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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1377–1379

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Egloff, Lisa

Titel/Untertitel:

Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit. Die Neuausrichtung idealistischer Systemphilosophie in Schellings Freiheitsschrift.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. VI, 289 S. = Quellen und Studien zur Philosophie, 128. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-047482-4.

Rezensent:

Christian Danz

Über die werkgeschichtliche Entwicklung der Philosophie Schellings im ersten Jahrzehnt des 19. Jh.s besteht in der Forschung bislang kein Konsens. Während einige Autoren wie Paul Tillich oder Martin Heidegger in den 1809 erschienenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit einen Bruch mit der vorangegangenen Identitätsphilosophie ausmachen und die Schrift als einen Neueinsatz bzw. als eine Neuausrichtung des Denkens von Schelling interpretieren, rücken andere die Freiheitsabhandlung näher an die identitätsphilosophische Systemkonzep-tion heran. Für beide Positionen lassen sich gute Argumente anführen. Deutlich ist freilich auch, eine Entscheidung über die werkgeschichtliche Einordnung des Textes von 1809 setzt eine Re­konstruktion der systematischen Intention sowie der methodischen Grundlagen der Identitätsphilosophie voraus.
Die Freiburger Dissertationsschrift von Lisa Egloff, die nun unter dem Titel Das Böse als Vollzug menschlicher Freiheit vorliegt, unternimmt den Versuch, wie bereits der Untertitel signalisiert, Schellings Freiheitsschrift als Neuausrichtung idealistischer Systemphilosophie zu deuten. »Schelling, so soll in dieser Untersuchung gezeigt werden, wertet in der Freiheitsschrift den ontologischen Status der endlichen Freiheit und des Nicht-Rationalen gegenüber dem Identitätssystem auf – und er vollzieht mit dieser Aufwertung eine Neuausrichtung idealistischer Systemphilosophie, insofern er den Identitätsbegriff in grundlegender Weise neu bestimmt.« (11) Neuorientierung (vgl. 25) meine indes keinen Bruch in der werkgeschichtlichen Entwicklung des Philosophen. Vielmehr gelte es, die »schellingsche Philosophie im Ganzen als spezifische, sich entwi-c kelnde Antwort auf die Grundfrage des Deutschen Idealismus wahrzunehmen« (26). Dabei geht E. zu Recht davon aus, dass das Systemverständnis der nachkantischen Philosophie sehr unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren hat, die sich nicht einfach in dem Entwicklungsschema von Kant zu Hegel erfassen lassen (vgl. 25). Systemkritik, Endlichkeit, nicht-rationale Aspekte etc. bilden mithin Themen, die zur Debatte um den Systembegriff in der nachkantischen Philosophie konstitutiv gehören.
Die Untersuchung von E. ist in vier Hauptteile untergliedert. Die Einleitung (1–29) bietet eine thematische Einführung (1–12) sowie eine Aufarbeitung der Forschungsgeschichte (12–29), vor deren Hintergrund die These, die Freiheitschrift als Neuausrichtung des Denkens Schellings zu lesen, skizziert wird. Es seien der Begriff des Bösen, sein tragischer und sündhafter Charakter sowie der Symbolbegriff und nicht-rationale Aspekte, die gegenüber der Identitätsphilosophie neue Gedanken in dem Text von 1809 darstellen. Es überrascht jedoch, wenn E. gerade an dem Symbolbegriff die »Diskontinuität der Freiheitsschrift zum Identitätssystem« (8) festmacht. Dessen Aspekte, die angeführt werden (»Das Symbol und die Erzählung werden hier nicht mehr als mangelhafte Vor-Formen von Begriffen verstanden, sondern als eigenwertige Mittel des spekulativen Denkens.« [ebd.]), gelten alle schon für die Identitätsphilosophie, insbesondere für die Philosophie der Kunst (wo-rauf E. auch verweist: vgl. 10).
Der zweite Hauptabschnitt der Untersuchung – Kontext (30–92)– diskutiert ausführlich Schellings Freiheitsverständnis in einer werkgeschichtlichen Perspektive vor dem Hintergrund der kantischen und fichteschen Positionen. Zunächst wird Schellings An­knüpfung an Kants Freiheitsbegriff dargestellt (31–54), der von dem Leonberger aus dem engen moralphilosophischen Rahmen herausgelöst und auf die Natur übertragen wird (vgl. 48). Dahinter steht eine veränderte Konzeption von Wille und Vernunft. Vor diesem gedanklichen Hintergrund stellt E. sodann Schellings Begriff des Willens in einer werkgeschichtlichen Perspektive dar (54–65), wobei davon ausgegangen wird, dass das »Identitätssystem« als »systematische Explikation der vormals latenten Identitätsphilosophie Schellings« (55) zu verstehen sei. Der zweite Unterabschnitt behandelt Schellings in der Freiheitsschrift vorgenommene Absetzung vom Identitätssystem und vom fichteschen Frühidealismus (65–92). In den Fokus des Interesses treten hier die intellektuelle An­schauung (69–82) sowie die Transformation des fichteschen Verständnisses von Subjektivität in der Philosophie Schellings. Auch hier ist es der Begriff des Willens, der in den Fokus tritt. E. sieht die bekannte Formel vom »Wollen als Urseyn« aus der Freiheitsschrift schon im Hintergrund der identitätsphilosophischen Systemkonzeption (vgl. 61 f.), wofür es jedoch in der Darstellung von 1801 keinen Beleg gibt.
Der dritte Hauptabschnitt der Studie diskutiert Das Böse als Freiheitsvollzug (93–187) in der Abhandlung über die menschliche Freiheit von 1809 vor dem Hintergrund von Kants intelligibler Tat und Fichtes Bestimmung des Bösen in der Sittenlehre. E. arbeitet heraus, wie Schelling die intelligible Tat der kantischen Religionsschrift mit der Tathandlung Fichtes verknüpft (123.139). Dadurch wird der Vollzug der Freiheit zwar aus der moralphilosophischen Dimension herausgelöst, in der er bei Kant steht, aber deren Vollzugsbindung beibehalten. Zugleich wird Fichtes Bestimmung des Bösen als Trägheit der Kritik unterzogen. Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund kommen das Tragische und die Sünde als Strukturmomente des Bösen, das als Vollzug der Freiheit verstanden wird, in den Blick (137). Das Böse ist ein Vollzug der Selbstbestimmung, in dem Universal- und Partikularwille, die beiden Prinzipien, die Schelling seiner Konzeption zugrunde legt, derart verkehrt werden, dass Letzterer dem Universalwillen übergeordnet wird. In der Selbstbestimmung konstituiert sich das Bewusstsein erst als solches (142), so dass der Akt selbst in dessen Rücken verbleibt. Dieser Grundgedanke wird von E. variantenreich unter Einbeziehung von diversen Texten aus Schellings Früh- und Spätwerk erläutert und von Kierkegaards einschlägigen Bestimmungen aus Der Begriff Angst abgegrenzt (148–152). Das Böse wird von Schelling an den Akt der Selbstbestimmung gebunden, der damit eine Neubewertung erfährt. Ebenso werde mit dem Gewissensbegriff (171–187) ein Aspekt in der Freiheitsabhandlung in den Fokus gerückt, der – gegenüber der Identitätsphilosophie – eine Aufwertung der Endlichkeit andeute. Diese veränderte Systemkonzeption, die sich in dem Text von 1809 andeutet und in einer Neufassung des Identitätsgedankens niederschlägt, darzustellen, ist die Funktion des abschließenden vierten Abschnitts Die Neuausrichtung des Systems (188–260). E. stellt in zwei Unterabschnitten die wichtigsten Aspekte zusammen, in denen sich eine Neuausrichtung der Systemkonzeption Schellings niederschlägt. Zunächst wird Die endliche Freiheit und ihre Einbindung im System (188–250) diskutiert und sodann Die Bedeutung der Freiheitsschrift für die idealistische Systemphilosophie (250–260). Eindringlich arbeitet E. heraus, wie sich in dem Text von 1809 gegenläufige Motive überlagern. »Aus der Spannung beider Momente, nämlich dem Versuch, die menschliche Freiheit als selbstanfänglich und eingebunden, mithin als derivierte Absolutheit zu denken, so die hier vertretene These, geht in der Freiheitsschrift die ontologische Aufwertung der Endlichkeit, bei gleichzeitiger normativer Abwertung der Selbstverabsolutierung des Individuellen hervor.« (191)
E. hat eine gründliche Untersuchung zu Schellings Abhandlung über die menschliche Freiheit vor dem problemgeschichtlichen Hintergrund der Freiheitstheorien Kants und Fichtes vorgelegt. Ihre These, die Freiheitsschrift von 1809 repräsentiere eine systematische Neuausrichtung in Schellings Denken, die als Selbstkritik des identitätsphilosophischen Ansatzes zu verstehen ist, wird bündig rekonstruiert. So einleuchtend ihre Darstellung auch ist, man kann – worauf E. selbst hinweist, in der Freiheitsschrift kommt es zu einer Spannung von gegenläufigen Motiven – die Schrift von 1809 auch anders in die werkgeschichtliche Entwicklung einordnen. Jedenfalls dann, wenn diejenigen methodischen Grundlagen und Bestandteile der Identitätsphilosophie einbezogen werden, die E. nicht berücksichtigt. In ihrer Darstellung der Identitätsphilosophie beschränkt sich E. weitgehend auf das Konzept der intellektuellen Anschauung (69–82). Ausgeblendet werden die Methode der Konstruktion sowie das mit dieser verbundene mediale Verständnis des Absoluten. Versteht man die Identitäts philosophie von ihren methodischen Grundlagen her, auf die Schelling bis hin zu seinem Spätwerk als grundlegend hingewiesen hat, dann erscheinen viele Aspekte, welche E. als Neuausrichtung der Systemkonzeption deutet, wie die Infragestellung »der neuzeitlichen Selbstvergewisserung« (172) oder »die bloß negative Erscheinung des Absoluten« (185), als Fortführung der für die identitätsphilosophische Konzeption grundlegenden Methode.
So legt E. zwar eine prägnante und detailreiche Deutung der Neuausrichtung von Schellings Philosophie um 1809 vor, aber diese wird doch von einem recht schematischen und einseitigen Verständnis der Identitätsphilosophie abgehoben, die lediglich als Negativfolie in Anspruch genommen wird.