Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1369–1370

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg, u. Harald Matern [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theologie im Umbruch der Moderne. Karl Barths frühe Dialektische Theologie.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 244 S. = Christentum und Kultur, 15. Kart. EUR 32,30. ISBN 978-3-290-17755-3.

Rezensent:

Susanne Hennecke

Der von den Basler Systematikern Pfleiderer und Matern herausgegebene Sammelband verfolgt zusammengenommen das Ziel aufzuzeigen, dass sich die dialektische Theologie Karl Barths in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und religiös-theologischen Krisen des 20. Jh.s entwickelt habe und trotz ihrer oftmals monologisch anmutenden Darstellungsform in der Kirchlichen Dogmatik als eine dialogische Theologie aufzufassen sei. Um sich dem anvisierten Ziel zu nähern, werden in dem Band Beiträge dreier Vernissage-Veranstaltungen der Basler Evangelisch-Theologischen Fakultät zu bislang nicht oder nun neu edierten Werken Karl Barths zusammengeführt, die sich mit der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigen. Da jeder der Beiträge als ein eigenständiges und jeweils in seiner Eigenart faszinierendes und schlüssiges kleines Kunstwerk betrachtet werden kann, erweist sich die zusätzlich erstellte ausführliche Einleitung der beiden Herausgeber als ausgesprochen hilfreiche Orientierungshilfe inmitten der mit den Beiträgen insgesamt gebotenen (erfrischenden) Perspektiven-, Methoden- und Ergebnisvielfalt.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen meiner Meinung nach diejenigen Beiträge, die sich mit den Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921 beschäftigen, da diese auch die lange unveröffentlicht gebliebenen sogenannten »sozialistischen Reden« von Karl Barth enthalten. Diese Reden wurden in den 70er Jahren bereits vom Berliner Systematiker Friedrich-Wilhelm Marquardt (1928–2002) bearbeitet, so dass die editorischen Vorarbeiten nun in den Band einfließen konnten. Führten Marquardts Analyse und Bewertung dieser Reden in den 70er Jahren zu einer breiten und äußerst aufgeregt geführten theologischen Kontroverse um den genauen Stellenwert des Sozialismus in Karl Barths Denken, so kann in Bezug auf die durch die Herausgabe der Reden nun ermöglichte neue Diskussion dieses Themas festgestellt werden, dass sie sich – jedenfalls im Rahmen des Diskussionszusammenhangs des herausgegebenen Sammelbands – in einem wesentlich ruhigeren Fahrwasser bewegt.
Stellvertretend für die in dem Band insgesamt gewählte Multiperspektivität und Methodenvielfalt stehen die Beiträge des Bonner Systematikers Andreas Pangritz und seines Basler Kollegen Georg Pfleiderer, die zusammengenommen recht gut deutlich machen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema noch keinesfalls beendet ist. Einig sind sich die beiden Autoren wohl in dem Anliegen der Verteidigung des guten Rechts einer auch politischen Barthinterpretation. Ihre jeweiligen Sichtungen der betreffenden Zusammenhänge im Werk und Leben Karl Barths führen jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Betont Pangritz, dass Barths alteritätstheologische Wende sogar in einem Wechselverhältnis mit Barths von Pangritz wohl als ursprünglich angesehener Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft und Hoffnung auf eine andere Welt und auch auf ein anderes Christentum stehe, so dass bei Barth also nicht nur ein Denken und eine Bewegung von Gott her, sondern auch ein Denken und eine Bewegung zu Gott hin vorliege, macht Pfleiderer deutlich, dass Barths alteritätstheologische Wende nicht als Preisgabe des modernen Subjektivismus aufzufassen sei, sondern als eine bewusste Weiterentwicklung der Grundeinsichten Kants und Schleiermachers: Barth präsentiere nämlich seine neuen (alteritäts-)theologischen Einsichten bewusst als sich steigernde Reflexionsvorgänge bestimmter religiöser (genauerhin: religionskritischer) Erfahrungen und Einsichten, die zudem eine ethisch-religiöse Praxis implizierten und umgekehrt. Diese Praxis lässt sich in Pfleiderers Verständnis der theologischen Entwicklung Barths in der Zwischenkriegszeit allerdings immer weniger als ein Interesse für den Sozialismus oder auch für andere gesellschaftliche Gestaltungsfragen deuten. Vielmehr könne Barths in dieser Zeit zunehmende Ausklammerung konkreter gesellschaftlich-politischer Ge­staltungsfragen ebenfalls als spezifisch theologische Fortsetzung der liberalen religionstheoretischen Tradition verstanden werden, zumal sich ja auch die bekennende Praxis von Barths dialektisch-theologischer Religionskritik als spezifische neue Frömmigkeitsstruktur interpretieren lasse.
Die je unterschiedlichen Ergebnisse (Karl Barth als Sozialist – Karl Barth als liberaler Theologe) der exemplarisch gewählten Autoren zeigen vielleicht erst in ihrer Kombination das hohe Maß von Karl Barths faktischer theologischer Dialogik auf, denn zusammengenommen entsteht das Bild von Karl Barth als das eines links-liberalen Theologen, der weder den Dialog mit der liberal-theolo-gischen Tradition noch die Auseinandersetzung mit konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen abgebrochen hat. Das so entstandene Bild ließe sich mit Hilfe der hier nur aus Platzgründen nicht besprochenen anderen Beiträge durchaus nuancieren. Hin-zuweisen ist unbedingt auf den Beitrag der emeritierten Basler Professorin für Frauen- und Geschlechterforschung Regina Wacker. Ihr Versuch einer Analyse der konkreten politischen Rahmenbe-dingungen in der Schweiz, vor deren Hintergrund unter anderem die sozialistischen Reden Barths entstanden sind, zeigt nämlich sehr schön auf, dass Karl Barths Entscheidung für den Sozialismus nicht so sehr als eine prinzipielle, sondern vielmehr als eine höchst konkrete und situationsbezogene Entscheidung gedeutet werden sollte.
Wünschenswert in Bezug auf die gesamte Diskussionslage wäre es meiner Meinung nach, zukünftig nicht nur Barths Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, sondern verstärkt auch seine Auseinandersetzung mit dem Feminismus beziehungsweise gendertheo-retischen Ansätzen (z. B. Simone de Beauvoir) auf die dialogische Agenda zu setzen und sie als von Barth wichtig erachtetes Feld persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Gestaltung zu würdigen.