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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1390–1392

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schlögl-Flierl, Kerstin

Titel/Untertitel:

Moraltheologie für den Alltag. Eine moralhistorische Untersuchung der Bußbücher des Antoninus von Florenz OP (1389–1459).

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2017. 430 S. = Studien der Moraltheologie. Neue Folge, 6. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-402-11930-3.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Die Moraltheologie arbeitet für den Alltag. Sie will helfen, ein Leben in Einklang mit dem christlichen Glauben zu führen. Diese Aufgabe ist schwierig, darum ist die Hilfe so wichtig. Das Leben ist kompliziert, und nur wenige sind Heilige. Wir anderen brauchen Rat, um möglichst wenig zu irren, und sind im Übrigen auf Reue, Buße, Versöhnung und Vergebung angewiesen. Das war schon im­mer so. Darum stehen an den geschichtlichen Anfängen des Faches Moraltheologie das Bußsakrament als Sakrament des Alltags, das Beichthören als Quelle der Erkenntnis von Alltagsnöten und -konflikten, und das Bemühen um praktische Handreichungen für Beichtende und Beichthörende, um Hilfe durch Moraltheologie eben. Hierher sind drei Schriften des Antoninus von Florenz zur christlichen Lebensführung, zur Beichte und zur Buße zu zählen, das zeigt eindrucksvoll die auf eine Regensburger Habilitationsschrift zurückgehende Untersuchung von Kerstin Schlögl-Flierl.
Antoninus, zuletzt Erzbischof von Florenz, 1523 heiliggesprochen und 1983 durch Einreichung der Bitte (noch nicht beschieden) um Erhebung zum Kirchenlehrer gewürdigt, hat eine vierbändige Summa theologica verfasst, die von der Forschung als bedeutend und einflussreich gewürdigt wurde. Die Vfn. widmet sich hingegen vor allem den von ihr Confessionali genannten drei Antoninus-Schriften Omnis mortalium cura, Defecerunt und Curam illius habe, die ihrerzeit massenhaft gedruckt und von Priestern und Laien viel gelesen worden sind. Die Studie stellt ausführlich den Inhalt dieser (bisher nicht wissenschaftlich-kritisch edierten) Schriften dar, untersucht ihr Verhältnis zu Antoninus’ Summa, die Quellen seiner Bußschriften und deren Rezeption, und sie charakterisiert die spezifische Kontur der Bußliteratur des Antoninus von Florenz. Als deren Leitmotiv gewinnt sie das Ziel einer »Seelenführung über alle Hindernisse hinweg«, bei der nicht Sündendogmatik und Bußtarife oder richterliche Subsumtionstechnik im Vordergrund stehen, sondern seelenärztliche Heil(s)kunde.
Der Autor Antoninus und sein Werk werden anschaulich verortet »zwischen Spätmittelalter und Humanismus, zwischen Recht und Moral (Kirchenrecht und Moraltheologie) und zwischen Theologie für den Hörsaal und Theologie für den (städtischen) Alltag«. Zu Beginn der Studie berichtet eine biographische Skizze des Dominikaners auch, warum er die Confessionali schrieb: die oben erstgenannte auf Wunsch eines Edelmanns zu dessen Belehrung über die Sieben Hauptlaster, dann die zweitgenannte als Ratgeber für, wie Antoninus besorgt erkannt hatte, dogmatisch, prozedural und pastoral oft wenig sattelfeste Beichtväter, und schließlich die dritte als allgemeinverträgliche Seelenmedizin zum besseren Verständnis der Zehn Gebote, der Tugenden und Laster und der kirchlichen Strafgewalt.
Antoninus wird »als eine Figur des Übergangs« deutlich: unstudiert, aber gründlich gebildet und praktisch versiert in Fragen des Kirchenrechts, der Theologie, der Kirchenverwaltung und der Seelsorge; und hineingestellt in die Stadt Florenz, ein Zentrum der Politik mit ihren Gewissensfragen, eine Hochburg des wirtschaftlichen Erfolges mit seinen frühkapitalistisch-neuartigen Chancen und Versuchungen, und in eine christliche Gemeinschaft, in der die Kirche »im Leben eines jeden Florentiners häufig und auf vielen Ebenen bemerkbar war, sie war allgegenwärtig und durchdrang alles« – nicht zuletzt mit dem seit dem IV. Laterankonzil geltenden Gebot der alljährlichen Pflichtbeichte, dem für die Priesterschaft eine Verpflichtung auf das Ziel der cura animarum korrespondiert habe, der Seelenheilung durch die Erforschung und Stärkung des Gewissens beim Beichtenden.
Es folgt eine philologische Analyse der Confessionali, eingeleitet durch einen Überblick über frühe Formen der Libri poenitentiales und über das Sündenverständnis des Spätmittelalters mit der (noch nicht abschließend demarkierten) Unterscheidung von Todsünde und lässlicher Sünde. Entstehung, Quellen, Aufbau und Hauptinhalte der drei Confessionali werden dargelegt und mit der späte-ren Summa theologica verglichen, wobei sie sich als viel lebensnäher und auf die Beichtpraxis orientierter erweisen als das Opus magnum, in das sie nur teilweise Eingang gefunden haben (wohl am wenigsten Curam illius habe). Stark vergröbernd ließe sich sagen, dass Omnis mortalium cura sich vor allem an Beichtende wendet, Defecerunt an Beichtväter, und Curam illius habe zu einem »umfassenden Verständnis von Buße als Umkehr« hinführt, die die gesamte Lebensführung zurück auf den richtigen Pfad bringen und dort halten soll.
Ein Textvergleich der Confessionali untereinander und mit der Summa theologica, durchgeführt am Beispiel der Behandlung der Superbia, vertieft die unterschiedlichen Zielrichtungen der theoretisch fundierenden Summa und der praxisorientierten Confessionali. Als deren Spezifika werden die »Betonung der Versöhnungsbedürftigkeit des Menschen« und des individuellen Willens (zum Guten) herausgearbeitet.
Nach der biographischen Skizze und der Analyse der Confessionali widmet sich der dritte Teil der Arbeit der Bußtheologie des Antoninus insgesamt, unter Rückgriff auf alle seine Werke, auf Erkenntnisse der neueren Bußgeschichtsforschung und auf spätmittelalterliche Quellen seiner Bußtheologie. Es ergibt sich eine Fülle von Gesichtspunkten etwa zur poenitentia als virtus, als Tu­gend bußfertiger Haltung, und zur Rückerstattung sündhaft er­rungener Vorteile als Bedingung von Versöhnung und Vergebung (das verzweifelnde Gebet des Claudius in Shakespeares Hamlet lässt grüßen). Dabei werden die geistigen Vorläufer des Antoninus benannt und vielfältige Querbezüge hergestellt (die Arbeit zeugt durchgängig von der Durchdringung gewaltiger Textmassen), und es wird deutlich, wie sehr bei Antoninus das Individuum mit seinen Handlungsgründen in den Mittelpunkt der Frage nach Buße und Umkehr rückt und wie nicht Strafeifer, sondern das Streben nach Versöhnung diese Bußtheologie prägt. Antoninus betreibe gerade nicht eine Verrechtlichung der Moraltheologie, auch wenn er oft Rechtstexte verwende, sondern es gehe ihm darum, dem Einzelfall gerecht zu werden und je nach dessen Besonderheiten – quid de casu – hinzuführen zur individuellen Umkehr, zu einem Sich-Besinnen und Wiederzurückfinden zu Gott.
Der vierte Teil der Studie widmet sich der »Wirkungsgeschichte und Rezeption der Theologie des Antoninus von Florenz, mit be­sonderem Blick auf dessen Bußtheologie«. Es eröffnet sich ein Pano-rama, das von Wirtschaftsfragen bis zum Hexenhammer reicht, von ärztlicher Ethik bis zur gekonnten Kirchenadministration, und von Francisco de Vitoria bis zu Alphons von Liguori, der zum »Katalysator für die Wiederbeachtung des Antoninus von Florenz im 18. Jahrhundert« geworden sei. Die Arbeit schließt mit dem durch das Vorangegangene begründeten Appell, Antoninus nicht mit allzu eindeutigen Schablonen wie Thomas-Adept, Kasuist und Probabilist zu etikettieren, weil derlei wenig mit dem Selbstverständnis des Autors, mit den ihm gestellten Aufgaben und mit seinem Ansatz zu tun habe. Er habe eine »Moraltheologie für den Alltag« gewollt, die das Bußsakrament als Hilfe zur Reflexion der Alltagserfahrung, als Seelenerforschung und als Orientierung und Stärkung für einen besseren Weg durchs Leben betrachtete. Antoninus setze damit Sakrament und ethisches Handeln in einen Zusammenhang, der selbstverständlich und doch »in den letzten Jahrzehnten aus dem Blick geraten« sei. Es zeichne Antoninus aus, dass er praktischen Rat geboten habe, ohne auf Grundlagenreflexion zu verzichten. So habe er das Alltagshandeln heilsgeschichtlich durchleuchtet und zugleich Hilfsmittel geboten, »um die Sündhaftigkeit zu vermeiden, aber auch die Versöhnungsbedürftigkeit des Menschen zu betonen«.
Es dürfte für viele Moral- und Pastoraltheologen fruchtbringend sein, sich näher mit Antoninus von Florenz zu beschäftigen, den die Vfn. den Lesern nahebringt als Vertreter einer Theologie we­niger des erhobenen Zeigefingers als vielmehr der geöffneten Arme.