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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1354–1356

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Appel, Sabine

Titel/Untertitel:

König Heinz und Junker Jörg. Heinrich VIII. gegen Luther gegen Rom.

Verlag:

Darmstadt: Theiss Verlag (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2016. 316 S. m. 24 Abb. Geb. EUR 22,95. ISBN 978-3-8062-3370-4.

Rezensent:

Anneliese Bieber-Wallmann

Eine neue Form des Christentums entstand, als Heinrich VIII. in den Jahren 1533/34 die Kirche von England aus der Oberherrschaft des römischen Papsttums löste. Mit dem Tudorkönig, der von 1491 bis 1547 lebte, hat sich die Germanistin und freie Autorin Sabine Appel in einer Biographie befasst, die 2012 erschien (Heinrich VIII. Der König und sein Gewissen, München 2012). Nun legt sie ein Buch vor, das im Obertitel auf die Jahre 1521/22 zielt – damals lebte Luther als Junker Jörg verborgen auf der Wartburg –, im Untertitel auch auf die späteren Jahre des englischen Königs. Es ist verdienstvoll, dass die Auseinandersetzung um die Sakramente, in der sich Heinrich VIII. nach Luthers Schrift De captivitate Babylonica engagierte, einer breiteren Leserschaft vorgestellt wird. Im Ganzen wird man das vorliegende Buch jedoch nicht als gelungen bezeichnen können, da unklar bleibt, was genau beabsichtigt ist: eine Doppelbiographie oder eine Darstellung der Auseinandersetzung der beiden Protagonisten?
A. beginnt die Geschichte Luthers und Heinrichs von deren Lebensende her zu erzählen: Luthers letzte Reise. Januar/Februar 1546 (7–30) und Die letzten Tage des Königs. Januar 1547 (31–40). Während sie im Kapitel über den englischen König ein »Fazit« (32) seines persönlichen und politischen Lebens zieht und resümiert: »Heinrich VIII. war ein Reformkatholik ohne Rom« (40), bringt sie im Kapitel über Luther so viele Informationen zum Reformator selbst, zu mittelalterlichen Reformbestrebungen und zu den Folgen der Reformation in Deutschland, dass ein roter Faden nur schwer zu erkennen ist.
Der Obertitel des Buches legt nahe, die folgenden Kapitel Luther auf der Wartburg. 1521/22 (41–69), Der König hat ein Buch geschrieben. Spätsommer 1521 (71–97) und »Junker Heinz«. Wie Luther auf Heinrichs Schrift reagierte (99–113) als zentral anzusehen. »Junker Jörg« wird hier als Kämpfer und Suchender (vgl. die Interpretation des Cranach-Porträts, 45) mit Empathie beschrieben; Heinrichs Auseinandersetzung mit Luthers Sakramentsverständnis ist an­hand seiner Assertio textnah dargestellt, und es ist zutreffend, dass der Reformator »mit seiner Entgegnung auch keinen einzelnen Autor [angriff] […], sondern das ganze System« (103).
In den folgenden Kapiteln geht es nur indirekt um das Verhältnis zwischen Heinrich VIII. und Luther (vgl. 115–199). A. nimmt an, dass Heinrich Thomas Morus aufforderte, »eine Schrift gegen Luther zu fabrizieren, die ähnlich obszön war wie die des polternden Reformators aus Wittenberg« (123), vermutet jedoch: »Luther bekam das Buch vielleicht nie zu sehen« (ebd.). Bedeutsam sind der Brief, den Heinrich an die sächsischen Landesherren Friedrich, Jo­hann und Georg schrieb, um sie zum Vorgehen gegen Luthers Lehre aufzufordern, sowie die unterschiedlichen Entgegnungen der Fürsten (vgl. 144–151). Der Darstellung von Luthers Freiheitsschrift (vgl. [153]–166) folgen breite Ausführungen zum Streit um den freien Willen (vgl. [167]–199), die ihren Anhaltspunkt darin haben, dass der junge König Heinrich von Erasmus beeinflusst worden war und nun den Humanisten aufforderte, sich gegen Luther zu äußern (vgl. 172 u. 179).
Unmittelbar werden die konträren Standpunkte Luthers und Heinrichs VIII. noch einmal deutlich im Kapitel Zwei Sendbriefe Luthers und Heinrichs VIII. 1525/26 (201–216). Luther bat in peinlicher Weise um Entschuldigung für den früheren groben Brief an den König, zumal er erfahren habe, der englische König habe die Assertio nicht selbst verfasst und sei offen für das Evangelium. Wie Luther zu seiner Fehleinschätzung kam, findet A. »rätselhaft« (202). In der Fachwissenschaft ist jedoch bekannt, dass Luther sich vom dänischen König Christian II. zu seinem demütigen Brief gedrängt fühlte. Heinrichs lange Entgegnung auf Luthers Brief wird ausführlich referiert. Im folgenden Kapitel »Sie sollen ohne Kinder sein«. Heinrichs unfreiwillige Reformation (217–237) erscheint die komplizierte Reformationsgeschichte der englischen Kirche fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt, dass Heinrich versuchte, zu einem männlichen Thronerben zu gelangen. Zwar erwähnt A. einmal, dass Heinrich von der Bischofssynode forderte, »ihn als ›Oberhaupt der Kirche von England‹ anzuerkennen« (231), aber historisch wichtige Fakten wie die Suprematsgesetze von 1534 werden nicht erörtert.
Weitgehend entbehrlich für die Thematik ist das folgende Kapitel (239–260). Der Schluss dient der historischen Einordnung: Heinrich und Luther zwischen Tradition und Moderne (261–292). A. sieht das Selbstverständnis des englischen Königs »von der ritterlichen Romantik des Mittelalters wie auch vom magischen Nimbus des Katholizismus« (270) geprägt. Sie meint, deswegen habe er die katholischen Sakramente nicht aufgeben wollen. Die neue Lehre habe er halbherzig und aus rein juristischen Gründen zugelassen und danach wohl aus Resignation nicht verhindert, dass sein Sohn und Thronfolger Edward von überzeugten Protestanten erzogen wurde. Erst seine Tochter Elizabeth habe eine Art Toleranz praktiziert (vgl. 271 f.).
Luther wird als »Anti-Modernist« zunächst in einen Gegensatz zu Thomas von Aquin gebracht (vgl. 272–275). Seinen Freiheitsbegriff bezeichnet A. zutreffend als rein religiös (vgl. 281). Gemeinsam mit Heinrich sei ihm die eher unwillentliche Einflussnahme: »Luther hat weder den Säkularismus befürwortet noch Pluralismus und Toleranz, und von moderner Rechtsstaatlichkeit kann in seiner Zeit auch noch gar keine Rede sein. Er hat dennoch alle diese Dinge initiiert, und zwar so unfreiwillig und unbeabsichtigt wie König Heinrich von England seine sonderbare Reformation.« (280)
Die Zeittafel im Anhang (295–306) ist hilfreich zum Verständnis der einzelnen Erzählstränge, ebenso wie das Personenregister ([311]–315). Im Literaturverzeichnis (307–310) fehlen wichtige Titel, zum Beispiel: Heinrich VIII., Assertio […], hrsg. v. P. Fraenkel, Münster 1992, und Sister Reformations […], hrsg. v. D. Wendebourg, Tübingen 2010. Es verwundert, dass inhaltliche Fehler auftreten wie etwa: »Paulus, der erste Bischof von Rom« (227) oder dass Luther vier Jahre lang die Jurisprudenz studiert habe (vgl. 103). Der Name Amsdorff wird konsequent als »Arnsdorff« wiedergegeben (52.64.190).
Alles in allem kann A.s Buch die Neugier wecken auf das Leben der beiden Protagonisten. Die Rezensentin hätte sich eine stärkere Konzentration auf die Auseinandersetzung des englischen Königs und des Wittenberger Reformators um das rechte Verständnis von Kirche und Evangelium gewünscht und findet die historische Beurteilung der Personen und ihres Werks an vielen Stellen nicht überzeugend. Am Schluss geht A., die eine Biographie Goethes verfasst hat, in einem Zitat auf dessen Urteil zurück: »[...] ist an der ganzen Sache ›der Reformation‹ nichts interessant als Luthers Charakter […] Alles übrige ist ein verworrener Quark«.