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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1374–1377

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ansorge, Dirk [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Pluralistische Identität. Beobachtungen zur Herkunft und Zukunft Europas.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016. 286 S. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-534-26820-7.

Rezensent:

Hans Jürgen Luibl

Um es vorwegzunehmen: Der Buchtitel verspricht mehr, als die Einzelbeiträge halten können. Die Beiträge bringen eine Fülle von Beobachtungen, meist allerdings zur Herkunft Europas, wenig zu dessen Zukunft, kaum Linien, die von der Herkunft auf Zukunft verweisen. Es gibt für sich genommen interessante Einzelbeobachtungen, aber wenig Verbindendes – kurz: viel Pluralität, kaum Identität. Das mag eine Folge der gegenwärtigen Erosion Europas sein – oder aber Ausdruck dafür, dass Europa sich einem vereinheitlichenden Denken entzieht. Vielfalt ohne erkennbare Ordnung.
Hervorgegangen ist dieses Buch aus einer Ringvorlesung der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen im Wintersemester 2015/2016. Zu den sieben Beiträgen dieser Reihe sind neun weitere Beiträge für die Publikation hinzugekommen – auch dies mag ein Grund für die Perspektivenvielfalt sein. Die Beiträge gehören vornehmlich in philosophisch-theologische Kontexte, soziologisch-empirische oder auch wirtschaftliche Forschungsfragen fehlen. Gerade die Ökonomie aber liefert seit den Anfängen des europäischen Integrationsprojekts (Schumannplan) eine wesentliche Rahmenbedingung für europäische Identitätskonstruktion. Bei den eher kirchlich-theologischen Beiträgen fällt auf, dass es sich hier vor allem um römisch-katholische Perspektiven handelt. Da­mit fallen (Ost-)Mitteleuropa und vor allem die Orthodoxie für die Frage der Identität Europas aus. Zudem wird nur am Rande der europäische Protestantismus, institutionalisiert etwa in der Ge­meinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), erwähnt – dessen Motto »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« sollte in einem Band zu Pluralität und Identität Europas nicht fehlen.
Aus der Fülle der Beiträge seien hier zunächst jene in den Blick genommen, die das Verhältnis von Pluralität und Identität Euro­pas eher systematisch entfalten. Dazu gehören die Aufsätze von Rémie Brague und Otto Kallscheuer. Brague, der Experte zu Wesen und Unwesen Europas, liefert in seinem Artikel »›Zu alt für seine Wahrheiten und Siege‹? Ein Europa ohne ›Außerhalb‹ verliert seine Zukunft« in essayistischer Weise eine durchaus originelle Europabeschreibung. Europa sei eigentlich ein sekundäres Gebilde, das von Werten lebt (hervorgebracht durch Religion und philosophische Welteinsicht), die es nicht selber geschaffen hat, lediglich verwertet und dies immer in Bezug auf ein (noch) Ausstehendes, Jenseitiges. Diese Dimension des Außerhalb sei allerdings im Prozess der Säkularisierung verloren gegangen. Damit hat die Verwertung ihre Zielperspektive verloren, die Werte werden entwertet und Europa wird selbstzentriert und verliert somit Handlungsoptionen. Europa käme zu sich über Religion und Metaphysik. Dieser These ließe sich entgegenhalten, dass Europa gerade in einem Akt der Selbstbehauptung gegen das ›Außerhalb‹ und der Abschiednahme von fremden Werten entstanden ist. Damit stünde Europa vor der Frage, Pluralität und damit die Herausforderungen des je An­deren ohne Rückgriff auf das ganz Andere außerhalb zu regeln. Differenzenmanagement wäre dann Ausdruck europäischer Identität.
Otto Kallscheuer (»Liegt der Westen im Abendland? Zur historisch-politischen Semantik Europas«) versucht – in einer Rekonstruktion des europäischen Integrationsprozesses – Europas Identität zwischen ideeller Perspektive (gebündelt unter dem Stichwort »christliches Abendland«) und pragmatischer Institutionalisierung zu bestimmen. Dabei kommt er zu seiner These, dass die EU gerade darin die legitime Tochter des christlichen Abendlandes sei. Auch Kallscheuer spricht dabei vom Verlust eines Außen, in diesem F all der Kolonien und der Kolonialgeschichte: Hier hat Europa, wenn auch problematisch, sich ins Verhältnis zu einem Außen gesetzt und sich diesem ausgesetzt – noch im Schumannplan war die Aufgabe Europas die Entwicklung Afrikas. Das Ausblenden der Verantwortung für die Kolonialgeschichte begrenzt Europa und lässt es auf nationale Eigeninteressen schrumpfen.
Welche Bedeutung kommt im Wandel Europas seiner Meistererzählung, der Aufklärung, zu? Dies beschreibt Heinrich Watzka in seinem Beitrag »Philosophische Aufklärung: Ein Beitrag zur Selbstwerdung Europas«. Aufklärung läuft dabei auf das Ende der Metaphysik und die Notwendigkeit, die eigene Endlichkeit zu gestalten, hinaus. Aufklärung durch Selbstaufklärung zu begrenzen, das klingt so sympathisch wie dem europäischen Integrationsprozess angemessen. Damit aber sind weitere Fragen angestoßen. Etwa jene, ob Aufklärung nicht auf ein Nordeuropa beschränkt sei (»In Südeuropa aber fanden weder Reformation noch Aufklärung jenen Wiederhall [sic!], der ihnen in der Mitte und im Norden Europas zuteil wurde.« Ansorge, 11)? Oder es gibt mittlerweile mehrere, unterschiedliche Aufklärungen? Ansgar Wucherpfennig z. B. macht in seinem Artikel »Biblische Aufklärung als Beitrag zur Selbstwerdung Europas« stark. Denkt man Aufklärung regional-kulturell be­grenzt, käme dann vielleicht ein besonderes Profil von Aufklärung im orthodoxen Bereich aus oder im islamischen Raum in den Blick? Gibt es am Ende der europäischen Moderne nicht nur eine identitätsstiftende Aufklärungsgeschichte, sondern deren viele – Aufklärung im Plural und im Pluralismus? Wäre dann Aufklärung (Vernunft, Ethik, Recht und Demokratie) überhaupt noch ein Leitmedium im nachmodernen Europa oder wird sie nicht begrenzt durch andere handlungsleitende Erzählungen, etwa der starken Identitäten?
Wie verortet sich nun die katholische Kirche in diesem Prozess von Identität und Pluralität? Dies versucht Dirk Ansorge in seinem Aufsatz »Pluralität in Kirche und Welt. Eine katholisch-theologische Standortbestimmung« zu beantworten. Er skizziert das langsame Entdecken pluralen Denkens in der katholischen Kirche und Theologie, mit einem besonderen Schwergewicht auf den Perspektiven, die das Zweite Vatikanum eröffnet hat und die durch Papst Franziskus sich verstärkt haben. Grundsätzlich wird die Anerkennung des Anderen als Voraussetzung für gelingende Pluralität im Glauben verankert und als Einsatz der Kirche speziell für die Rechte von Menschen europa- und weltweit konkret. Ähnlich formuliert dies Wolfgang Beck in seinem Beitrag »Die Chance der Religionssatire in säkularer Gesellschaft.« Dabei wird die Religionssatire zum Anlass, zunächst Kirche als Risikogemeinschaft zu verstehen, die nicht nur ge- und missdeutet wird, sondern eine Art Dienstleister für religiöse Deutungen des Anderen, des Fremden, der Gesellschaft wird (»Das Heiligste unbeschränkt anbieten«). Kirche liefert damit indirekt ihren Beitrag zum Gelingen der gefährdeten Risikogesellschaft und ihrer divergierenden Pluralitäten und Differenzen und erfährt dies als Chance, das Christliche weiter zu entwickeln. Bleibt die Frage, ob diese kenotische Ekklesiologie in der Lage ist, das Mitspracherecht der Kirchen, wie im Lissabonvert rag verbrieft, auch auf Augenhöhe mit europäischen Gremien umzusetzen. Und offen ist auch, wie die Voraussetzung dieser Ekklesiologie, »das wirklich Fremde zu lieben«, resp. den Anderen anzuerkennen (Ansorge), unter den Bedingungen einer differenzorientierten Lebensweise in Europa möglichst gelingen soll. Eine mögliche Antwort deutet sich im Aufsatz von Chris-toph Mandry an: »Die Identität im Zeitalter der Migration«. Identitätskonstruktionen, so Mandry, sind Zuschreibungen. Das gilt auch für Europa: Es ist kein Wesen, das von sich aus sagt, was es sei und was zu tun wäre. Lebendig wird und Zukunft erhält Europa, wenn Men-schen und Institutionen diesem Gebilde etwas zuschreiben und zutrauen, indem Menschen und Institutionen »Verantwortung für Europa ergreifen« – und dies, mit Beck, auf eigenes Risiko.
Neben diesen eher systematischen Positionierungen findet sich eine Reihe eher geschichtlicher Arbeiten. Vielfach werden dabei Vorstellungen, es hätte jemals ein in sich geschlossenes Europa, eine in sich geschlossene Kirche oder christliche Religion/christliches Abendland gegeben, dekonstruiert oder als Zerrbild entlarvt. Erhellend ist dabei der Beitrag von Klaus Unterburger »Von der Ambiguität zur Eindeutigkeit: Die frühneuzeitliche Konfessonalisierung«. Europa war im Hochmittelalter kein monolithisches Ge­bilde, sondern ein in Kirche, Politik und Kultur in sich differenziertes und vieldeutiges Miteinander. Erst die Konfessionalisierung des 16. Jh.s suchte nach Eindeutigkeiten in Glauben und Politik, in Kirche und Gesellschaft. Es entstanden kirchlich-politische Identitäten, die nach demselben Identitätsmuster gestrickt waren und sich dennoch oder gerade deswegen gegenseitig ausschlossen. Im Anschluss an Unterburger ließe sich fragen, ob und wie diese Identitätsmodelle nicht auch Optionen hatten, mit dem Fremden umzugehen und über die Grenzen der Identität Größeres, etwa Gott als Verbindendes, zu denken.
Ein Prüfstein für die Akzeptanz des Fremden und damit als Ansatz für Pluralität ist die konkrete Wahrnehmung des Anderen– im vorliegenden Band gibt es glücklicherweise eine Reihe von Beiträgen, die jeweils auf das je Andere blicken lassen, etwa vom Christentum auf Islam und Judentum, oder von diesen auf das Christentum. Herausgehoben sei hier der Artikel von Bekim Agai »Europa im Spiegel der Wahrnehmungen von Reisenden aus der islamischen Welt«. Vor dem Hintergrund der wohlfeilen These, es gebe eine vom Koran fixierte, identitätsstiftende »muslimische Weltsicht«, nach der Europa als Teil der ungläubigen Welt zu sehen ist, werden Reiseberichte vom 17. bis zum 20. Jh. analysiert und nachgezeichnet. Und es zeigt sich, dass und wie hier auf Reisen die andere Welt Europas wahrgenommen wird: positiv, herausfordernd, motivierend, die Begegnung mit dem Anderen als Gewinn für den Islam. Ein Hoffnungsschimmer für ein plurales Europa.