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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1396–1398

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Baschera, Luca

Titel/Untertitel:

Hinkehr zu Gott. »Buße« im evangelisch-reformierten Gottesdienst.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie); Würzburg: Echter Verlag 2017. 280 S. = Evangelisch-Katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt, 4. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-3159-5 (Vandenhoeck & Ruprecht); 9783-429-04319-3 (Echter Verlag).

Rezensent:

Jochen Arnold

In seiner Züricher Habilitationsschrift wendet sich Luca Baschera einem »Stiefkind« des evangelischen Gottesdienstes zu, dem Sündenbekenntnis. Seine Perspektive ist dabei dezidiert (schweizerisch)-reformiert, was für den aufmerksamen Leser anderer konfessioneller Herkunft allerdings kein Hindernis, sondern eher eine Anregung sein dürfte:
Die Arbeit setzt mit der Problemanzeige ein, dass die »liturgische Buße« – ein Herzstück reformierter Gottesdiensttradition – seit Langem in der Krise, d. h. auch aus zahlreichen Formularen verschwunden sei. Der Vf. ordnet seine Fragestellung in die aktuelle praktisch-theologische Diskussion (z. B. Jörns; Klessmann u. a.) ein. Methodologisch schließt sich der Vf. an die durch R. Meßner; J. Arnold u. a. praktizierte Systematische Liturgiewissenschaft an, wonach das Handeln Gottes in der Liturgie nicht nur Gegenstand, sondern auch Quelle und Maßstab der Forschung ist. Der Vf. kontrastiert – gegen den praktisch-theologischen Mainstream – eine » pneumatisch-formative Sicht auf die Liturgie« (7) gegenüber einer »anthropologisch-expressiven«.
Letztere wird im ersten Hauptkapitel in einer ausführlichen Diskussion mit Friedrich Schleiermacher entfaltet. Der Kultus werde quer durch sein Œuvre als Aktualisierung des »frommen Be­wusstseins« verstanden. Der Vf. sieht dieses Konzept wesentlich vom Begriff der energeia beeinflusst (vgl. 1.4.), die in der Bewegungslehre des Aristoteles im Gegenüber zur kinesis entwickelt wird. Zwar kann die Aufnahme der Begriffe nicht unmittelbar belegt werden, die philosophische Prägung der Enzyklopädie Schleiermachers würde aber zunehmend deutlich (vgl. Crouter u. a.).
Daraus ergibt sich die zentrale Problemanzeige, dass Kultus für Schleiermacher ausschließlich als menschliches Handeln zu verstehen sei: Der »Glaube ist das Prinzip des gemeinschaftlichen; wo dies noch nicht ist, sondern erst hervorgebracht werden soll, da ist kein Gottesdienst.« (F. S., Praktische Theologie, 70) Das damit verbundene Problem liegt auf der Hand: Wenn die Gemeinde sich nicht schon glaubend versammelt, wird sie nichts Neues erfahren. Dem göttlichen Wort bzw. Geist wird keine eigene außerhalb des Menschen liegende Wirksamkeit zugetraut. Wenn es gut läuft, kommt es – etwa im Gebet – höchstens zu einer (graduellen) »Erhöhung des frommen christlichen Bewusstseins« (vgl. 16). Der Vf. nennt das »Kind beim Namen«: Von einem »speziellen Mitwirken Gottes beim Gottesdienst« könne von Schleiermacher herkommend nicht gesprochen werden (18).
Diesen Ansatz bei menschlicher Expressivität sieht der Vf. auch in den neueren liturgiewissenschaftlichen Arbeiten von Peter Cornehl, Ursula Roth und David Plüss durchgehalten. Er räumt allerdings ein, dass sich (Schleiermacher modifizierend) in diesen Konzepten durch performative bzw. affirmative Handlungen im Gottesdienst »Wirkung in der Darstellung« (28) ereigne.
Dann nimmt der Vf. das Gespräch mit der amerikanischen Dogmatik (S. Hauerwas; Smith u. a.) und Liturgischen Theologie (Don Saliers u. a.) auf (Kapitel II). Wichtig ist ihnen u. a. die primär göttliche Wirkung des Gottesdienstes auf die Kirchenmitglieder, die in der Befestigung des Glaubens und der Hoffnung zum einen und in der Provokation zur Umkehr liege. Mit anderen Worten: Ein Gottesdienst, der nur bestätigt, ist eher Götzendienst als Gottesdienst (vgl. ähnlich 35). Jedoch wird der Gottesdienst vom Vf. nicht nur als Prinzip oder Motor der Ethik verstanden. Er entwickelt im Folgenden vielmehr – nun wieder im Gespräch mit »europäischen Entwürfen« von Peter Brunner bis Manfred Josuttis und van der Leeuw bis K. Barth – theologische Modelle des Zusammenspiels von Gott und Mensch im Gottesdienst. Der Begriff des concursus könne das Zusammenwirken von Gott und Mensch – analog zur Christologie (vgl. Chalcedonense) – treffend ausdrücken. Gott ist dabei Urheber, der Mensch gleichwohl sekundär beteiligt, wobei mit Karl Barth das »göttliche Wirken in, mit und über dem geschöpflichen« sich vollziehe. Dies gilt ausdrücklich auch für die (anabatischen) Akte wie das Gebet (vgl. Röm 8,26 mit Hinweis auf Calvin).
Weitere begriffliche Schärfungen werden dann trinitätstheologisch und pneumatologisch mit Dalferth, Bohren (»theonomes Subjekt«, vgl. Anm. 228) und Kunz vorgenommen: Dabei wird der Gottesdienst als Ort der Kommunikation über Christus und mit Christus betrachtet, eine Aussage, die ja auch von lutherischer Seite (z. B. bei Regin Prenter) immer wieder herausgearbeitet wurde. Hier ist m. E. nachzufragen, ob nicht auch die Präposition »von Christus her« als dritte Bestimmung (katabatisch) wichtig wäre. Kapitel II schließt mit einer nachdrücklichen Bestimmung des Gottesdienstes als Bewegung Gottes (kinesis) zu den Menschen, im Gegensatz zu einer energetischen Betrachtung, die beim Menschen ansetzt.
Kapitel III fokussiert kurz reformatorische (reformierte) Theologie im Blick auf das Verständnis der Buße. Der »formative Kern« des reformierten Gottesdienstes wird dabei dezidiert als metanoia (Buße, Hinkehr zu Gott), Neuausrichtung, verstanden. Wichtig ist dabei der untrennbare Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung als Geschenk Gottes (Bullinger und Calvin) bzw. die Be­schreibung des Christen als simul iustus et peccator.
Kapitel IV bringt dann (endlich) den konkreten Blick auf die reformierte »Umkehrliturgie«. Ausgangspunkt ist das Straßburger bzw. Genfer Formular von 1542 ff. Die Liturgie wird dabei als Schlüssel für das Verständnis der reformierten Lehre begriffen (nicht umgekehrt). Historisch wichtig ist die (unterschiedliche) Genese der liturgischen Stücke von Offener Schuld (nach der Predigt; Prädikanten-Gottesdienst) und Confiteor (zu Beginn des Messgottesdienstes). Neu – und sicherlich eine Entdeckung für viele – ist die vom Vf. offengelegte Struktur von Anamnese, Epiklese und Doxologie innerhalb der reformierten Bußliturgie.
Folgende Beobachtungen scheinen mir relevant: Bereits die Züricher Liturgie von 1525/35 verzichtete im Anschluss an das Sündenbekenntnis (nach dem Vorbild der Offenen Schuld aus Surgants Manuale von 1503) auf eine explizite Absolution (vgl. 98). Demgegenüber ist diese in der Straßburger Liturgie ausgeprägt vorhanden und schließt sich formal an das Confiteor an (vgl. 100): »Es erbarme sich deiner der allmächtige Gott …«.
Theologisch essentiell ist dem Vf., dass nach reformiertem Verständnis das Evangelium und nicht das Gesetz Einsicht der Sünde wirkt. Sünde wird als inclinatio ad malum (Ursünde als verkehrte Ausrichtung) verstanden. Im Prozess der Umkehr wächst Reue und damit auch das Bedürfnis nach Erneuerung, woraus sich dann auch ein neues Verständnis der Gebote ergibt (usus in renatis). Eine Entdeckung ist in diesem Zusammenhang die »droicte penitence«, eine Bitte um die Gaben des Heiligen Geistes, die im Herzen Raum ge­winnen sollen (vgl. Ps 51,10).
Missverständlich scheint zunächst, dass der Vf. die (nur teilweise in Genf praktizierte) Absolution als Zuspruch der Gnade dann unter der Überschrift Doxologie einführt, unterscheidet dann aber von ihr die Bundeserneuerung, ein nochmaliges Bittgebet um Erneuerung, auf welches die Gemeinde mit dem Zehn-Gebote-Lied antwortet. »Indem die Gemeinde die Zehn Gebote singt, gedenkt sie ihrer Pflichten Gott sowie den Mitmenschen gegenüber und bezeugt, in Jesus Christus Verbündete Gottes zu sein« (135).
Dann fragt der Vf., ob es nun aktuell einer spezifischen Umkehrliturgie bedürfe, wo doch der Gottesdienst als Ganzer auch als Re-Orientierung begriffen werden könne. Er plädiert deutlich dafür, dass die explizite Umkehrliturgie als metanoetischer Kern des Gottesdienstes zu betrachten sei. Nur so könnten die Aspekte von »Um-Orientierung, Heiligungsprozess und Re-Orientierung« zusammen­gehalten und erfahren werden.
Ein abschließender, lehrreicher Teil V mit materialliturgischen Analysen schließt das Buch ab. Hier plädiert der Vf. deutlich für eine Stellung der Umkehrliturgie zu Beginn des Gottesdienstes, was sich mit der klassischen Position des Confiteor bzw. auch mit der unierten Variante (Kyrie-Absolution-Gloria) ungefähr deckt.
Die Strukturmomente der Umkehrliturgie sind für den Vf. Bekenntnis der Sünde, Bitte um Erneuerung, Zuspruch der Gnade und Antwort der Gemeinde (Bundeserneuerung). Im Blick auf die Musik fordert der Vf. eine neue (kritische) Betrachtung der Liturgie unter doxologischer Perspektive. Der Gemeindegesang könne sowohl kerygmatisch Verkündigung als auch Bitte und Anbetung sein und den personalen Aspekt der An- und Zueignung unterstreichen (179–182). Auch die liturgische Stille (kultisches Schweigen) sei neu zu bedenken: Sie vertiefe die Betrachtung der eigenen Sünde und das Warten auf die Neuzuwendung Gottes.
Von besonderer Bedeutung scheint mir zuletzt das Plädoyer für einen herausgehobenen räumlichen Ort der Erteilung des Gnadenzuspruchs. Der Vf. schlägt vor, ihn als Akt der Wortverkündigung dadurch zu kennzeichnen, dass er auch vom Ort der Predigt (Kanzel, Ambo) gesprochen würde.
Insgesamt fasziniert die Arbeit durch ihren hohen theologischen Reflexionsgrad, ihre existenzielle Relevanz und ihre am Ende sehr konkrete praktisch-theologische Übertragung. Sie zeigt einmal mehr, dass solide theologische Arbeit und die Orientierung an reformatorischen Gottesdienstordnungen nicht automatisch mit fehlender Praxisnähe einhergehen muss. Im Gegenteil.