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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1273–1275

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Valentin, Joachim

Titel/Untertitel:

Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida. Mit einem Vorwort von H. Verweyen.

Verlag:

Mainz: Grünewald 1997. 296 S. 8. Kart. DM 54,-. ISBN 3-7867-2033-9.

Rezensent:

Hans-Joachim Höhn

Wissenschaftstheoretische Untersuchen zu Grundfragen der Theologie sind selten geworden. Ein Grund dafür mag sein, daß Begründungsdiskurse in der Theologie oft in der Gefahr stehen, steril und lebensfern zu werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, werden sie darum häufig unterlassen. Auch die akademische Theologie will nicht mit dem Stigma der Praxisferne behaftet werden. Daher beantworten Theologen die Fragen nach Nutzen und Notwendigkeit ihrer Wissenschaft in der Regel nicht mit Hinweisen auf die Notwendigkeit wissenschaftlicher Theorien, sondern mit der Angabe nützlicher Theorieanwendungen. Sich der Aufforderung einer theorieorientierten Selbstvergewisserung zu stellen, gilt vielerorts als eine Flucht ins Prinzipielle. Auf Dauer kann sich die Theologie jedoch nicht jenen grundsätzlichen Fragen entziehen, welche ihre Sache in Frage stellen, ohne daß sie ihren eigentlichen Auftrag verfehlt. Sie ist dann weder bei ihrer Sache, noch bewegt sie sich auf der Höhe der Zeit. Zwar ist die disziplinenübergreifende Diskussion um die sog. Postmoderne bereits wieder abgeebbt. Zahlreiche Fragen, Provokationen und Irritationen, die im Kontext dieses "Theorielabels" aufgekommen sind, aber haben sich damit keineswegs erledigt. Besonders das Werk des französischen Denkers Jacques Derrida verdient hier bleibende Beachtung. Als einer der führenden und - vor allem in Philosophie und Literaturwissenschaft, aber auch schon in der Theologie der USA - schulbildend wirkenden Theoretiker der letzten Jahre muß er die Aufmerksamkeit der Theologie wecken. Denn seine Metaphysikkritik und "dekonstruierende" Texthermeneutik sowie sein Insistieren auf dem "différance"-Denken hat dem kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart nicht nur griffige Schlagworte bereitgestellt, sondern rührt ebenso radikal an elementare Plausibilitäten der Theologie.

Sich mit Derrida auseinanderzusetzen fordert zunächst - wie der Vf. in seiner Freiburger Dissertation zeigt - die Übernahme einer theologiekritischen Perspektive. Mit einer Vielzahl zeitgenössischer Philosophen teilt Derrida die taktische Vermeidung bzw. Tilgung jeder Fährte, die ein Verfolgen seines Denkens bis zu seinen (nahezu "zwangsläufig" auch) abendländischen Wurzeln erlaubte und so einen Dialog mit christlich-theologischen Fragestellungen ermöglichte. Diese Vermeidungsstrategie - im geistigen Klima des säkularen Frankreich entstanden und dem Denken Heideggers bzw. der Negativen Dialektik Adornos vergleichbar - zielt allerdings nur auf eine bestimmte (und tatsächlich defiziente) Theologie: jene, die vermeint, Gott und seine Offenbarung durch ein geschlossenes System in die Immanenz kirchlich-autoritär oder aufgeklärt-subjektiver Verfügung transportieren zu können. "Ein solcher metaphysisch auch noch so gut getarnter Anthropomorphismus kann jedoch auch nicht im Interesse einer wirklich kritischen Theologie liegen. Sie sollte sich an eine seit den ersten Formulierungen des Exodusgeschehens und des Bilderverbotes über dreitausendjährigen Tradition der Aufklärung über und gegen versklavende Tendenzen in Gesellschaft und Kult gebunden sehen. Genau in dieser "subversiven", herrschaftskritischen Tradition der Theologiegeschichte ergeben sich überraschende Anknüpfungspunkte mit dem Denken J. Derridas. Sie in einer ausführlichen Textarbeit an zwei Brennpunkten offenzulegen, nämlich dem jüdischen Denken, speziell der talmudischen Bibelinterpretation, und der Negativen Theologie, sowie die daraus resultierenden Schlußfolgerungen für eine Theologie der späten Moderne zu formulieren, "ist Aufgabe und Ziel dieser Arbeit" (16). Ansatz, Methode und Aufgabe der Untersuchung sind so aufeinander abgestimmt, daß dieses Ziel, in vier Schritten erreicht werden soll:

Im ersten Teil der Arbeit (21-64) wird das Modell der Derridaschen Metaphysikkritik anhand der frühen Schriften in knapper Form entwickelt und sein Alternativkonzept einer "Ontosemiologie" skizziert. Anschließend kommen jene Arbeiten Derridas zur Sprache, die sich thematisch in der Nähe jüdischen Denkens (z. B. Deutung des Jahwenamens, Bilderverbot) bewegen (65-148) sowie Korrespondenzen zu einer theologia negativa aufweisen und die der Vf. als aussichtsreiche Ansätze für ein "nichtmetaphysisches Ursprungsdenken" bzw. für die Bestimmung eines nachmetaphysischen Gottesbegriffs deutet (149-217).

Ausgezogen werden diese Linien im letzten Teil der Arbeit, der zunächst auf die Rezeption Derridas in der angloamerikanischen Theologie eingeht und einige Anstöße für eine negative Theologie als theologische Hermeneutik der "späten Moderne" entwickelt (218-274). Ein ausführliches Literaturverzeichnis steht am Ende der Arbeit, deren Lektüre unter mehreren Hinsichten lohnt: Sie bietet zum einen eine (theologienahe) behutsam systematisierte Einführung in das kaum "systematisch" zu nennende Denken Derridas, sie leistet eine dringend gebotene theologische Aufarbeitung der neuen, unter "postmodernen" Vorzeichen entstandenen Diskurstypen, die "kritisch" sind, nicht weil sie dem Pathos politischer Handlungsrelevanz huldigen, sondern weil sie "dekonstruktiv" verfahren.

Ferner liefert der Vf. ein überzeugendes Dementi der immer wieder geäußerten Befürchtungen, postmodernes Denken lasse seine theologischen Interessenten letztlich bloß in die intellektuelle Gleich-Gültigkeits- und Beliebigkeitsfalle torkeln. Dieses Dementi wäre noch überzeugender ausgefallen, wenn der Vf. mit der gleichen Ausführlichkeit, in der Derridas Metaphysikkritik zur Sprache kommt, auch kritische Anfragen an dessen "Ontosemiologie" gerichtet hätte. Gleichwohl wird zureichend erkennbar, welchen Nutzen theologische Arbeit aus einem widerständigen Sicheinlassen auf ein "postmetaphysisches" Theoriedesign ziehen kann. Allerdings liefert hierzu der Schlußteil der Arbeit primär perspektivische Andeutungen zu den Bedingungen und Möglichkeiten, Gott und eine Welt zusammendenken, deren Verfassung es nahelegt, die Welt ohne Gott zu denken. Vielleicht findet der Vf. Zeit und Muße, seine dort skizzierten Überlegungen zu einer postmetaphysischen Gotteslehre, Christologie und Eschatologie, auszubauen und gesondert zu publizieren. Sie dürften durchaus wieder theorieorientiert ausfallen. Denn Theorien zu produzieren, ist nicht zuletzt eine Maßnahme der Prophylaxe. Sie dient der Verhinderung von negativen Konsequenzen gedankenloser Praxis. Dies gilt auch für Theologie und Glaube. Der Verzicht auf die Anstrengung des Begriffs kommt keineswegs der Glaubwürdigkeit der Glaubenspraxis zugute. Eine Theologie, die nicht mehr die Kraft zur "Kopfarbeit" aufbringt, bleibt dem Glauben vielmehr etwas Entscheidendes schuldig.