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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1364–1366

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Harvey, Barry

Titel/Untertitel:

Taking Hold of the Real. Dietrich Bonhoeffer and the Profound Worldliness of Christianity.

Verlag:

Cambridge: James Clarke & Co. (The Lutterworth Press) 2016. 354 S. Kart. £ 21,50. ISBN 978-0-227-17597-2.

Rezensent:

Tobias Schulte

Dietrich Bonhoeffer fasziniert bis heute – nicht nur als Mensch, sondern auch als Theologe. Barry Harvey, Professor für Theologie an der Baylor Universität in Texas, hat 2016 eine Studie vorgelegt, deren Untertitel die doppelte Intention seines Buches deutlich macht: Einerseits geht es ihm um eine Analyse resp. Interpretation der Theologie Dietrich Bonhoeffers, wobei sein Schwerpunkt eindeutig auf dessen später theologischer Schaffensphase liegt. Andererseits greift er die Formulierung Bonhoeffers – immer mehr die »tiefe Diesseitigkeit des Christentums« erkannt zu haben – auf, um den christlichen Glauben für das Leben, Arbeiten und Denken der Christen heute fruchtbar zu machen. Bonhoeffer ist für H. ein »Gesprächspartner« (5), mit dessen Hilfe er Gottes Wirken in der Welt zeigen möchte. Immer wieder kommt er auf die Frage zurück, welche Rolle in diesem Zusammenhang der Kirche zuzuschreiben ist (z. B. 126).
In den ersten drei Kapiteln arbeitet H. Grundlagen heraus, auf deren Basis er sich dann in den sechs weiteren Kapiteln konkreten Fragestellungen zuwendet. Getragen ist er von der Überzeugung, eine grundsätzliche Kontinuität in Bonhoeffers theologischem Schaffen zu sehen (8).
H.s Untersuchung nimmt ihren Ausgang in der Feststellung Bonhoeffers, dass der Christ im »Vorletzten«, d. h. in der Welt, lebt und an das »Letzte«, d. h. die Rechtfertigung Gottes, glaubt. Die offenbarungstheologische Argumentation Bonhoeffers führt nicht nur dazu, dass er sich zeit seines Lebens mit der Weltlichkeit der Welt auseinandergesetzt hat (34), es lässt ihn seine Theologie auch konsequent eschatologisch fundieren. Der Christ ist zur verantwortlichen Tat aufgerufen, er überlässt aber Gott die Vollendung der Welt (49). Als auf Sozialität angewiesen, ist der Mensch in ein grundlegend konstruktives Verhältnis zur Welt gestellt (40 f.). Aufgrund dieser Überzeugung verortet H. seine Überlegungen auch strikt ekklesiologisch: Der Kirche kommt auch im Protestantismus insofern ein sakramentaler Charakter zu, als in ihr Christus in der Welt gegenwärtig wird (48 f.).
Gerade deswegen sieht H. bei Bonhoeffer keine Verabsolutierung der »mündig gewordenen Welt«. Vielmehr hat Bonhoeffer einen realistischen Blick auf die Lebensrealitäten der Menschen, die theologisch zunächst einmal zu bejahen sind, denen aber dennoch ein »ironic character« (87) zukommt: H. hebt auf die zunehmende Entfremdung des Menschen von sich selbst ab, die nicht zuletzt durch die Entkoppelung von Zeit und Raum entstanden ist (99). Der technische Fortschritt führt zu einer »Ontologie« (90), durch die sich Menschen nur noch als Objekte begegnen. Der Mensch lebt in einer radikalen Reflexivität auch zu sich selbst und stellt sich selbst immer wieder in Frage. Die von Bonhoeffer im »Entwurf für eine Arbeit« gestellte Frage, wie der Mensch mit sich selbst fertig werde, bleibt also aktuell.
Nachdem H. seinen Problemaufriss herausgestellt hat, geht er in den folgenden Kapiteln im Diskurs mit Bonhoeffer der Frage nach, inwiefern die Signaturen der Moderne Phänomene befördern, die das gemeinschaftliche Leben nachhaltig beeinflussen und wie der Christ sich dennoch im Sinne Bonhoeffers in ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zu ebendieser Welt zu stellen vermag (126). Dass H. hier zunächst den Bereich der Religion zum Thema macht, wird den in Bonhoeffers Theologie kundigen Leser nicht überraschen. In einer weiten und umfassenden Analyse von Bonhoeffers Religionsbegriff und dessen vielschichtigen Bedeutungen in seinem Werk, aber auch im Dialog mit anderen Autoren gelangt H. zu der Überzeugung, dass sowohl die Religion als auch das Säkulare (»secular«, 151) in der Moderne eine Lebensorien-tierung bieten, die sich historisch nicht notwendig ergeben hat. Religion als zunächst private Erfahrung hat sich als bleibende Konstante der menschlichen Natur herausgestellt. Gleichzeitig kommt der Religion insofern eine soziale Funktion zu, als sie eine gemeinsame Wertebasis bereitstellt, auf deren Grundlage die funktionale Differenzierung der Gesellschaft näher beschrieben werden kann (152).
Auch die »Kultur« stellt eine Ausdrucksform des Menschen dar, mit der dieser nicht nur über sich selbst hinausfragt, sondern sich auch in soziale Relationen zu anderen Menschen stellt. H. betont, dass Kultur im Inneren des Menschen angesiedelt ist und insofern als »frei« bezeichnet werden kann, als sie sich den großen Bereichen der Politik und Wirtschaft nicht zurechnen lässt (163).
Im sechsten Kapitel stellt sich H. der Herausforderung, im Ausgang von Bonhoeffers Forderung, dass die Kirche einen zentralen Platz im Leben der Menschen habe und deswegen schlussendlich auch das Neue Testament im Licht des Alten Testamentes zu lesen sei (178), inwiefern der »supersessionism« (179), die Ersetzung Israels in der Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem Volk durch »die Kirche«, vor diesem Hintergrund zu beurteilen ist. H. sieht mit dem Blick auf die Geschichte die Gefahr gegeben, das Christentum für jedwede Form des Nationalismus zu missbrauchen, indem durch ein Sendungsbewusstsein die eigene Überlegenheit propagiert und übertragen wird (204). Er nennt u. a. die Gefahr des Rassismus dahingehend, dass die Lebensformen der »Alten Welt« (180) z. B. im Zuge der Kolonialisierung anderen Völkern und Kulturen aufgezwungen worden sind (179 ff.). Er erinnert nachdrücklich an das Taufsakrament, das Menschen nicht trennt, sondern in die Einheit der Kirche einfügt und somit zu einem neuen Sozialgefüge führt (206). Der von Bonhoeffer diagnostizierte Verlust an kirch- licher Einflusskraft und die damit einhergehende strukturelle Schwäche ist für ihn eine Option, um die Kirche in der mündig gewordenen Welt an ihren Dienst für die Einheit zu erinnern.
Dass dieses Verständnis auch Konsequenzen in Bezug auf das Verständnis der Schriften des Alten Testamentes zeitigt, liegt auf der Hand: Bonhoeffers typologische Exegese (»figural interpreta-tion«, 224) führt den christlichen Glauben nicht nur auf die nicht aufgebbaren jüdischen Wurzeln zurück (231 f.), in denen sich auch Jesus von Nazareth bewegt hat, es ist für H. im Anschluss an Bonhoeffer selbstverständlich, dass sich die mündig gewordene Welt allein von Christus her verstehen kann – unabhängig von allen Erfolgen und Optionen, die die moderne Welt bietet.
In den beiden Schlusskapiteln gibt H. eine Antwort auf seine Frage: Er propagiert ein »polyphonisches Wohnen« in der Wirklichkeit der heutigen Welt. Gerade der Kirche kommt hier die wichtige Rolle zu, Einseitigkeiten und Verabsolutierungen aufzuheben (236), da sie sich an das Heilsereignis in Christus zurückgebunden weiß (242.254). Er votiert für eine post-liberale, nicht sektiererische und deswegen katholische – im Sinne von allumfassende – Weltlichkeit, die sich einer Flucht vor der Welt verweigert, aber ebenso wenig dazu bereit ist, die Welt in Gottes Reich auf Erden zu verwandeln (271 f.). Dies ist und bleibt Gottes Aufgabe, da das »Letzte« nur er tun kann.
H.s Untersuchung beeindruckt durch seine Art, wie man historisch bedeutsame Texte lesen und in einen kritischen Dialog mit aktuellen Debatten zu bringen vermag. Sehr überzeugend wird die eschatologische Dimension der Theologie Bonhoeffers herausgestellt. Allerdings wird an einigen Stellen zu sehr die Einheit seiner Theologie betont, wodurch seine transzendentalphilosophische Argumentation in den späten Schriften nicht immer zutage tritt. Dennoch wird ein Rahmen gewiesen, wie man Bonhoeffer heute lesen und seine Theologie kritisch-konstruktiv fortschreiben kann, um so das zu erreichen, was das Ziel jedweder Theologie sein sollte: den Glauben ins Heute zu übersetzen.