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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1393–1396

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Weber, Max

Titel/Untertitel:

Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus/Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920. Hrsg. v. W. Schluchter in Zus.-Arb. m. U. Bube. Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XVII, 763 S. m. Abb. = Max Weber-Gesamtausgabe, I/18. Lw. EUR 316,00. ISBN 978-3-16-153269-6.

Rezensent:

Hartmann Tyrell

Max Webers so berühmter wie umstrittener Aufsatz Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus liegt bekanntlich in zwei verschiedenen Fassungen vor: in der frühen von 1904/05 und in der von 1920, dem letzten Lebensjahr entstammend. Als MWG I/9 und MWG I/18 liegen jetzt beide Fassungen endlich auch in der Max Weber-Gesamtausgabe vor. Hier ist vorweg zu sagen: Die zweite Fassung ist eine Überarbeitung und Erweiterung der ersten.
Weber kam fast anderthalb Jahrzehnte nach dem Ersterscheinen des Aufsatzes nicht umhin, sich mit den Kritiken und Debatten der Zwischenzeit (hier seit 1911) auseinanderzusetzen und neues Quellenmaterial, wo es ins Gewicht fiel, zuzuziehen, bisweilen auch neues Gedankengut einzuflechten. Gleichwohl bleibt die zweite Fassung der ersten in der Aussage treu und gleich und es darf den anderthalb Jahrzehnten Zeitdifferenz zum Trotz guten Gewissens von der »Protestantischen Ethik« gesprochen werden. Und gerade Weber selbst bestand auf solcher »Selbigkeit«. In der langen Eingangsfußnote der späten Fassung hat er nicht ohne Theatralik erklärt, er habe den notwendigen Zutaten zum Trotz »nicht einen einzigen Satz« von Bedeutung in seinem Aufsatz geändert oder in der Sache Substantielles hinzugefügt (124). Die These sei unverändert dieselbe. Andererseits war der Autor von 1920 nicht mehr derselbe wie der von 1904/05. Der späte Weber verfügte über eine elaborierte soziologische Terminologie, er hatte die großen, komparatistisch angelegten religionssoziologischen Aufsätze über das klassische China, über Indien und das antike Judentum verfasst und vieles mehr. Kurz: Er war über die Protestantische Ethik weit hinausgelangt. Umso mehr aber fällt auf, dass der späte Weber den Text von 1904/5 nicht auf sein neues Vokabular hin umgeschrieben, sondern bewusst im alten sprachlichen Gewande belassen hat. Man braucht dafür nur an den »kapitalistischen Geist« zu denken, für den das Spätwerk ansonsten keine Verwendung mehr hatte. Auch hat sich Weber, was die großen, seit ca. 1910 neu gewonnenen religionssoziologischen, religions- und universalgeschichtlichen Einsichten betrifft, ausgesprochen zurückgehalten; nur punktuell sind sie dem Text von 1904/05 injiziert, so etwa der gern zitierte Entzauberungspassus (280 f.).
Die späte und überarbeitete Protestantische Ethik verhält sich zu der frühen dann erst recht nicht im Sinne von deren »Vollendung«, im Sinne nämlich der Ausarbeitung jener Fortführung, wie sie Weber nach 1904/05 wiederholt als geplant und beabsichtigt hingestellt hatte. Mit anderen Worten: Auch die Spätfassung löst nicht ein, was Weber in jener Zeit (zumal auch in den »Antikritiken«) als nötige Weiterführung, vor allem aber sozialökonomisch als »Gegenprobe« angekündigt hatte. In der berühmten »Vorbemerkung«, die er 1920 an die Spitze gestellt hat und mit der er zugleich in die Protestantische Ethik wie in die nachfolgenden Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen einführt, ist das deutlich zum Ausdruck gebracht. Dort heißt es mit Blick auf die sozialökonomische, der Basis/Überbau-Problematik verpflichteten Theorieanlage der Protestantischen Ethik, in dieser werde nur »der einen Seite der Kausalbeziehung nachgegangen. Die späteren Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen hingegen »versuchen, in einem Überblick über die Beziehungen der wichtigsten Kulturreligionen zur Wirtschaft und sozialen Schichtung ihrer Umwelt beiden Kausalbeziehungen […] nachzugehen« (117). Die Protestantische Ethik ist also auch in der Spätfassung eine »unvollendete«: auch darin dem Frühwerk treu geblieben.
Die Herausgeber der Max Weber-Gesamtausgabe haben sich frühzeitig entschlossen, der von Weber so stark herausgestellten Einheit der Protestantischen Ethik nicht Rechnung zu tragen und sie also nicht unter demselben Dach als zusammengehöriges Textgut zu publizieren. Sie haben seinerzeit entschieden, die beiden Fassungen der Protestantischen Ethik trotz ihrer Kongruenzen ge­trennt voneinander, in zwei verschiedenen Bänden zu edieren; sie trennen damit, was zusammengehört. Die Trennung ist allerdings keine Willkürentscheidung. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass die Fassung von 1920 eben nicht für sich erschien, sondern in Webers schließlich dreibändiger Reihe Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (Bd. I), dort zusammengeführt mit den Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen und diesen vorangestellt. Von der »Vorbemerkung«, beidem vorangestellt, war schon die Rede. Diese Rahmung ist in der Gesamtausgabe beibehalten. Das Erscheinen der beiden Protestantischen Ethiken in der MWG hat, viel beklagt, lange auf sich warten lassen. Der Band MWG I/9 mit der Version von 1904/05 sowie den Antikritiken erschien 2014 und wurde in dieser Zeitschrift (ThLZ 140 [2015], 1433–1436) besprochen. Seit dem letzten Jahr liegt auch der hier besprochene Band I/18 vor. Der Rezensent, der sich im Folgenden vorwiegend aufs Editorische beschränken muss, möchte den Leser zur Ergänzung ausdrücklich auf die Besprechung von 2015 hinweisen.
Man wird als Leser den Eindruck nicht recht los, dass zwischen den Bänden I/9 und I/18 in editorischer Hinsicht der Geist der Scheidung herrscht. Jedenfalls ist der Letztere, was seine Rückbindung an den Vorgängerband angeht, ausgesprochen zurückhaltend geraten; Brücken (etwa zur Paginierung in I/9) sind nicht gebaut. Das heißt vor allem: MWG I/18 übernimmt das von Weber zum größten Teil ja beibehaltene ältere fußnotenreiche Textgut mitsamt der ›Unterschicht‹ der höchst wertvollen Sacherläuterungen, die Ursula Bube zu danken sind. Er übernimmt und dupliziert also in erheblichem Maße Weberschen Text und Bubesche Erläuterungen, wie sie sich im Band I/9 schon finden, zeigt das aber lieber nicht an. Dem Leser ist es nicht leicht gemacht, sich gerade der kontinuierenden Textsubstanz zügig zu vergewissern.
Dem Band hinzugefügte Photographien veranschaulichen den Weg von Webers Überarbeitung und Erweiterung: Er benutzte dafür »die aus den alten Archiv-Heften von 1904 und 1905 herausgelösten Druckseiten« (79) und fügte diesen als neue Druckvorlage handschriftlich seine Textänderungen und -zutaten ein; diese schon im Bild beeindruckende Druckvorlage ist erhalten. Es sind eine Vielzahl von Revisionen im Kleinen und Kleinsten (Interpunktion, Zurücknahme von Sperrungen usw.), dann aber in nicht geringer Zahl auch umfangreichere Textzutaten, bisweilen Kürzungen. MWG I/18 legt im Haupttext, wie sich versteht, (als »letzter Hand«) die Druckfassung von 1920 zugrunde, und der nun (unterhalb der Weberschen Fußnoten) hinzutretende, en miniature gedruckte textkritische Apparat macht von dort aus Webers Hinzufügungen und Änderungen als das kenntlich, was in der »Fassung erster Hand (A)« noch »fehlt«. Dem Leser ist das Geschäft auf die Art, zumindest auf den ersten Blick, nicht ganz leicht gemacht. Man denke an einen Leser, der dem genauer nachgehen will, was Wilhelm Hennis schon 1982 registriert hat: »Die PE-Fassung von 1904/05 wimmelt von Absichtserklärungen, die in der GARS-Fassung wegretuschiert werden mussten.« Die Dinge komplizieren sich vollends dadurch, dass die Herausgeber sich die Chance nicht entgehen lassen wollten, im textkritischen Apparat (und eben nicht in einem speziellen Anhang) auch noch zwei spätere, dem endgültigen Druck nahe Textrevisionen von Webers Hand zu dokumentieren. Hier mag Pietät mit im Spiel gewesen sein, denn die besagten Revisionsphasen führen nah heran an Max Webers Tod. Der Rezensent indes gesteht, dass er es, was Webers Überarbeitung der Protestantischen Ethik angeht, schon um die Augen zu schonen, vorzieht, sich weiterhin erst einmal an seine Markierungen im Band I der Gesammelten Aufsätze von 1920 zu halten.
Ich lasse die beliebte Frage der »historisch-kritischen Ausgabe« beiseite und frage abschließend nur noch: Was enthält Band I/18 über die späte Protestantische Ethik hinaus? Er enthält die bereits angesprochene, gern als Schlüsseltext bezeichnete »Vorbemerkung« (101 ff.). Hier gibt es durch die Neuedition des bekannten Textes (samt der Varianten aus den beiden Revisionen) in der Sache wenig an Zugewinn. Indes sind zumal für die Nutzung des Textes in der Lehre die Sacherläuterungen von nicht geringem Wert. Ähnliches gilt für den neuen Sektenaufsatz, also für den der Protestantischen Ethik nachfolgenden und das Protestantismusthema abschließenden Text (492 ff.). Er hat in dem Aufsatz »›Kirchen‹ und ›Sekten‹ in Nordamerika. Eine kirchen- und sozialpolitische Skizze« von 1906 einen Vorläufer, der einerseits ein Reisebericht war, andererseits erstmals das Oppositionspaar von »Kirche« und »Sekte« begrifflich erarbeitete und es ins Verhältnis zu Politik und Demokratie in den USA setzte, dies im Kontrast zum kontinentalen Europa. Der späte, »stark erweiterte« Sektenaufsatz von 1920 – nun mit dem Titel »Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus« – behält den Reiseberichtcharakter teilweise bei, er zieht den Sektenbegriff nun breiter vom »entscheidende[n] Gedanke[n] der Reinhaltung des Abendmahls« her auf (517), hat umweltbezogen aber bevorzugt die Wirtschaft im Blick.