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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1276–1278

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baumann, Klaus

Titel/Untertitel:

Das Unbewußte in der Freiheit. Ethische Handlungstheorie im interdisziplinären Gespräch.

Verlag:

Rom: Pontificia Universita Gregoriana 1996. XXIII, 412 S. gr.8 = Analecta Gregoriana, 270. Kart. Lire 47.000. ISBN 88-7652-716-8.

Rezensent:

Reinhold Mokrosch

Klaus Baumann, Doktorand an der renommierten Gregoriana zu Rom, legt eine hoch brisante Dissertation vor. Er fragt, ob und welche unbewußten Motive menschliches Handeln mitbestimmen und nachteilig beeinflussen. Dazu nimmt er die tiefenpsychologische Einsicht auf, daß affektive und dynamische unbewußte Energien konfligierend jedes angeblich freie Handeln mitprägen. Und er fragt nach der Bedeutung dieser (tiefenpsychologischen) These für die katholische Moraltheologie: "Wie steht es tatsächlich um die Freiheit des Menschen in seinem bewußten Handeln?" (3) Kann die Moraltheologie, welche von der Gottebenbildlichkeit und freien Entscheidungsfähigkeit des Menschen ausgeht, angesichts solcher Einsichten noch guten Gewissens von der sittlichen Autonomie jedes Menschen reden? "Ist sie in der Lage, die tiefenpsychologische Erkenntnis, daß menschliches Handeln immer von unbewußten Triebkräften mitgeprägt wird, in ihr christliches Menschenbild und dessen Vorstellung vom autonom handelnden Menschen aufzunehmen?"

B. sieht eine Möglichkeit, diesen Gedanken in die katholische Moraltheologie zu integrieren, - und zwar sogar in die thomanische Ethik, genauer: in Thomas’ Beschreibung der "menschlichen Handlung" mit all ihren Widersprüchen, Emotionen und Abwägungen. Solche Integration versucht er in drei Schritten:

Im 1. Teil entfaltet der Gregoriana-Doktorand die psychoanalytische These, daß jeder Mensch von unbewußten Zielsetzungen beeinflußt sei, welche er, würde er sich ihrer bewußt werden, als unakzeptabel zurückweisen müßte. Er weist die Gültigkeit dieser These nach, indem er sich in die empirischen Forschungen der Freudschule hineinarbeitet und resümiert: Es sei empirisch erwiesen, daß es das Unbewußte in Form von Urverdrängung bzw. Wahrnehmungsabwehr und aktueller Verdrängung bzw. motiviertem Vergessen gebe, und daß dieses Unbewußte das bewußte Handeln jedes Menschen nachteilig beeinflusse. Er ist persönlich überzeugt, daß unbewußte Triebregungen und der ständige Konflikt zwischen Über-Ich und Es menschliches Entscheiden und Handeln mitbestimmen. Aber freilich nicht im Sinne einer einfachen Polarität zwischen Lebens- und Todestrieb und eines simplen Konfliktes zwischen ,Innen’ und ,Außen’, wie Freud es in den 20er Jahren noch annahm, sondern im Sinne viel komplexerer unbewußter Motive. Und wieder fragt er offen und ehrlich: Wie läßt sich diese unbestreitbare Tatsache mit der katholisch-moraltheologischen Behauptung, daß der von Gott geschaffene Mensch sittlich autonom entscheiden und handeln könne, verbinden?

Zur weiteren Untermauerung seiner These durchforstet er auch die neuere Emotionspsychologie, Motivationspsychologie und Sozialpsychologie. In einem eindrucksvollen Überblick kommt er zu dem glaubhaften Ergebnis, daß alle diese Psychologien emotionale und kognitive Einflüsse auf menschliches Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln voraussetzen. Einen gleichen Parcour-Ritt vollzieht er für die empirische Wertforschung und kommt zu dem Ergebnis, "daß dieselbe Person zugleich mehrere Werthaftigkeiten auf Grund unterschiedlicher, einander mehr oder weniger widersprechender Stellungnahmen bewußt erleben kann", welche ihr Bewerten, Entscheiden und Handeln ständig beeinflussen (95).

Im 2. Teil erweist sich der Vf. als gelehrter, aber recht enger Thomas-Interpret: Er analysiert dessen Handlungstraktat aus der Summa (I,II q 6-17) unter seiner Leitfrage, ob Thomas offen sei für die im 1. Teil getroffenen Feststellungen, daß menschliches Handeln immer von unbewußten Regungen beeinflußt und insofern keineswegs autonom und frei sei. Und natürlich entdeckt er bei Thomas solche Offenheit: Dessen Konzept vom "sinnenhaften Streben" äußerer und innerer Sinne im Inneren des Menschen sei doch ohne Schwierigkeiten mit den referierten Behauptungen der Psychologien, daß Emotionen, Verdrängtes, unbewußte Werthaltungen usw. jedes menschliche Handeln verborgen mitbestimmen, vereinbar. Thomas, so schlägt B. eine Brücke vom 13. ins 20. Jh., würde dem zustimmen und trotzdem an der These von der Willensfreiheit des Menschen festhalten. Dies rückt, so resümiert er, "Thomas Auffassung von der menschlichen Handlung in ganz erstaunliche Nähe zur tiefenpsychologischen Grundthese (von der Mitwirkung des Unbewußten bei allen Handlungen)" (202). Der Vf. interpretiert Thomas dabei zwar gelehrt, aber rein systemimmanent. Nicht einmal Bonaventuras gegensätzliche Konzeption von Freiheit, Wille und Verstand, geschweige denn die reformatorische Gegenthese vom servum arbitrium oder Schopenhauers, Nietzsches usw. Gegenthesen führt er an. Um so skeptischer bin ich (als protestantischer Theo-loge) gegenüber einem solchen Brückenschlag von der Scholastik in die gegenwärtige Wahrnehmungspsychologie. Solche ideengeschichtlichen Konstrukte dienen vielleicht der Apologie thomistischer Moraltheologie, nicht aber der Wahrheit.

B. entdeckt in Thomas’ Handlungstheorie "konfligierende sinnenhafte Strebungen, Einschätzungen und Dispositionen", wie z. B. den Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft, Wollen und Können, welche das Handeln eines Menschen "unbewußt" lenken würden (236). Und so sei Thomas für die psychoanalytische Grundthese offen. Aber, so fragt sich der geneigte Leser, sind "sinnhafte Strebungen" bei Thomas wirklich vergleichbar mit dem "Unbewußten" bei Freud?

Der Versuch des 3. Teiles, eine moraltheologische Handlungstheorie zu entwerfen, welche einerseits einen freien, autonomen Willen und andererseits zugleich terminierende, negative, unbewußt ins Handeln einfließende sinnliche Strebungen feststellt, ist zu begrüßen. Aber warum muß dazu Thomas von Aquin bemüht werden? Würde sich dafür nicht eher die franziskanische Linie oder ein Ethik-Klassiker der Gegenwart eignen?

Allerdings muß der vom Vf. eingeschlagene Weg als großartige persönliche Leistung anerkannt werden. B. interpretiert Thomas in faszinierender Weise mit scholastischem und wahrnehmungspsychologischem Instrumentarium und entwirft eine interessante in sich stimmige moraltheologische Handlungstheorie, welche das "Unbewußte in der Freiheit" berücksichtigt. Seine schöpfungstheologische, christlich-anthropologische und christologische Begründung sittlichen Handelns überzeugt. Er überwindet die bisherige naturrechtliche normenethische Interpretation der thomanischen Ethik und bleibt trotzdem Thomist. Er nimmt Emotionen und unbewußte Triebe in seine Moraltheologie auf und bleibt trotzdem Scholastiker. Aber freilich um den Preis, daß alle Gefühle, ,sinnhafte Strebungen’ und das ,Unbewußte in der Freiheit’ rein negative Einflüsse auf den handelnden Menschen haben. Aus solcher negativen Bewertung von Gefühlen kommt er nicht heraus.

Das Buch leistet einen interessanten Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Theologie und Psychologie im allgemeinen und zwischen thomanischer Ethik und Tiefenpsychologie im besonderen. Es bleibt aber dem scholastischen Denken verhaftet. Es wäre wünschenswert gewesen, hätte der V. auf viele Wiederholungen verzichtet und anstelle dessen Alltagskonkretionen eingebracht.