotionsschrift von Malte Detje – benennt eine der gegenwärtigen Führungs- und Leitungs-»Philosophien«. Auf eine kondensierte, integrierende und theologisch vertiefte Darstellung dieses Ansatzes läuft das Buch hinaus (Teil IV). Schon eingangs wird die Untersuchung bewusst in den Kontext einer post- bzw. spätmodernen Situation der Abwehr direktiver Leitungsformen gestellt (10–15).
Teil I (21–134) bietet einen Durchgang zu Führen und Leiten in a) praktisch-theologischer Literatur zum Thema (ausführlicher G. Breitenbach und B. Petry) sowie b) kirchentheoretischer bzw. gemeindeaufbautheologischer Literatur (ausführlicher M. Herbst, R. Preul und J. Hermelink) und c) Arbeiten zur Pastoraltheologie (ausführlicher u. a. I. Karle, Chr. Grethlein, U. Wagner-Rau, N. Schneider/V. Lehnert). Durchwegs zeigt der Vf. Wohlwollen für die Stärken der Monographien – gleich welchem »Lager« sie angehören, unbeschadet einer im Ton behutsamen und doch klaren Benennung von offenen Fragen bzw. Desideraten. Das gilt auch für das Referat zu den Werken des Doktorvaters (M. Herbst), es werden auch Veränderungen in dessen Schriften über die Jahre hin durchsichtig gemacht. In »Ergänzung«, aber »nicht Substitution« soll angesichts der zurzeit dominierenden systemischen Einsichten dem personellen Aspekt von Leitung wieder größere Aufmerksamkeit zukommen (120).
Der etwas kürzere Teil II (137–208) widmet sich der nicht-theologischen Literatur zu Führen und Leiten (einschlägig: M. Stipplers Beschreibung von drei Phasen systemisch orientierter deutscher Führungstheorie, während im angelsächsischen Blick bei P. G. Northouse systemische Modelle keine Rolle spielen). Ausgehend von den verschiedenen Schulen wird ein Gesamtbild (Graphik: 156) entworfen, das die Größen »Kultur«, »System«, »Team« und »Situa tion/Aufgabe« ebenso berücksichtigt wie »Persönlichkeit« und »Verhalten« der Führungskraft als auch Beziehungswechselwirkungen mit den Geführten und eine Zielorientierung. Auch beim systemischen Ansatz sind inzwischen personale Aspekte wieder deutlicher einbezogen (F. Malik, D. Pinnow). Modelle des »Servant Leadership« (Anstoß durch R. Greenleaf ab den 1960er Jahren) werden dargestellt. Bei den Trends und Themen der gegenwärtigen Forschung sind personale (»Authentizität«, »Ethik und Werte«, »Demut«, »Vertrauen«) und kulturelle Komponenten (Komplexität, Generation Y, »Gender Studies«, deutsche Führungskultur-Akzente im globalen Vergleich) hervorgehoben.
Der umfangreichste Teil III (211–315) bietet »prinzipiell-kybernetische Überlegungen«, die als »theologische Grundlagen« für das Thema verstanden sind. Nach evangelischem Verständnis sind bestimmte Kirchen- und Führungsgestaltungen gerade nicht zeitlos fest-gelegt; Pfarrerinnen und Pfarrer sind auch leitend tätig, aber nicht nur sie. Ausführlicher widmet sich der Vf. der Frage, »inwiefern der christliche Glaube einen gemeinschaftlichen Charakter im engeren Sinn der Interaktions- und Bewegungslogik benötigt« (231). Gut werden drei Typen von Kritik an der Orientierung an der Kerngemeinde als »pistologischer«, »empirischer« und »historischer Einwand« be­schrieben. Dem gegenübergestellt ist »eine Antwort in Thesen«: Die anerkannte Pluralität der Bindungsformen »bedarf dennoch einer gemeinsamen Schnittmenge in der regelmäßigen und dadurch potenziell formend wirkenden Partizipation an einer Sozialgestalt des Glaubens« (241). Von Schrift und Bekenntnis her ergebe sich diese »Normativität« – als »freiwillige Bindung«. Doch: »Offen – und keinesfalls leicht zu beantworten – ist dabei noch die Problematik, was Regelmäßigkeit hinsichtlich Dauer und Frequenz von Partizipation genau bedeutet.« (246) Leitung wird unter den drei Sichten coram hominibus, coram deo und coram mundo diskutiert. Die allgemeine Leitungsliteratur zeigt, dass in der Welt eine Steuerung komplexer Systeme denkbar und möglich ist (281–315). Dass sie vor Gott erlaubt ist, wird gegenüber kritischen Anfragen an menschliches Leiten nicht nur pragmatisch, sondern auch über die Theologumena Inkarnation und Pneumatologie erschlossen. Zu Letzterem gibt es einigermaßen ernüchternde Ausführungen über die Reichweite des von R. Bohren bekannt gemachten und bei M. Herbst fortgeführten Rekurses auf »theonome Reziprozität« (271–273). Stattdessen bevorzugt der Vf. christologisch fundierte Denkfiguren, für die er dann klassisch lutherische Modelle von »Glaube und Werk«, »Gesetz und Evangelium« und »Wort und Antwort« aufbietet. Besonders instruktiv ist die Frage, wie vor dem menschlichen Forum angesichts der Postmoderne Leitung überhaupt erlaubt sein kann (247–264). Es kann nicht nicht geleitet werden. In einem Abschnitt »Was ist Wahrheit?« erteilt der Vf. der konstruktivistischen Verabschiedung der Wahrheitsfrage eine Absage, beharrt auf einer korrespondenztheoretischen Sicht und füllt sie dann einfach durch eine normative Setzung innerhalb seines theologischen Reflexionsrahmens aus:
»Leitung muss mit der Realität von Kirche als corpus permixtum (CA VIII) rechnen. […] Es gibt die homines renati und die homines nondum renati. Auf diese Unterscheidung sollte kirchliche Kybernetik nicht verzichten [Verweis auf M. Herbst], auch wenn sie in dieser Welt nicht trennscharf verwirklicht werden darf. Wohl aber kann und sollte diese geistliche Wirklichkeit mit hoher Sensibilität in kirchlicher Leitungspraxis zur Darstellung gebracht werden.« (Verweis darauf, dass nach J. Hermelink der »Begriff der Darstellung« das Verhältnis zwischen geistlicher Wirklichkeit der Kirche und organisationaler Form bestimme; 259)
Und – so in der »Zusammenfassung in Form von Thesen« – »Wahrheit ist in letzter Konsequenz eine Person. Christus ist die Wirklichkeitswahrheit vor der Klammer aller Sachverhaltswahrheiten.« (264) Man sieht, wie hier, aber auch erst hier, die Reflexion, bei aller Differenziertheit in der Wahrnehmung »weltlicher« Argumentation, eine Schließung erfährt, bei der der Diskurs mit solcher Wissenschaft, die den gläubigen Prämissen nicht folgt, aufhört.
Teil IV (321–367) bietet, die allgemeine Literatur aufnehmend, eine Ergebnis-Darstellung von Servant Leadership (Graphiken: 328 u. 340). Es gelingt, dies in Anschluss an Mk 10,35–45 (Herrschen und Dienen unter den Jüngern und Christi Dienst) inklusive der postmodernen Empfindlichkeit gegenüber Vorstellungen von »Dienen« sowie einer gut lutherischen Theologie von Gesetz und Evangelium zu bringen. Für das Pfarramt wird sogar eine Erweiterung der Grundaufgaben von Predigt des Evangelium und Verwaltung der Sakramente um »die Aufgabe der Gemeindeleitung im Sinne von Servant Leadership« (365) angeregt, ohne dass solche Führung allein den Geistlichen zukäme.
Die Greifswalder Arbeit zeigt sich als eine auch im Denkansatz selbständige und um Integration anderer theologischer Literatur erfolgreich bemühte Darstellung von Führen und Leiten in der Kirche, die angesichts der Verwobenheit in angrenzende Thematiken wohlüberlegt Kurs hält. Trotz programmatischem Gemeindebezug ist das Modell letztlich natürlich wieder ein Modell kirchlich-personaler Leitung überhaupt. Dass die Darstellung ganz ohne Berührungsreserven zu evangelikalen Strömungen wie zum Main-line-Liberalismus auskommt, zeichnet sie m. E. aus, was mit ihrem konfessionell-lutherischen Charakter zu tun hat. Die geradezu neo­orthodoxe Art von Schließung auf der fundamentaltheologischen Ebene ließe sich m. E. vermeiden, so dass die Funktion von sola scriptura und solus Christus auch in Bezug auf ihre Art von Leistung für Diskurse einsichtig gemacht werden kann, im Hinblick auf solche, die wahrheitstheoretisch anders denken und Glaubensprämissen offengelassen haben wollen.