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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1372–1374

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter

Titel/Untertitel:

Evangelische Mystik.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 283 S. m. 11 Abb. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-525-57041-8.

Rezensent:

Dominic Frenschkowski

»Mystik ist katholisch. Mystik und Protestantismus passen nicht zusammen.« (9) Nach der Lektüre der Monographie von Peter Zimmerling liegt einem ein beherztes »doch« auf den Lippen. Der Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig führt vor, wie das Phänomen der Mystik in der Geschichte ihrer protestantischen Rezeption einen Wechsel zwischen Hochschätzung und Ablehnung erfuhr. Z. nimmt dabei gleich zu Beginn die Opazität des Begriffs in den Blick, die überwunden werden muss, um das Phänomen für die Leser angemessen zu erhellen. Er stellt ihn auf die Seite der Wahrnehmung und definiert Mystik vorläufig als »Formen spiritueller Erfahrung mit dem Ziel der Gottesbegegnung« und »Intensivform geistlicher Erfahrung« (15, Problematisierung des Erfahrungsbegriffs ausführlich ab 212). Die vorläufige Definition wird mit Positionen der einschlägigen Literatur zum Thema verschränkt und erweitert: »Es gibt keine mystische Erfahrung ohne Verortung in einer gelebten Religion« (17). Z. geht mit Schleiermacher, wenn er einen aufklärerisch-abstrakten Religionsbegriff an dieser Stelle ablehnt. Religion gebe es nur als »positive Religion« (18), folglich ist eine »Mystik der Religionen« (18) »höchstens als Abstraktum« (18) denkbar. Den Gedanken, Mystik sei womöglich ein gemeinsamer »spiritueller Kern« aller Religionen, lehnt Z. ab. Mystische Spiritualität gebe es »nicht an sich, sondern nur als Intensivform der jeweiligen Religion, in der sie beheimatet ist« (18).
Nachdem der Begriff vorläufig verortet ist, zeigt Z. den Wechsel der Mystikrezeption anhand eines Abrisses der theologischen Schwie­rigkeiten, die das Phänomen der reformatorischen Bewegung bereitet hat, und weshalb trotzdem »der Rechtfertigungsglaube dem Menschen zur gelebten Erfahrung werden muss« (21). Eine Vernachlässigung der Sinnlichkeit im jüngeren Protestantismus widerspreche nicht nur Luthers eigener Erfahrung (22), sondern insgesamt widerspreche die »Annahme eines toten, trockenen orthodoxen Luthertums der geschichtlichen Wirklichkeit« (23).
Kompakt wird die historische Entwicklung der protestantischen Mystikrezeption bis zum Zweiten Weltkrieg dargelegt, gerade auch im Kontext pietistischer Strömungen, denen die Mystik »neben der Rechtfertigung aus Gnaden die gelebte Nachfolge Jesu Christi als unverzichtbaren Bestandteil des Glaubens theologisch plausibel« (26) zu machen half. Nach der massiven Ablehnung und ihrer Gründe, die der Mystik schließlich im frühen 20. Jh. seitens großer Teile der theologischen Welt entgegenschlug (neben wichtigen kritischen Stimmen werden auch einige Ausnahmen aufgeführt), erfährt die Mystikrezeption nach dem Zweiten Weltkrieg einen Aufschwung. Z. benennt theologische und soziologische Ursachen in dieser Neubewertung. Er geht hierbei von der »theologisch rehabilitierten Kategorie der Erfahrung« (30) aus und setzt dann seinen Schwerpunkt auf den theologisch frischen Wind, der mit der Pneumatologie Moltmanns aufkommt. Der Abschnitt endet mit der Benennung soziologischer Gründe für das Wiedererstarken der Mystik.
Herz des Buches bilden schließlich neun, teils sehr überraschende biographische Einblicke in die Geschichte der Mystik: Z. wählt mit Martin Luther, Philipp Nicolai, Paul Gerhardt, Johann Sebastian Bach, Gerhard Tersteegen, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Dag Hammarskjöld, Dietrich Bonhoeffer und Dorothee Sölle teils an dieser Stelle unerwartete Persönlichkeiten.
Dem biographischen Blick von innen folgt der Blick von außen, und Z. versucht sich an einer Theologie der Mystik, die schließlich auch hinführen soll zur Frage, welche Bedeutung Mystik für die Kirche und die evangelischen Christen von morgen haben kann. Zuerst stützt er seine These, dass »in der Bibel – in unterschiedlicher Intensität – eine Theologie der Mystik angelegt« sei (205), auf den wiederkehrenden Topos der Begegnung von Gott und Mensch, die »explizit bzw. implizit sogar das Zentrum der Bibel« darstelle (205). Da es keine genuin biblische Theologie der Mystik gibt, evangelische Mystik aber ein »besonderes Interesse an ihrer biblischen Verankerung« (205) haben müsse, werden exemplarisch einige relevante Texte des Alten und Neuen Testaments behandelt.
Als Zweites wird die Kategorie der Erfahrung neu verhandelt und die »Betonung der Erfahrungsseite des Glaubens« in Zusammenhang gebracht mit der soziologischen Perspektive auf die »von Sehnsucht nach Erlebnissen geprägte Postmoderne« (213) sowie der Gefahr, bei Betonung der Erfahrung die theologische Reflexion zu vernachlässigen (214). Z. betont insbesondere kritisch die »Übermacht der Erfahrung, die jede kritische Distanz zu sich selbst auflöst und eine Selbstkorrektur unmöglich macht« (215). Wo in Bezug auf Mystik Widerfahrnis und aktive Vorbereitung sich treffen und welchen Stellenwert das Phänomen der Ekstase dabei hat, führt den Abschnitt über Erfahrung zu Ende.
Im dritten und vierten Teilabschnitt untersucht Z., inwiefern gesellschaftliche und klimatische Faktoren (und z. B. daraus resultierende gute oder schlechte Ernten) die Entstehung von Mystik begünstigen können, ein fünfter Abschnitt behandelt die mystische Sprache, die auf mystische Erfahrungen retrospektiv folgt, sie reflexiv begleitet, aber auch (man denke an Poesie) Medium für die mystische Erfahrung ist (225.227). Ekklesiologische Fragen, Ab­grenzung von der Esoterik und die Erklärung der Notwendigkeit einer evangelischen Lehre der Mystik führen als Teilabschnitte sechs bis neun zuletzt zur Essenz seiner Theologie der evangelischen Mystik: »Christliche Mystik stellt eine Intensivstufe der Spiritualität im Sinne intensiver Glaubenserfahrungen dar« (246). Sie konstituiere sich aus sieben Elementen, nämlich den vier solae, sowie dem Verzicht auf die Kirche als Heilsanstalt, der Möglichkeit der Diversität der Lebensformen (»mystische Erfahrungen sind keiner religiösen Elite vorbehalten«, 249) und der Tendenz der evangelischen Mystik zum Alltag und zum Engagement für den Nächsten und die Gesellschaft.
Das letzte Kapitel des Buches ist ein praktisch-theologischer Blick auf Gegenwart und Zukunft einer Mystik für jedermann und jedefrau, und bietet auch eine Reihe konkreter Impulse für die evangelische Spiritualität von heute und morgen.
Sicherlich knüpft Z. an jüngst angestoßene Kontroversen an, wenn er etwa Bonhoeffer, der Mystik die längste Zeit seines kurzen Lebens ablehnte, als Mystiker betrachtet. Hier liegt ein Kernpunkt: Z. zeigt, dass Mystik nicht nur als abstrakte Theorie betrachtet werden darf, sondern als Phänomen gelebter Spiritualität, das seinen Ort auch in Gegenwart und Zukunft evangelischen Christseins hat.
Als intime Angelegenheit des Du und Ich zwischen Gott und Mensch kann man sich der Mystik nur über den menschlichen Einzelfall nähern, und entsprechend ist gerade der Weg über die unerwarteten und durchaus erfrischend zu lesenden Biographien ein überzeugender. Auch ist erfreulich, dass es Z. gelingt, mit seinem Buch nebenbei vorzuführen, dass die Annahme der Existenz von Intensivformen spirituellen Erlebens analog defizitäre Formen spirituellen Erlebens in den Fokus rückt, für die Mystik auch ein Anzeiger sein kann. Das hieraus resultierende Problem, dass diese nicht-mystischen Formen spirituellen Erlebens subtil abgewertet werden könnten, wenn Mystik als Intensivform desselben qualifiziert wird, bleibt freilich ungelöst. Insgesamt hat Z. ein gelungenes, gut lesbares Buch vorgelegt, mit dem er überzeugend zeigt, dass Mystik und Protestantismus durchaus zusammenpassen.